Klassenzimmer

Das Dauernde im Wandel

Hiltrud Kamolz
Foto: © Addictive Stock / photocase.de

Wer erinnert sich nicht gerne an die heiligen Momente, wenn das Glöckchen die Tür zum Weihnachtszimmer öffnete: Staunende Kinderaugen bewundern den geschmückten Baum, die Kinder können es kaum erwarten, die darunter liegenden Weihnachtsgeschenke zu öffnen … Feste und Rituale gibt es sicherlich in jeder Familie, in jedem Kulturraum und zu jeder Jahreszeit. Waldorfschulen und -kindergärten sollten sie pflegen. Weshalb? Rhythmen haben einen Einfluss auf die Entwicklung des Menschen. Es gibt kurze Rhythmen wie das Ein- und Ausatmen, den Herzschlag, nur für den Augenblick, meist nur unbewusst wahrgenommen. Rhythmen erleben wir vor allem in der Sprache und in der Musik. Da gibt es den heiteren Jambus, der uns weckt, den Daktylus mit seiner beruhigenden und zugleich belebenden Wirkung, den Hexameter, der in der fünften Klasse eine große, den Atemrhythmus harmonisierende Rolle spielt und noch einige mehr. Ein Dreivierteltakt wirkt ganz anders als ein Viervierteltakt. Und: Was macht ein Auftakt mit uns? Dann sind da die immer größer werdenden Rhythmen: Der Stunden- und Tagesrhythmus, der Wochenrhythmus, der Monats- und der Jahresrhythmus. Sie können fortgeführt werden in die Rhythmen der Jahr­siebte, der Mondknoten, der Lebensalter – bis hin zum Platonischen Weltenjahr und noch weiter.

Der Jahresrhythmus und seine Gestaltung in der Pädagogik der Klassenlehrerzeit

Rudolf Steiner schildert in der Vortragsreihe Geisteswissenschaftliche Menschenkunde wie der Tagesrhythmus mit den Wechselzuständen des Bewusstseins – Wachen und Schlafen – in Beziehung steht zum Ich des Menschen. Der astralische Leib – die Seele – macht einen Kreislauf von einer Woche durch. Sonntags sind wir entspannt, montags beginnen wir noch etwas träumend unsere Arbeit, dienstags sind wir voller Tatendrang … jeder Wochentag hat seine besondere Qualität, die wir fühlen können. Der Monatsrhythmus ist der Rhythmus des Ätherleibes, des Trägers unserer Lebenskräfte und des Gedächtnisses. Der weibliche Zyklus hängt mit ihm zusammen. Eine Kur zur Heilung von Krankheiten dauerte früher immer vier Wochen, aus Kostengründen wird sie heute meist auf drei reduziert – ob das sinnvoll ist? Damit Unterrichtsinhalte gut einverleibt und sicher im Gedächtnis bewahrt werden können, führte Rudolf Steiner den Epochenunterricht an Waldorfschulen ein, der vier Wochen dauern sollte. Dieser Ansatz fällt leider immer mehr pragmatischen Überlegungen zum Opfer. Die Entwicklung des physischen Leibes korrespondiert mit dem Umlauf der Erde um die Sonne innerhalb eines Jahres.

Von Jahr zu Jahr wird eine neue erste Klasse festlich in Empfang genommen. Von Jahr zu Jahr wird das Klassenzimmer gewechselt. Von Jahr zu Jahr werden Feste gefeiert und erlebt. Am Schuljahresanfang versammeln sich idealerweise alle Klassen, um von den Lehrer:innen empfangen und begrüßt zu werden. An Michaeli ist unser aller Mut gefragt, dafür gibt es verschiedene Aktionen. Mit den Laternenumzügen beginnt die stille, dunkle Jahreszeit. Im Advent bereiten wir stimmungsvoll das Weihnachtsfest vor. Wie würdig wird das neue Jahr begrüßt! Heiter ist der Fasching, besonnen die Passionszeit, freudig wird die Ostersonne erwartet. An Pfingsten lassen wir Papiertäubchen flattern und tanzen um den Bändermaibaum. Das befreiende Johannifeuer fällt leider immer mehr den Brandschutzbestimmungen zum Opfer. Am letzten Schultag versammelt sich nochmals die ganze Schulgemeinschaft. «Dort bläht ein Wind die Segel …» wird mancherorts gesungen. Wer selbst Waldorfschüler:in war, ist ergriffen, wenn die eigenen Kinder das Lied zu Hause schmettern … Ferien! Jedes Jahr wieder! Waldorfschulen in anderen Regionen der Erde passen sich selbstverständlich den Gebräuchen an. Sensibel muss mit Kindern umgegangen werden, die anderen Religionsgemeinschaften angehören. Dennoch bleiben die Qualitäten der Jahreszeiten dieselben.

