Das Geistige und seine Wirkung im Körper

Sven Saar

Der Mannheimer Waldorf-Dozent Albert Schmelzer ist ein anerkannter Experte für die »Allgemeine Menschenkunde«. Wenn er über den 13. Vortrag sagt: »Hier kommt man an die Grenzen des Verstehens!«, dann wissen wir, es steht uns eine denkerische Herausforderung bevor. Zu Beginn lässt sich Steiners Argumentation relativ leicht folgen: Der Kopf hat eine Kugelform, weil er sich von innen heraus bildet, einem Druck folgend und sich an das wachsende Gehirn anpassend. Das lässt sich auch embryologisch nachweisen. Die Gliedmaßen erhalten ihre Form mehr von außen, was man gut an den Handflächen und der Fußwölbung sehen kann, die ihre charakteristische Rundung erst im Lauf des ersten Lebensjahres entwickeln. Dann ist davon die Rede, dass das Geistige durch eine Art Sog unter anderem fortwährend versuche, den Körper zum Absterben zu bringen, denn es sei nun einmal des Körperlichen Gegenteil. Dadurch, dass der menschliche Körper dieser Tendenz Widerstand leiste, entstehe das Nervensystem und somit die physische Heimat des Bewusstseins. Ein schönes Bild: Wie eine Glasscheibe das Licht, so lässt die Nervensubstanz den Geist hinein. Das Blut hingegen hält den Geist auf, und so arbeitet er im Körperlichen und bringt die organischen Formen hervor.

Gegen Ende des Vortrages geht es um sinnlose und bedeutungsvolle Bewegungsformen. Rein physiologischem Sport stellt Steiner die Eurythmie entgegen: durchgeistigte Bewegung, von der auch die menschliche Seele profitiert. Diese Bemerkung mag eine Anregung für die Bothmergymnastik und Spacial Dynamics gewesen sein, die heute an vielen Waldorfschulen unterrichtet werden: Vollständig erst nach Steiners Tod entwickelt, versuchen sie, durch bewusste Erfassung des Raumes und Anerkennung der Kräfte, die uns zur Bewegung motivieren, geistige Gesetzmäßigkeiten ins Spiel zu bringen. Im Spielturnen der jüngeren Klassen, bevor der abstrakte Raum begreifbar wird, sind die gymnastischen Übungen in Bilder eingekleidet: So hangeln sich Achtjährige über einen Graben voller Krokodile, springen von Bergspitze zu Bergspitze und stehlen Juwelen unter der Nase des Drachen weg – und alles in der Turnhalle! Da einem laut Steiner das Büffeln »den Schlaf zerstört und in das Leben Unordnung hereinbringt«, hält er es für am Besten, auf Examina ganz zu verzichten. »Wozu soll denn das Kind geprüft werden? Ich habe es ja immer vor Augen und weiß ganz gut, was es weiß oder nicht weiß.« Er bittet die Lehrer, ihre »Rebellennatur« noch eine Weile in Zaum zu halten, weil die Zeit noch nicht gekommen sei, gegen die entsprechenden Gepflogenheiten in der Erziehungswelt anzugehen. Da kann man hundert Jahre später schon fragen: Wie lange wollen wir eigentlich noch warten? Sollten wir nicht mittlerweile, gestärkt durch den offensichtlichen Erfolg unserer Pädagogik, für einen neuen Geist, für einen menschen- und zeitgerechten Bildungsnachweis plädieren? Nicht nur für unsere Schulen, wohlgemerkt: Wie lange soll das Abitur denn noch als Non Plus Ultra gelten in einer sich so rapide verändernden, weil automatisierten Arbeitswelt? Man geht heute davon aus, dass die meisten Menschen im Lauf ihres Lebens mehrfach die Erwerbstätigkeit wechseln werden. Viele Schülerinnen und Schüler werden einmal Berufe haben und Fähigkeiten entwickeln müssen, die heute noch gar nicht existieren. Da ist es doch besser, man kann im Bewerbungsgespräch mit Portfolio demonstrieren, wie sehr man das Lernen liebt, und zu welcher Vielseitigkeit, welchem Einfallsreichtum man fähig ist. Die zu Steiners Zeit vorübergehend abgelegten Rebellenstiefel können wir uns heute getrost wieder anziehen!