Das Kreuz mit der Tugend

Lorenzo Ravagli

Ebenso verhält es sich mit den Tugenden. So unterschiedlich die Vorstellungen über sie in verschiedenen Kulturen auch sein mögen, verzichten kann keine auf sie, sind sie doch die Form, durch die sich die Gemeinschaft das Individuum anverwandelt. Was die einen schätzen, ist bei den anderen verpönt – was die einen als Offenheit betrachten, empfinden die anderen als Scham­losigkeit, selbstverständlich setzen beide das jeweils andere voraus. Auch die Zeit bürstet vieles gegen den Strich; und das im selben Kulturraum. Was einst in Europa, in Frankreich, Deutschland oder England in hohem Ansehen stand, gilt heute als maniriert oder steif und ruft Kopfschütteln hervor. Während das Mittelalter die Keuschheit noch zu schätzen wusste, bevorzugen wir heute ihr Gegenteil.

Tugenden rufen dort Konflikte hervor, wo das Diachrone aufeinanderstößt, etwa Ehrbegriffe, die als übersteigert empfunden werden, oder die Neigung, sich zu verhüllen, wo andere freigiebig zeigen, was sie besitzen. Die Bruchlinien des Kampfes der Kulturen durchziehen nicht nur Kontinente, sondern auch Gesellschaften. Aufzulösen vermag sie allein die Anziehungskraft, die von den Tugenden ausgeht – in beide Richtungen. Manche Europäer ziehen in den Nahen Osten zum Kampf, viele von dort zieht es in den Westen, weil sie eben diesem Kampf entfliehen wollen.

Immer im Wandel

Tugenden sind aber nicht nur soziale Konstrukte, vielmehr konstituieren sie die Sozietät. Die Anerkennung des Gewaltmonopols des Staates beruht auf der Tugend der Selbstbeherrschung, die schon Plato als Zeichen der Menschlichkeit galt. Wo sie verloren geht, bricht das Chaos aus und herrscht das Faustrecht, wie neulich in Hamburg. Höflichkeit galt dem aufstrebenden Bürgertum einst als Ausweis der Emanzipation von bäuerlicher Unkultur, Ritterlichkeit und Adel des Geistes waren Quellen des Stolzes einer ganzen Klasse, die durch Mimesis die ihr übergeordnete entmachtete.

Tugenden wandeln sich und sie werden erlernt. Mit der Erziehung werden sie verabreicht und gehen häufig ein Leben lang nicht verloren. Eine Gesellschaft, die sie als autoritär unter Generalverdacht stellt, untergräbt die Voraussetzungen ihrer Existenz. Sie sind ein Mittel der Distinktion, gerade auch für alternative Milieus, die sich dadurch auszeichnen, dass sie andere bevorzugen, als die Mehrheitsgesellschaft. Sie erhalten den gesellschaftlichen Verkehr aufrecht, wie ein Schmiermittel, weil sie zu den selbstverständlichen Gegebenheiten des Umgangs gehören. Wo sie fehlen, stößt Unerzogenes auf, das als anstößig empfunden wird.

Die gesellschaftlichen Tugenden sind vielfältig und disparat. Vielfalt auf kleinstem Raum, sogar in Familien. Wer kennt nicht die radikalen Pubertären, die sich jeder gesellschaftlichen Umgangsform verweigern und provozieren, bis es knallt? Auch dies ist Diachronizität – eine Lebensphase stellt das Daseinsrecht einer anderen in Frage, Integration und Interkulturalität beim Abendbrot sind geboten. Wie aber, wenn das Gespräch verweigert wird? Wenn jeder noch so zarte Hinweis zur Eskalation führt? Gewisse Grundbedingungen müssen erfüllt sein, damit zivilisierter Umgang möglich ist, wie bei der Pflanze, die ohne Wasser und Licht nicht gedeiht, sondern eingeht.

Ebenso geht der Friede der Familie oder der Gesellschaft ein, wenn jeder unbeugsam auf seiner Tugend oder Untugend beharrt. Da hilft nur Toleranz – aber was hilft Toleranz, wenn der andere nicht tolerant, sondern untolerant sein will? Wenn er sie als Schwäche empfindet? Wenn bei Aufschnitt und Vollkorn der kleine Terrorist zum Vorschein kommt?

Ein Stück Himmel auf Erden

Aber auch Langmut und Duldsamkeit sind Tugenden. Ob sie mehr als Floskeln sind, zeigt sich, wenn sie durch die Realität erprobt werden. In der Familie oder in der unüberschaubaren Großhorde, die wir Gesellschaft nennen. »Keine Toleranz gegen Intoleranz« texten manche. Merken sie nicht, dass sie sich selbst widersprechen? Jesus sagte: Wenn dich einer auf die eine Wange schlägt, dann halte auch noch die andere hin. Aber Jesus endete auch am Kreuz.

Diese Maxime scheint in einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz beruht, wenig praktikabel. Nun, sie war auch nicht als politische Tugend gemeint, heißt es doch: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Will man überirdische Leidensbereitschaft praktizieren, bedarf man des Ausblicks auf ein überirdisches Reich, auf den Himmel. Den unmittelbaren Eintritt in ihn versprechen manche Prediger solchen, die bereit sind, Leid zuzufügen, nicht selbst zu leiden, um das Leiden anderer zu verhindern.

Hier eröffnen sich Inkompatibilitäten, die durch keine Übersetzung zu beseitigen sind. Das gilt eben auch für die Toleranz. Wer das Himmlische im Irdischen unmittelbar verwirklichen will, erzeugt Paradoxien. Der Extremismus führt uns aufs Glatteis, lenkt aber auch davon ab, dass der Alltag in der Regel keineswegs so extrem ist. Der Alltag ist kein Ausnahmezustand, der alle Regeln aufhebt, sondern die Regel. Und in der Regel gilt, dass moderat eingesetzte Tugenden ihn erleichtern, nicht erschweren. Wenn ich etwas verspreche, darf der andere erwarten, dass ich mein Versprechen halte, er setzt also Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit voraus. Wenn wir Verträge einhalten, auch wenn sie nur mündlich abgeschlossen wurden, dann ist dies ein Stück Himmel auf Erden.

Wir müssen also nicht Engel werden, um Mensch zu sein, es reicht schon, halbwegs Mensch zu sein, um Engel zu werden. Es ist schon ein Gebot der Höflichkeit, dass ich den anderen achte und nicht verachte, aber Achtung setzt Gegenachtung voraus. Nur wer geachtet wird, vermag zu achten. Der Verachtete verfällt dem Ressentiment. Und das Ressentiment ist das Rhizom des Hasses, der sich im dunklen Waldboden verbreitet, um irgendwann explosionsartig an die Oberfläche zu schießen.

Zum Blog des Autors