Das Einzigartige fördern

Claus-Peter Röh

Je mehr es gelingt, das Kind oder den Jugendlichen so anzusprechen, dass sich deren Interesse und Eigentätigkeit entwickeln, desto intensiver wird der Lernprozess und desto tiefer verbindet sich der junge Mensch mit dem Gelernten. Zu beobachten, wie ein Schüler plötzlich aufmerkt und sich zuwendet, um dann die Frage, das Wort oder die Tätigkeit in ureigener Weise zu ergreifen, gehört zu den schönsten, aber auch rätselhaftesten Augenblicken im Lehrersein. Wie bildet sich ein solcher innerer Impuls, der durch die Alltagsschichten der Persönlichkeit hindurchbricht? Und welche Wirkung hat ein solches Erlebnis auf den weiteren Entwicklungsweg – für das Kind, für den Erzieher oder Lehrer?

Das Ende des Hauptunterrichts: Nach der schriftlichen Arbeit versammelt sich die erste Klasse im Erzählkreis. Unruhe kommt auf, ein Junge verharrt auf »seinem Platz«. Die Lehrerin spricht beruhigend zu ihm und beginnt eine Melodie zu singen. Die Klasse stimmt ein und blickt dann erwartungsvoll auf die Lehrerin. Auf ihre Frage, wer sich an das gestrige Märchen erinnern kann, herrscht eine Art »Erinnerungsstille« im Raum. Es ist, als tauche jedes Kind in seine unbekannte Tiefe hinab, um das Erleben wieder aufzurufen. Ein Junge beginnt zaghaft: »Da war ein Mädchen, das war arm …«. Andere Kinder regen sich, als wollten sie gleich sprechen. Da bemerkt die Lehrerin, dass ein Mädchen sich sichtlich bewegt nach vorne beugt und leise fragt: »Darf ich?« Auf das ermunternde »Ja« beginnt sie mit klarer Stimme zu sprechen:

»Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr, als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte …« Wort für Wort trägt sie das ganze Märchen vom Sterntaler vor und endet mit den Worten »… da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.« – Staunende Stille im Raum. – Neben dem Märchen, das wieder ganz anwesend ist, gilt das Staunen dieser Schülerin, die es gerade eben so entschieden und kraftvoll ergriffen und als Ganzes vorgetragen hat. Nie zuvor war dieses Kind im Sprechen so erlebt worden. Später schildert die Lehrerin, die selber sehr für das tägliche freie Vortragen eines ganzen Märchens übte, dass dieses Mädchen ihr mit jenem Erlebnis zu einem tiefen Rätsel wurde. Während Erinnerungen an alltägliche Dinge und Arbeiten ihr sonst nicht leicht fielen, hatte sich ihr ganzes Wesen beim »Sterntaler« offenbar mit Inhalt und Sprache so vollkommen verbunden, dass es ganz präsent in ihr war und sie zugleich in diesem Märchen.

Ich sein heißt sich verbinden

In der beschriebenen Geste des Sich-Verbindens kommt eine Qualität des menschlichen Ichs zum Ausdruck, die Rudolf Steiner in der »Theosophie« mit wenigen Worten beschreibt: »Das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es sich verbindet.« In diesem Verbunden-Sein drängt sich das Ich offenbar nicht mit einem Inhalt auf, sondern lässt sich selbstlos durch »Wesen und Bedeutung« dessen bestimmen, womit es verbunden ist. Deutlich zeigt sich am geschilderten Beispiel, dass ein solcher Vorgang nicht direkt zu planen und von außen zu bestimmen ist. Aufgabe von Erziehung und Unterricht ist vielmehr, Anregungen und Begegnungsräume zu schaffen, die dann die Grundlage bilden können für eine solche innere Verbindung aus der Individualität heraus. Gute Gewohnheiten in diesem Sinne wären die Fähigkeit, zuzuhören sowie Aufmerksamkeit und Interesse.

Ein wenig Zuspruch ist nötig

Blicken wir auf spätere Lebensabschnitte: Mit neun oder zehn Jahren befinden sich die Kinder im Umbruch, sie lösen sich vom tragenden »Goldgrund« des Kindlichen, um ein neues, eigenes Verhältnis von Ich und Welt zu entwickeln. Entsprechend dynamischer und herausfordernder dürfen die Erlebnisse sein. Besuche von Handwerkern sind nicht nur eine authentische Vertiefung des Lernens, sondern vor allem Angebote an das innere Wesen, zuzugreifen.

Freudige Erwartung in der 3. Klasse, der Glasbläser hat zugesagt zu kommen! Eines Tages werden schon morgens seltsame Gerätschaften in die Klasse getragen, die Spannung steigt. Dann ist es endlich soweit: Gebannt lauschen die Kinder den Worten und sie erschrecken beim ersten Entzünden der bläulichen Gasflamme. Jede Handbewegung wird tief aufgenommen. Ein Mädchen, das sich zunächst in gebührendem Abstand gehalten hat, ist so bewegt vom Geschehen, dass sie mit ihrem Stuhl unbemerkt näher und näher rückt.

Der Glasbläser, der es leise schmunzelnd schon wahrgenommen hat, fährt zunächst fort, einen Schwan aus dem Glas zu zaubern. Dann sagt er: »Jetzt brauche ich einen starken Helfer« und er blickt dieses Mädchen an, das sich erschrocken und Hilfe suchend nach der Freundin umsieht. »Du kannst es«, fügt er mit ruhigem Blick hinzu und tatsächlich überwindet sie sich, steht auf und stellt sich neben den Meister. »Wenn das Glas richtig heiß ist, musst Du mit aller Kraft pusten.« Sie nickt entschlossen und bläst einen Augenblick später eine schöne Glaskugel. – Ohne seinen Zuspruch hätte sie es nicht gewagt.

