»Das Menschsein lernt der Mensch nur am Menschen«

Henning Kullak-Ublick

Wieder einmal stehe ich fassungslos vor den Grausamkeiten, die Menschen einander antun können, wenn sie sich nicht mehr als individuelle Menschen erkennen, sondern »die anderen« – und damit auch sich selbst – vor allem als Gruppenwesen sehen und dann, als Masse entmenschlicht und jeder Würde beraubt, am Ende allzu oft nur noch vernichten wollen.

Ich gehöre der allerersten Generation Europas an, die – innerhalb der Grenzen der heutigen EU – ein Leben ohne Krieg verbringen durfte. Für den größten Teil meiner Generation war es vor dem Hintergrund unserer Geschichte unvorstellbar, dass sich in Deutschland jemals wieder Antisemitismus oder andere Formen des Rassismus ausbreiten könnten. Diese Überzeugung begann vor zwölf Jahren zu bröckeln, als mir ein in Flensburg geborener junger Mann erzählte, wie oft ihm schon der Zutritt zur Disco verwehrt worden war, weil er aufgrund seiner Herkunft »türkisch« aussah. Heute müssen wir erkennen, dass Alltagsrassismus zwar immer schon ein schleichendes Gift war, dass er aber nicht mehr schleicht. Die Angst vor »den anderen« nimmt zu, vor allem gegenüber Menschen aus arabischen oder afrikanischen Ländern und gegenüber Menschen jüdischen Glaubens. Offen rassistische Verlautbarungen wie die von Björn Höcke, »Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande« – gemeint ist das Holocaust-Denkmal – »in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat«, hindern ihn nicht mehr daran, Fraktionsvorsitzender der AfD im thüringischen Landtag zu werden, während Alexander Gauland als Fraktionsvorsitzender der AfD im Bundestag die Nazi-Zeit als »Vogelschiss« der Geschichte verharmlost.

Der Antisemitismus breitet sich aber nicht nur von rechts aus, sondern auch durch Zuwanderer aus muslimischen Ländern. Deutschland steht als Einwanderungsland mitten in den ethnischen, politischen, religiösen und ökonomisch-ökologischen Konflikten einer kleiner gewordenen Welt und kann sich gar nicht heraushalten. Die Frage ist nur, ob es uns gelingt, unsere freiheitlich-demokratischen Werte inmitten unserer eigentlich ja wunderbar multikulturellen Gesellschaft offensiv zu verteidigen. Artikel 1 des Grundgesetzes lautet: »(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.«

Der Staat muss die unantastbare Würde des Menschen schützen. Leben kann sie aber nur durch individuelle Begegnungen. Wenn wir unsere Kinder zu weltoffenen, ihre Freiheit nicht nur konsumierenden, sondern aktiv gestaltenden Menschen erziehen wollen, müssen wir Begegnung mit »den anderen« ermöglichen, wo immer es nur geht. Sie sind nämlich gar nicht »anders«, sondern einfach Menschen, mit denen wir das Menschsein lernen.