Das Kind hat ein Recht auf Ablehnung
Ist das Leben in einer Patchwork-Familie ein Aufbruch zu neuen Beziehungs- und Entwicklungserfahrungen? Oder entsteht mit der neuen Familienkonstellation ein Labyrinth aus Missverständnissen, Enttäuschungen und tiefen Verletzungen? Nadja Hölzer-Hasselberg erlebt in ihrer psychotherapeutischen Praxis viel Beziehungselend in Patchwork-Familien, die auf die entstehenden Herausforderungen nicht ausreichend vorbereitet sind.
Es ist das Recht von Erwachsenen, eine bestehende Partnerschaft zu beenden oder eine neue zu beginnen. Es entspricht dem Vorrang der Autonomie, den das moderne Bewusstsein dem Individuum zuerkennt.
Wie aber sieht es für die beteiligten Kinder aus? Auch sie haben ein Recht, die Entscheidung der leiblichen Eltern und die von Vater oder Mutter gewählte, neue Bezugsperson aus tiefstem Herzen abzulehnen. Sofern nicht Gewalt oder grobe Vernachlässigung im Raum stehen, werden Kinder immer den legitimen Wunsch nach einer Fortsetzung der Beziehung ihrer leiblichen Eltern haben – denn sie haben sich diese Eltern »ausgesucht«.
Das muss man zu Beginn einer Patchwork-Beziehung in Betracht ziehen und sich darauf einstellen. Und man muss sich fragen: Bin ich bereit, diese Tatsache zu tragen? Eine Verweigerung gegenüber neu hinzukommenden Partnern darf den Kindern niemals zum Vorwurf gemacht werden.
Die Erwartung, dass auch die Kinder den neuen Partner oder die neue Partnerin lieben werden, weil man selbst ihn oder sie liebt, ist naiv. Bisweilen rationalisiert man diese Haltung auch mit dem Gedanken: »Was für die Mutter oder den Vater gut ist – durch das Eingehen einer neuen Beziehung –, das ist auch für das Kind gut« – eine Alibi-Vorstellung, um die nötige Rücksichtnahme auf das Kind zu vermeiden.
Angemessener ist es dagegen, sich klarzumachen, dass ein Kind – auch wenn es dies nicht ausspricht – es im äußersten Falle des Entgegenkommens etwa so empfinden könnte: »Ich freue mich zwar, dass du eine neue Partnerin oder einen neuen Partner hast – aber das ist deine Beziehung, nicht meine. Ich selbst möchte nicht mit dieser Person zusammenwohnen, ich möchte nicht mit ihr in Ferien fahren – macht was ihr wollt, aber ich empfinde nun einmal so, ich habe mir diese Person nicht ausgesucht.« Diese Reaktion muss von den Erwachsenen, so schwer das auch fällt, respektiert werden. Die Haltung dagegen, wonach sich Kinder der neuen Situation einfach anzupassen hätten, muss klar als Teil einer heute überholten Pädagogik zurückgewiesen werden, die der besonderen Verletzlichkeit und Bedürftigkeit der kindlichen Seele zu wenig Achtung entgegenbringt.
Man könnte einwenden: Warum kann man von den Kindern nicht ein Minimum an Höflichkeit und Respekt verlangen, so wie dies eine Kindergärtnerin oder ein Lehrer eben auch einfordert? Nun, die Schule, den Kindergarten kann man wechseln, die Familie nicht. Die »Vertragsbedingungen« zwischen Schüler und Pädagoge sind eindeutig definiert, aber man ist ihnen nicht derart ausgeliefert, wie der Schicksalsdramatik zwischen Eltern und Kindern.
Die neuen Partner in einer Patchworkfamilie haben keineswegs einen Erziehungsauftrag für die nicht-leiblichen Kinder. Der Erziehungsauftrag bleibt immer bei den leiblichen Eltern. Es sei denn, dass die Patchworkmütter oder -väter sich das Vertrauen und die Wertschätzung der nicht-leiblichen Kinder erworben haben. Dann entsteht ein Klima der gemeinsamen Erziehung, die aber von allen Beteiligten bejaht werden muss. Eines haben Eltern und Lehrer aber im Kontext der Beziehung zu Jugendlichen und Kindern gemeinsam: Ohne Vertrauen, Liebe und Wertschätzung, die sich sowohl Lehrer als auch Patchworkeltern erst erwerben müssen, findet keine Erziehung statt, einfach weil Kinder und Jugendliche diese boykottieren.
»Von Dir lasse ich mir nichts sagen!«
Die Beziehung der künftigen Patchwork-Mutter oder des künftigen Patchwork-Vaters zu den Kindern folgt vollkommen anderen Regeln als die Beziehung der Patchwork-Eltern untereinander. Neu hinzukommende Partnerinnen und Partner sollten sich also auf die Herausforderung einstellen, sich den Respekt und irgendwann vielleicht auch die Zuneigung der Patchwork-Kinder erarbeiten zu müssen, diese aber keinesfalls einfach voraussetzen.
In einem Beispielfall kam ein »neuer« Vater in den Haushalt einer schon länger geschiedenen Mutter mit vier teilweise pubertierenden Kindern. Einige von ihnen lehnten den neuen Mann im Haus heftig ab.
