Das Medium als Botschaft

Martyn Rawson

Die Tätigkeit des Unterrichtens und Erziehens als künstlerische Fragestellung zu begreifen, ist eine der zentralen Ideen der von Rudolf Steiner begründeten Waldorfpädagogik. Die inhaltliche Recherche und die Beschäftigung mit Originalquellen bildeten die Basis für die Konzeption einer Reihe dialogischer Videointerviews mit sechs Waldorfpädagogen aus Stuttgart, Aesch (Schweiz), Elmshorn und Kassel.

Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, wie sich die Personen in ihrem Lehren selbst begreifen. Worin besteht die pädagogische Kunst, von der Rudolf Steiner spricht, und wie gehen die Lehrer in ihrer alltäglichen Praxis, in ihrem eigenen Unterricht mit dieser Idee um? Bei den Interviews stand nicht eine analytisch-wissenschaftliche Auswertung im Vordergrund, sondern das gemeinsame Erkunden im Dialog. Von Interesse waren das Aufdecken verborgener Haltungen, das unausgesprochene, nach langjähriger Erfahrung entstandene Wissen im Umgang mit Waldorfpädagogik und die damit zusammenhängenden individuellen Strategien des Unterrichtens.

Spontan und doch kunstvoll

Es ist faszinierend zu sehen und zu hören, wie unterschiedlich sechs Waldorflehrer über ihre beruflich-biographischen Erfahrungen sprechen, auch wenn man selbst einer der Betroffenen ist. Was als Anfrage für ein Interview begann, ist zu einer vielschichtigen Erfahrung geworden. Als Teilnehmer habe ich das Projekt in vier Etappen erlebt. Zuerst war das Interview, dann die Präsentation an der Freien Hochschule in Stuttgart, dann das Lesen des Textes zum Projekt und schließlich reflektiere ich alles mit diesem Beitrag. Im Rückblick sehe ich, mit welcher Sorgfalt und forschenden Haltung Kathrin Wörwag ihr Master-Projekt entwickelte. Die komplexeste Erfahrung war der Besuch in der Bibliothek der Hochschule, wo ich für eine Woche einen Kurs als Gastdozent gab. Dort wurden die Interviews auf sechs Flachbildschirmen an den Stirnseiten der Bücherregale gezeigt. Die mir bekannten Befragten bewegten sich wie in einem Solo-Kammertheaterstück: mit leichten Beugungen, aber auch kräftigen Gesten, und dann wieder zur Ruhe kommend. Das allein war schon interessant.

Mit einem Kopfhörer konnte man in jeden dieser Filme eintauchen und die Stimmen hören, wie sie entspannt und lebendig von ihren pädagogischen Erfahrungen erzählten und ihre Gedanken entwickelten. Zunächst interessierten mich nur Inhalte. Schließlich habe ich es ausgehalten, mir selbst zuzuschauen. Was mir auffiel, waren gar nicht die Inhalte, sondern der Prozess des Interviews, was ich bei den anderen zunächst gar nicht bemerkte.

Ein Videointerview in Form eines Gesprächs ist etwas anderes, als einen Text zu verfassen oder einen Vortrag zu halten. Das englische Wort Inter-View kann man wortwörtlich nehmen als eine Sicht auf das, was zwischen zwei Menschen passiert. Es ist vorbereitet und gelenkt durch den Filmemacher oder Interviewer und dennoch ist es spontan und bringt Unerwartetes hervor. Nachher ist der Film geschnitten und gegliedert. In diesem Fall fügte Kathrin Wörwag die Fragen als Text zwischen die Episoden des Gesprächs ein, was dem Ganzen Atem gab. In den Videos sehen wir die Interviewerin nicht, wir konzentrieren uns auf die befragten Personen, die sich aber offenbar in einem bewegten Gespräch befinden, was für den Zuschauer so aussieht, als ob die Befragten mit dem Zuschauer sprächen. Wörwag ist es auch gelungen, die Redner aus der Reserve zu locken, alle wirken sehr authentisch in ihrer Begeisterung, manchmal auch in ihrer Skepsis oder ihrem Unbehagen, da das Medium doch auch fremd ist.

Das Video-Format ist besonders erhellend

Inhaltlich fand ich die Interviews sehr aufschlussreich. Für Studierende bieten sie anregende Quellen und Gesprächsstoff. »Teaching As Art Research Tour« präsentiert nicht nur Menschen, die etwas zum Thema Erziehungskunst zu sagen haben, aber ich brauchte länger, um dahinter zu kommen. Videos sind nicht gerade eine typische Kunstform in Waldorfzusammenhängen und ich fragte mich, was dabei eigentlich künstlerisch ist? Mein Zugang waren zunächst die Menschen und was sie erzählten. Die Arbeit war technisch kunstvoll, sogar im ästhetischen Sinn, weil Form und Inhalt zu einer Steigerung geführt wurden, in der eine höhere Aussage möglich war.

Mir fiel der Satz des kanadischen Philosophen Marshall McLuhan »The medium is the message« (1964) ein. Das heißt, jedes Kommunikationsmedium prägt die Botschaft und vermittelt und beeinflusst, wie man die Botschaft empfängt und versteht. Das ändert unser Verhältnis zum Medium und zum Inhalt. Das Medium, so argumentiert McLuhan, bestimmt und gestaltet die menschlichen Tätigkeiten und Beziehungen. Heute wird der Satz als Hinweis auf elektronische Medien gedeutet, aber wer den Aufsatz von McLuhan liest, findet darin lauter Zitate von Shakespeare und Besprechungen der Kunst von Giotto bis zum Kubismus. Mit Medium ist jedes Artefakt oder Werkzeug gemeint. Das Medium selbst ist stumm, aber seine Wirkung verändert unsere Wahrnehmung der Welt und die Art, wie wir mit ihr umgehen. Ein Werkzeug ist eine Verlängerung des menschlichen Willens und verändert auch unsere Erkenntnisvorgänge. Ein Medium erzählt etwas von dem unbewussten Grund, auf dem wir existenziell stehen. Das tun wir selbstverständlich, ohne nachzudenken. Neue Medien verändern unser Verhältnis zur Welt, ohne dass wir es merken. Dieser Wirkungen müssen wir uns bewusst werden. Dann lernen wir etwas Neues über die Welt.

Die Möglichkeit, jedes dieser Interviews in einer beliebigen Reihenfolge anzuschauen, die Authentizität der Redner zu erleben – die Inhalte und die Personen passen zusammen –, der kunstvolle Schnitt und die Gliederung der Interviews sowie die Inszenierung wirken stimmig, intim, aber frei lassend. Die Erziehungskunst ist mir durch das Medium Video deutlich bewusster geworden. Es war eine wirkliche Lernerfahrung.

Zu den Autoren: Martyn Rawson arbeitet als Waldorflehrer an der Freien Waldorfschule Elmshorn sowie am Waldorflehrerseminar Kiel. Er ist Autor mehrerer Bücher zur Waldorfpädagogik und Mitherausgeber des englischsprachigen Waldorflehrplans. Kathrin Wörwag hat Bildende Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart mit Schwerpunkt Kunsterziehung und Bildhauerei studiert. 2016 schloss sie den Masterstudiengang Oberstufenlehrer an Waldorfschulen im Fach Bildende Kunst an der Freien Hochschule Stuttgart Seminar für Waldorfpädagogik ab.

Kontakt: bibliothek@freie-hochschule-stuttgart.de