Das »innere Kind« lieben lernen. Eine professionelle Aufgabe

Christoph Hueck

Kindheitsmuster

Ein junger Lehrer, noch nicht lange an der Schule, hat sich für die Organisation einer Schulfeier verantwortlich erklärt und dafür etliche Zeit investiert. In der letzten Konferenz vor der Feier ist er krank. Die Kollegen gehen das Programm durch und bemerken, dass die Moderation noch offen ist. Da es weitere dringende Tagesordnungspunkte gibt, klärt man das Problem schnell, ein Freiwilliger findet sich. Leider denkt niemand daran, den erkrankten Kollegen zu informieren. Als er schließlich davon erfährt, ist er enttäuscht, da er sich auf die Moderation vorbereitet hatte. In einem Winkel seiner Seele hatte er sich ausgemalt, dort auf der Bühne Anerkennung für sein Engagement zu erhalten. Tatsächlich hatte ihn diese Aussicht motiviert, sich besonders einzusetzen.

Nehmen wir weiter an, dass damit für ihn ein Lebensthema berührt wird. In seiner Kindheit hat ihn sein Vater wenig beachtet, wenig gelobt, viel kritisiert. Für die Seele des kleinen Jungen war das eine wiederkehrende Verletzung. Das Bedürfnis des Kindes, gesehen, anerkannt und liebevoll unterstützt zu werden, wurde immer wieder enttäuscht. Und die Seele nahm den für sie damals einzig möglichen Ausweg, indem sie sich langsam unempfindlicher gegen diesen kindlichen Schmerz machte, ihn in einen dunklen Winkel verdrängte. Obwohl die Verdrängung für das Kind sinnvoll, ja vielleicht überlebensnotwendig war, bleibt die seelische Verletzung im Erwachsenenalter unbewusst lebendig und wird bei ähnlichen Situationen in der Gegenwart »erinnert« und neu aktiviert.

Verdrängung, Schutz und Projektion

Viele Menschen tragen solche verdrängten Kindheitsverletzungen in sich. Damals waren sie unerträglich – und so fühlen sie sich auch heute noch an. Nur, dass der äußere Anlass nicht mehr da ist und man als Erwachsener ganz andere Möglichkeiten hätte, damit umzugehen. Anthroposophisch gesprochen leben solche Erfahrungen als Dispositionen im Ätherleib fort.

Das Problem beginnt da, wo wir solche Gefühle und Stimmungen nicht erleben wollen. Wir verdrängen sie und versuchen, uns durch kompensatorische Handlungen vor ihnen zu schützen. Das starke Engagement unseres Lehrers ist ein Schutzmechanismus, um dem latenten Gefühl seiner Wertlosigkeit zu entkommen. Es gibt viele verschiedene Verhaltensweisen, durch die wir den schlimmen Gefühlen der Vergangenheit zu entfliehen versuchen: viel grübeln, viel reden, sich ablenken, immerzu anderen helfen wollen, alles perfekt haben wollen, anderen die Schuld geben, dauernd Pläne machen, problematisieren, funktionieren, immer lustig sein, distanziert sein, oberflächlich sein, starkes Be- und Verurteilen, Scheinharmonie erzeugen, sich zurückziehen, rationalisieren, immerzu klagen … All dies bringt uns aus unserer Mitte. Wir verlieren den Kontakt mit uns selbst.

Das Verdrängen schützt zwar, aber es verschlingt auch eine Unmenge an Lebensenergie, die sonst frei und positiv wirksam zur Verfügung stünde. So lange aber die unbewusste Angst vor den Gefühlen größer ist, als die Beeinträchtigung der Lebensfreude und -kraft durch das Verdrängen, so lange halten viele an dem Schutzmechanismus fest.

Diese Gefühle hochkommen zu lassen bedeutet schließlich, sich noch einmal der oft lebensbedrohlichen Ohnmacht, dem Schmerz und der Beschämung, die das Kind erlebte, auszusetzen. Auch die Erkenntnis, dass man unter den

eigenen Eltern auch gelitten hat, kann oft schwer zu ertragen sein. Das Aufrechterhalten eines positiven Elternbildes ist ein Schutzmechanismus. Der letzte Schritt in dieser Kaskade der Seelennot ist die Projektion auf andere. Für unseren Lehrer ist es ein Leichtes, seinen Kollegen die Schuld für seine Verletzung zuzuschreiben. Wären sie nicht so unachtsam gewesen und hätten ihn moderieren lassen, dann wäre doch alles wunderbar gewesen. Oder …?

Ein Weg zum »Schattenkind«

In der psychotherapeutischen Literatur werden die latenten negativen Kindheitsmuster als das »verletzte innere Kind« oder als »Schattenkind« bezeichnet. Es ist ein vernachlässigter und verdrängter Teil der eigenen Persönlichkeit. Wenn man ihm helfen möchte, muss man es erst einmal kennenlernen. Ein einfacher Weg – wie ihn Stefanie Stahl ausführlicher beschreibt – sei kurz skizziert.

Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und zeichnen Sie in der Mitte ein Kind: Das sind Sie selbst. Nun schreiben Sie auf der einen Seite oben: Mama, auf der anderen Papa (oder Ihre sonstigen Bezugspersonen), und darunter die Art und Weise, wie diese Erwachsenen sich in Situationen verhalten haben, die für Sie schwierig waren. Zum Beispiel: Mama »war gestresst, traurig, hat geschimpft«; Papa »war nicht da, hat sich nicht für mich interessiert, hat mich kritisiert«. Es geht nicht darum, die Eltern zu kritisieren, die vielleicht damals nicht anders konnten, sondern das verletzte innere Kind fühlen zu lernen. Dann schreiben Sie in die Gestalt des Kindes, wie Sie sich selbst in einer solchen Situation gefühlt haben. Versuchen Sie, auch hier ehrlich und empathisch zu sein. Achten Sie insbesondere auf die körperlichen Reaktionen, die in Ihnen aufsteigen, wenn Sie sich an solche Situationen erinnern, zum Beispiel Last auf den Schultern, Enge im Hals, stockender Atem, ein zusammenziehendes Gefühl im Bauch, aufsteigende Wut, Trauer … Die Erinnerung an diese Gefühle soll lebendig werden, aber nicht überwältigen. Es ist wichtig, dass Sie mit Ihrem erwachsenen Ich dabei bleiben. Das ist zum Beispiel dadurch möglich, dass Sie sich bildhaft vorstellen, wie Sie sich selbst als erwachsene Person neben dieses verletzte Kind stellen, das Sie damals waren, und sich liebevoll um es kümmern. Diese bildlich vorgestellte Zuwendung hilft, die negativen Gefühle auch wieder loszulassen. Sie können diese Methode für sich selbst durchführen und damit sehr weit kommen. Falls sich bestimmte Probleme dennoch nicht auflösen lassen, kann auch eine regelrechte Therapie hilfreich sein.

Das »Sonnenkind« wecken

Wenn Sie es soweit geschafft haben, folgen zwei weitere Schritte, die den Prozess zunächst abrunden.

Die meisten Menschen haben bestimmte, nicht voll bewusste Überzeugungen über sich selbst, die sich in kurzen Sätzen ausdrücken lassen, sogenannte »Glaubenssätze«, die sie sich aus ihren Kindheitserfahrungen gebildet haben. Zum Beispiel: »Ich bin nichts wert«, »Ich bin unerwünscht«, »Ich kann nichts«, »Ich bin schuld« … Es können auch Verhaltensregeln sein: »Ich halte das aus«, »Ich bin besser still«, »Ich muss es allein schaffen«, »Ich bin für deine Laune verantwortlich«, »Wenn ich keine Kontrolle habe, kann alles untergehen« … Es kommt nun darauf an, die ein bis drei wichtigsten Glaubenssätze zu finden, die Sie sich aus Ihrem Kindheitserleben gebildet haben. Nicht, was die Erwachsenen zu Ihnen sagten, sondern zu welcher Überzeugung Sie selbst gekommen sind. Formulieren Sie diese Sätze schriftlich in kurzer Ich-Form. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie sich einen solchen Satz bewusst vorsprechen? Wo in Ihrem Körper fühlen Sie etwas, was macht dieser Satz mit Ihnen? Geben Sie diesen Gefühlen Raum – denn damit geben Sie dem verdrängten Kind in sich Raum.

Wenn Sie diesen Schritt vollzogen und für sich abgeschlossen haben, zum Beispiel indem Sie die negativen Gefühle bewusst wieder loslassen, wenden Sie den Glaubenssatz positiv, zum Beispiel: »Ich bin wertvoll«, »Ich bin erwünscht«, »Ich darf meine Meinung sagen«, »Ich darf loslassen«, »Ich bin nicht verantwortlich für deine Laune«. Spüren Sie nun wieder in sich hinein, um zu erleben, wie sich dieser positive Satz körperlich anfühlt. Stellen Sie sich vor, Ihre Eltern hätten diesen Satz zu Ihnen gesagt. Geben Sie auch diesem Gefühl viel Raum, atmen Sie es sozusagen in sich hinein. Es ist die Art und Weise, wie sich das gesunde, das freie und glückliche Sonnenkind in Ihnen fühlt oder fühlen würde, wenn es mehr in Ihnen leben würde.

Viele Menschen zweifeln an solchen positiven Affirmationen; sie sind auf ihre negativen Glaubenssätze fixiert, weil diese aus ihren realen Kindheitserfahrungen stammen. Aber man nimmt den eigenen Erfahrungen ja nichts weg, man verleugnet sie nicht, sondern holt zunächst das verletzte Kind aus seinem Schattendasein hervor und stellt dann eine erwachsene, positive Perspektive dazu. Diese entspricht meist auch viel mehr der gegenwärtigen Realität.

So lange wir als Lehrer und Erzieher unsere eigenen Verletzungen verdrängen, wird uns das im Schatten lebende innere Kind immer wieder zu problematischen Gefühlen und Handlungen treiben. Wecken wir in uns das Sonnenkind auf, dann verleugnen wir nichts, machen uns nichts vor, tun niemandem Unrecht und vernachlässigen nicht unsere Aufgaben. Das Einzige, was sich ändert, ist, dass wir uns ändern, glücklich werden, und damit unser Leben und die Welt. Für Lehrer und Erzieher ist das Annehmen des verletzten inneren Kindes und das Aufwecken des Sonnenkindes eine professionelle Aufgabe.

Zum Autor: Dr. Christoph Hueck ist Naturwissenschaftler und Dozent für Anthroposophie und Waldorfpädagogik.

www.akanthos-akademie.de

Literatur: S. Stahl: Das Kind in dir muss Heimat finden, München 2017