Die Schule verpasst das Wesentliche
Die pädagogische Dimension des Willens zeigt sich im »Üben«. Wenn heute in der Schule überhaupt noch geübt wird, dann wird »ein«-geübt. Eine erwähnenswerte Ausübung von erworbenen Fähigkeiten und damit ihre wirksame Verankerung im Leib und ihre Verbindung zum Leben findet nicht statt. Es fehlen heute den Kindern grundlegende und elementare Leibeserfahrungen, wenn sie in die Schule kommen. Nun ist aber der ganze Unterricht, der da in seinen Erzählungen und Experimenten und kunstvollen Bewegungen den Kindern etwas »vormacht«, »vorstellt« oder »vorführt«, darauf angewiesen, dass diese performativen Verdichtungen – 15.000 Stunden in einem Schülerleben – mit den Erfahrungen ihres Lebens eine Verbindung aufnehmen können. Sonst ist das ganze Unternehmen ja weitgehend nutzlos. Die Kinder, die das merken, werden unruhig, denn sie haben das dumpfe, aber berechtigte Gefühl, dass das Schulleben mit ihrem wirklichen Leben nichts zu tun hat, dass sie abgehalten werden von »etwas«, worum es eigentlich geht.
Sport ersetzt nicht die Welterfahrung
Ein Leben in Nicht-Bewegung und die daraus resultierende fehlende Welterfahrung ist nicht durch Sporttreiben auszugleichen. Immerhin, so sagt eine Erhebung, machen 75 Prozent der Kinder Sport – viele im Verein –, einmal die Woche und dann noch eine Stunde in der Schule. Doch die individuelle Begegnung und selbst aufgesuchte Erfahrung mit den Elementen ist mit dem Klettern an künstlichen Wänden und chloriertem Schwimmtraining nicht einzuholen. Sport ist keine sinnvolle Arbeit. Der sportlichen Bewegung ist eigen, dass sie der Welt und ihren Substanzen nicht verwandelnd begegnet. Die extreme Form der Sinnleere von arbeitsvortäuschender Anstrengung kann man in den Fitnesszentren studieren. Selbstverbesserung ist das Ziel. Von Welt ist keine Rede.
Arbeiten heißt, die Welt verwandeln
Die verlorene Dimensionen der Pädagogik sind deshalb genau genommen das Spiel und die Arbeit als Einübung und Ausübung des weltverbindenden und stoffverwandelnden Willens. Die europäische Bildungsgeschichte ist ein Weg in diese »Arbeitslosigkeit«. Platon baut die Akademie und man philosophiert im Einherschreiten. Im Jahr 529 geschehen zwei bemerkenswerte Ereignisse gleichzeitig. Zum einen wird diese Schule geschlossen. Zum anderen gründet Benedikt von Nursia das erste Kloster. Für 1000 Jahre ist nun in unserem Kulturkreis das Kloster der Ort der Bildung. Am Anfang war da noch Beten und Arbeiten, doch die folgenden, auf Armut gegründeten Orden der Franziskaner und Dominikaner widmen sich der gefühlsvertieften Kontemplation und dem philosophisch zugespitzten Exerzitium. Die Bettelorden arbeiten nicht mehr. Im neuerlichen Übergang 1534 verschärfen die militärisch organisierten Jesuiten diese Exerzitien und verstehen sich als Soldaten. Der militärische Drill und die Unterdrückung des Eigenwillens werden zur Leitidee der Schule, die bis heute in den Klettergerüsten der Spielplätze und Schulhöfe, den kasernenartigen Schulbauten, den Kohorten der Jahrgangsklassen, den Belobigungen und Degradierungen und den disziplinierenden, das Lernen eher störenden Druckmitteln von Hausaufgaben, Zensuren und Zeugnissen sichtbar sind.
Es gibt wissenschaftliche Belege dafür, dass das selbstmotivierte Lernen von Schulkindern sogar durch das Lob des Lehrers verschwindet. Es ist nämlich verdächtig, warum das, was ich gerne selbst tue, von den Erwachsenen so hervorgehoben wird, dass leicht durchschaubar wird, wie das ganze Unternehmen vom Anfang bis zum Zentralabitur auf Konformität ausgerichtet ist. Es gibt keinerlei wissenschaftlichen Nachweis, dass der Stundenplan, die Zensuren, Zeugnisse und Hausaufgaben lernfördernd wirken. Das gegenwärtige
Paradigma der Schule als Ort der angewandten Erziehungswissenschaft ist, solange diese »Instrumente« weiter flächendeckend angewandt werden, jedenfalls nur Täuschung und Verpackung. Dahinter herrscht weiter der unzeitgemäße Geist einer militarisierten Menschenführung, der Willensübertragung durch Befehl und Konformitätsdruck. Zwar sind immer wieder Schulmodelle in die Welt getreten, die diese unsägliche Willensbevormundung abschaffen wollten. Auch die Waldorfschule wollte eigentlich durch das praktisch Künstlerische der eigenständigen kreativen Willensübung statt der lehrplanmäßigen Belehrung Raum geben.