Ein Jahreszeitentisch visualisiert zumindest in den unteren Klassen den Jahreslauf. Im Herbst gibt es goldene Erntegaben und Sonnenblumen, bald darauf ein Michaelsschwert, ein Erntedankbrot, vielleicht ist sogar irgendwo ein Drache zu entdecken. Laternen prägen das Bild um den Martinstag. Im Advent gibt es selbstverständlich einen Adventskranz, eine liebevoll gefilzte oder genähte Maria begibt sich mit dem Eselein auf Wanderschaft, bis sie schließlich in einem Stall mit Krippe ankommen. Da dürfen alle Klassenlehrer:innen der Fantasie freien Lauf lassen.

Mit großer Freude gestalte ich als Klassenlehrerin diese Jahreszeitentische. Die Kinder freuen sich auf sie und ihre Veränderung. Mindestens genauso wichtig ist es mir aber, die Jahreszeiten täglich in meinen kurzen Erzählungen zu Beginn des Unterrichts, noch vor dem Morgenspruch, in Form einer sinnigen Geschichte aufzugreifen. Sie kann ganz auf das jahreszeitliche Geschehen in der Natur gerichtet sein und bei Bedarf auch eine kleine moralische Belehrung in Bildern enthalten. Rudolf Steiner legte großen Wert auf sinnige Geschichten, die die Freude an der Umgebung, die Liebe zu ihr und zum Mitmenschen wecken sollen.

In meiner Klassenlehrer:innenzeit habe ich es mir angewöhnt, zu bestimmten Jahreszeiten auch bestimmte Geschichten zu erzählen. Im Herbst orientiere ich mich gleich zu Beginn des Unterrichts ganz an der Natur oder der Verfassung der Klasse. Vom Martinstag bis zum Advent sind es immer Sternengeschichten. Das Buch von Erika Dühnfort Vom größten Bilderbuch der Welt mit dem dazu passenden Gedicht (siehe unten) ist für mich die Grundlage bis zur 3. Klasse. Weitere Geschichten finden sich bei Dan Lindholm’s Wie die Sterne entstanden oder bei Edda Singrün-Zorns Das Ogham-Buch der Legenden. Ich scheue mich auch nicht, von der ersten Klasse an Sternbilder an die Tafel zu malen. Viele meiner Erstklässler:innen vom letzten Jahr erkannten rasch den Orion, oder den großen Kasten (Pegasus) wieder.

«Das größte Bilderbuch der Welt,
am Himmel ist es aufgestellt,
wenn still auf nächtlich blauem Grunde
die Sterne ziehen ihre Runde.

Sie schwingen um im ew’gen Kreise
und wandern die uralte Reise,
einander freundlich zugesellt
im größten Bilderbuch der Welt.

Wer mag die gold’nen Blätter wenden?
Wer hält das Buch in seinen Händen?»

Dieses Gedicht von Erika Dühnfort leitet bei uns Jahr für Jahr ab dem Martinstag die Sternenzeit ein. In der vierten Klasse werden die Sternbilder aus der Sicht der Germanen geschildert (der Fenriswolf verschlingt den Mond), die Zwölf Sternenhäuser nach dem Buch von Elke Blattmann Geheimnisvolle Sternenwelt in bildhafte Erzählungen gebracht. In der fünften Klasse gibt es viele Geschichten aus der griechischen Mythologie. Wenn dann in der sechsten Klasse die Sternenkunde als eigene Epoche auftritt, haben die Kinder bereits ein großes Vorwissen, ja, ich kann sie sogar im rhythmischen Teil fortführen und habe mir zudem Zeit und Raum, zum Beispiel für die Insektenkunde, verschafft.

Die vier Wochen der Adventszeit führen uns knapp in die viergliedrige Welt der Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen. Nach den Weihnachtsferien folgt die Epiphaniaszeit, die auch Dreikönigszeit genannt wird. Die Heiligen drei Könige folgen dem Stern. Und die Sterne waren bereits Inhalt meiner Erzählungen. Da der Sechsstern dabei eine Rolle spielt, beginne ich mit Erzählungen zu den Kristallen, deren Struktur häufig das Sechseck zugrunde liegt. Da finden sich wieder wertvolle Geschichten in dem oben erwähnten Buch von Edda Singrün-Zorn. Ganz besonders beglückend war für mich der Moment, als in der Epoche zur Gesteinskunde in der sechsten Klasse der Amethyst durchgenommen wurde und eine Schülerin fragte: «Ist das nicht der Vier-Elemente-Stein?» Diese Geschichte hatte ich in der ersten und zweiten Klasse erzählt! Eine Möglichkeit zur Vertiefung wäre auch, gleichzeitig das Formenzeichnen oder später die Freihandgeometrie zum Sechsstern oder die Gesteinskunde für diese Zeit zu planen. Es können sich dann auch Bienengeschichten anschließen. Somit bin ich also immer auf der Suche, wo und wie ich auch den Jahresrhythmus als heilenden Rhythmus für den physischen Leib pflegen kann. Die «Freude an und mit der Umgebung» ist laut Rudolf Steiner eine «Kraft, die bildsam auf die physischen Organe wirkt. Diese Freude brütet im wahrsten Sinne des Wortes die Form der physischen Organe aus». Mögen die jährlich wiederkehrenden Bilder, Geschichten und Feiern diese Freude in den Kindern wecken und ihre physische Entwicklung unterstützen!

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