Als er ihr die Hemmung von Aufregung und Angst nahm, konnte sie doch auf die Herausforderung zugehen. Dieses Vertrauen in die Kraft der Individualität gehört für Steiner zu den Grundlagen der Waldorfpädagogik: »Wir sind … dazu berufen, diese im Physisch-Leiblichen und im Leiblich-Seelischen liegenden Entwicklungshemmungen wegzuräumen und die Individualität frei sich entwickeln zu lassen.«

Am nächsten Tag schrieb das Mädchen: »Oh, wir waren doch sehr aufgeregt! Die meisten von uns hatten noch keinen Glasbläser gesehen. Als ich nahe am Feuer war, war es sehr heiß. Ich musste so doll ins Glasröhrchen blasen, wie nur möglich! So durfte ich tatsächlich eine Glaskugel machen. Dann war die Zeit auch schon vorbei. Wir haben ihm noch ein Lied gesungen und Tschüss gesagt.«

Ein Ich sagt »Nein«

Fünf Jahre später, 8. Klasse: Wir gehen auf ein Theaterspiel zu; das kann wiederum nichts anderes als ein Schaffen von Möglichkeiten für ein Engagement aus dem Ich heraus sein. Allerdings hat sich das innere Wesen der 14-jährigen Schülerinnen und Schüler nun schon viel tiefer in die seelischen Schichten ihrer Persönlichkeit »eingegraben«. Die in der Unterstufe vorherrschende sympathische Grundhaltung ist einem Wechselspiel von Sympathie und Antipathie gewichen. Daher gilt es gerade jetzt, auf verschiedenen Unterrichtsebenen Räume zu bilden für den individuellen Zugriff des jungen Menschen.

Tag der Entscheidung: Heute wird die Auswahl der Spielrollen vorgestellt. Gespannte Erwartung, auch bei der Lehrerin. Wie werden sich die Schüler dazu stellen? Rolle für Rolle wird angesprochen und nach und nach entsteht der Eindruck einer dankbaren Erleichterung, dass alles so gut aufgeht. Schließlich folgt der letzte Name für eine der tragenden Rollen des Stückes. Und ganz unmittelbar spricht dieser Schüler in den Raum: »Nein, das spiele ich auf gar keinen Fall!« – Totenstille. – In der Entschiedenheit seiner Worte liegt eine Unwiderruflichkeit und damit droht das kunstvolle Kartenhaus der Planung einzustürzen. Betroffen blicken die Schüler auf ihre Lehrerin. Fast ist sie entschlossen, alles rückgängig zu machen, da hält sie nachsinnend inne und blickt einen anderen Schüler an: »Volker, kannst Du diese Rolle übernehmen?« – Alle hängen an seinen Lippen, wissen, dass er kein Redner ist, sehen, wie er mit sich ringt, und dann spricht er ein klares »Ja« in die Stille und fragt: »Marco geht dann in meine Rolle?« Jener zögert: »Ja, aber einen Tag Bedenkzeit bitte.« Von hinten meint ein Mädchen trocken: »Na, das fängt ja schon mal gut an.« Erlöstes Gelächter.

Die Lehrerin und die Schüler entdeckten durch dieses Erlebnis in den beiden Jungen Wesenszüge, die sie zuvor so nicht wahrgenommen hatten. Neben der Fähigkeit des Ich, sich zu verbinden, gehört offensichtlich auch die Bereitschaft, sich abzusetzen. Nur durch das entschiedene »Nein« des einen wurde das entschiedene »Ja« des anderen ermöglicht. Durch die Äußerung des Ich begannen auf ver­schiedenen Ebenen Verwandlungsprozesse einzusetzen: Einerseits hatte sich ein neuer Respekt vor den beiden Jungen gebildet. Andererseits stellten beide sich ganz entschlossen in die neu ergriffenen Rollen hinein. Ihre Entschlossenheit wirkte sich in den folgenden Proben aus und ermutigte wiederum ihre Mitschüler. In diesem Wechselspiel zwischen den Individuen und der Gemeinschaft erwuchs über die einzelnen Rollen hinaus eine Verantwortung für das Gelingen des Ganzen.

Das Ich übernimmt Verantwortung

Blickt man auf die drei geschilderten Altersstufen, kann ein Vertrauen in die Entwicklungskraft entstehen, die jeder Individualität innewohnt. Immer sind die umgebende, ermöglichende pädagogische Geste und Achtsamkeit von fundamentaler Bedeutung. Zugleich muss der entscheidende innere Zugriff aus dem jeweiligen Ich selbst kommen. Diese wechselseitigen Ich-Gesten ziehen sich durch die ganze Waldorfschulzeit hindurch: Freude an der Begegnung, Achtsamkeit, anregende Vielseitigkeit, herausfordernde Perspektivwechsel im Lernen und das künstlerische Gestaltungselement in jedem Unterricht dienen dem Ziel, das Unverwechselbare, Einzigartige in jedem Heranwachenden zu entdecken und zu fördern.

Zum Autor: Claus-Peter Röh war 28 Jahre Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule Flensburg; heute leitet er zusammen mit Florian Osswald die Pädagogische Sektion am Goetheanum in Dornach.

Literatur: Rudolf Steiner: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, GA 302a