Anders als der leibliche Vater, der aufgrund seiner Karriere ohnehin nur am Sonntag zu Hause gewesen war und den die beiden jüngeren Geschwister überhaupt nur von Wochenendbesuchen her kannten, setzte sich der Patchwork-Vater aufopfernd im Haushalt ein und war für außen- stehende Beobachter ein wirklich rührender Vater – nur war er eben nicht der »echte«, und dies bekam er häufig zu spüren. »Von dir lasse ich mir nichts sagen, du bist nicht mein richtiger Vater!« – auf diese Formel bringt der Kindermund in solchen Konfliktfällen die Sachlage. Der betreffende neue Partner trug es mit einer Engelsgeduld. Wahrscheinlich hatte sich die gezeigte Ablehnung gar nicht so sehr gegen seine Person, sondern eher dagegen gerichtet, dass sich durch den Entschluss der Mutter, sich zu trennen, eine Situation ergeben hatte, welche die Kinder in unterschiedlicher Intensität ablehnten. Aus Liebe zur Mutter war aber gegen sie kein Groll geäußert worden, sondern dieser hatte sich nur gegen den neuen Partner gerichtet. Erst sehr viel später, teilweise erst nachdem sie schon aus dem Haus waren, konnten die Kinder dem neuen Partner ihrer Mutter mehr Wertschätzung entgegenbringen und ihn wie einen älteren Freund annehmen.
Wer sich also für eine Patchwork-Familie entscheidet, muss auf viel Mühe und Arbeit gefasst sein – weit mehr, als es schon eine »normale« Familiengründung erfordert. Alle Beteiligten in einer Patchwork-Familie haben ihr eigenes Schicksalspaket, das sie mitbringen. Jeder und jede Einzelne ist hier aufgefordert, dieses für sich zu bearbeiten – mit Ausnahme natürlich der Kinder.
Eltern müssen ihre persönlichen Probleme kennen
Welches sind die Gesetzmäßigkeiten einer Patchworkfamilie und die notwendigen Schritte, damit Kinder und Erwachsene sich in der neuen Lebenssituation beheimaten können? Die Erwachsenen, die eine Patchworkfamilie gründen, sollten ihre persönlichen Probleme gut kennen. Warum? Die Herausforderungen in einer Patchworksituation fordern von allen Beteiligten viel Sensibilität, Frustrationstoleranz, Kompromissbereitschaft und Humor. Wenn die Verletzlichkeiten und Bedürfnisse sowie die Erwartungen und Ansprüche der Erwachsenen nicht geklärt sind, kann es zu Missverständnissen und Schuldzuweisungen kommen. Wer kennt das nicht: »Deine Kinder haben schon wieder...«, »... aber Deine Kinder haben auch ...« Es klingt zunächst banal und harmlos, aber ein ungeklärtes Rollenverständnis in Bezug auf die Rechte und Pflichten der leiblichen und nicht-leiblichen Patchworkeltern kann zu heftigen Enttäuschungen und Missverständnissen führen.
Es bedarf einer hohen Bereitschaft, immer im Gespräch zu sein, damit sich die einzelnen Familienmitglieder angstfrei und offen äußern können. Die Erwachsenen aber müssen in der Lage sein, mit Kritik, Verzweiflung und Ablehnung der Kinder und Jugendlichen umzugehen. Heimat entsteht, wenn alle das Vertrauen haben, ich werde so geliebt und akzeptiert, wie ich jetzt bin. Aus dieser Haltung ist dann jede Form der Entwicklung möglich.
Wie Pädagogen helfen können
Oft reagieren die Schüler in familiären Umbruchsituationen mit Leistungsverweigerung und sozialem Rückzug. Da ist Gefahr im Verzug! Das sollten Lehrer schnell bemerken und das Gespräch mit den Eltern suchen. Es ist notwendig, dass Lehrer und Eltern den Schüler gut begleiten. Hat der Lehrer den Eindruck, dass der Schüler in dieser neuen Familienkonstellation überfordert ist, sollte es einen besonderen Hilfeplan für den Schüler geben. Kinder, die offensichtlich in den neuen Familienkonstellationen überfordert sind, brauchen einen besonderen Schutz, und oft ist eine familientherapeutische Intervention angesagt.
Die Lehrer sollten sich allerdings nicht von den Eltern in eine Therapeutenrolle drängen lassen, in der sie dann überfordert sind. Sie bleiben in erster Linie »Anwalt« für die Bedürfnisse und Nöte ihrer Schüler.
Zur Autorin: Renate Hölzer-Hasselberg arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeutin HP in Ammersbek.
Literatur: R. Hölzer-Hasselberg/J. Heisterkamp: Entwicklungschance Patchwork. Wahlfamilien auf dem Weg zu neuen Beziehungsfähigkeiten, Frankfurt am Main 2016
Waltraud , 14.04.16 07:04
Dementsprechende Hilfe bzw. Literatur hätte ich vor 25 Jahren benötigt. Bei mir leider zu spät. Meine Kinder waren damals 8 und 10 Jahre alt, als ich eine neue Beziehung eingegangen bin. Die Kinder haben sehr darunter gelitten und hätten viel mehr Hilfe benötigt.
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