Viele damals in das erste Konzept eingearbeitete praktische Ansätze, in die Welt und eben auch in die Arbeitswelt zu gehen, sind bis heute über diesen Entwurfscharakter für eine wirkliche Lebensschule nicht hinausgekommen.
Die Schule simuliert bloß die Welt
Nein, es geht nicht mit Werken. Ein Werkraum ist keine Werkstatt, denn da fließt kein Arbeitsstrom und der Sinn der Arbeit liegt mehr in diesem Raum und bei den Vorgaben des Lehrers, als in den Bedürfnissen der Welt. Wenn der Schulgarten die Schulküche versorgt, ist das schon anders. Das, was unseren Willen wirklich ergreift, ist immer ein geistiger Zusammenhang mit der Welt, deren Ruf man entweder hört oder nicht, die dann durch meine Handlungen zu meiner Welt wird. Beim Einsatz des Willens im Handwerk und in den Künsten holt der Mensch durch die Weltverwandlung die Erfahrung der Weltgesetzlichkeit in seinen Leib. Mit dem Griff zu einem Schmiedehammer ergreife ich tausende Jahre Geistverkörperung im Hammerstil, in der Härte und Elastizität des Hammerkopfes. Wenn der junge Mensch mehr von dieser Art der Arbeitserfahrung hätte, dann könnte zum Beispiel die Eurythmie in der Oberstufe die historische Entwicklung der Bewegungskünste im Spiel und Tanz denk- und sichtbar machen, um dann erfahrbar werden zu lassen, dass die gegenwärtige Kulmination einer wachen Geistverbundenheit der menschlichen Bewegung mit der Welt-Bewegung in der Eurythmie gesucht und gefunden werden könnte. Spiel, Arbeit und Künste verwandeln den Ein- und Ausübenden, weil er in einem Willens- und Entwicklungsstrom das, was schon in der Welt ist, individualisiert, indem er es eben auch verwandelt und dem Stoff eine individuelle Prägung gibt. Am stärksten wird dies erfahrbar im treuen Umgang mit den Elementen und Naturreichen zum Beispiel im Landbau. Das Bedürfnis der Tiere wird da zu einem Sog, zu einem Ruf für mein Tun und nicht der Druck, etwas tun zu müssen.
Nun reicht es nicht, eine Ziege neben die Schule oder ein paar echte Schafe ins Lehrerseminar zu stellen. Damit wird man den Tieren und ihrem Bedürfnis nach Herde und treuer Betreuung nicht gerecht. Das ist dann so wie ein Schulgarten, der in den Ferien nicht gepflegt wird: performatives Theater für Kinder zur Illustration des Lebens. Nein, man braucht für eine Handlungspädagogik ortstreue langjährige Arbeitsströme.
Landbaupädagogik
Wie schwer es ist, wirkliche Werkstätten in eine Schule zu integrieren, zeigt der Kasseler Versuch, in die Oberstufe der Waldorfschule reale Lehr- und Produktionswerkstätten zu integrieren. Bis heute haben viele Beteiligte und die Öffentlichkeit den allgemeinbildenden, persönlichkeitsbildenden und willensbildenden Wirkungszusammenhang von Handwerk und Berufsausbildung in der Jugendphase des Menschen nicht verstanden. Sonst wäre dieser Versuch ein Hit! Das ist er aber nicht. Er stört eher den geraden Weg zum Abitur. Dabei profitiert jedes Studium von der tiefen handwerklichen Kenntnis, wie Materie verwandelt wird. Es gibt Hochschulen für Betriebswirtschaft auf einem Bauernhof, den die Studenten betreiben. Das ist ein Renner; man reißt sich um die Absolventen – die Bildungsstätte befindet sich in den USA. Die Installation von vier vollständigen, anerkannten Berufsausbildungen für die Oberstufe in Kassel war ein Kraftakt. Ihre Erhaltung und Pflege ist es bis heute nicht weniger.
Man kann aber kleiner anfangen. Man kann die Schule, eine Klasse oder gar nur einige Schüler an einen realen Arbeitsstrom und Arbeitszusammenhang anbinden. Ich meine keine Praktika und Projekte. Ich meine die Anlage zur Dauer und Treue und nicht zur exemplarischen Feldmessfahrt, um die Trigonometrie vom Tode zu erwecken. Das ist besser als nichts, aber es sind Alibiaktionen – sie täuschen Lebensnähe vor.
Für eine Zukunft der Schule als künstlerisch praktisches Unternehmen und für den Bauernhof als lernende Gemeinschaft wäre es nahe liegend, die beiden spirituell inspirierten Kulturbewegungen für eine Lern- und Erdkultur der Zukunft (Waldorfschule und biologisch-dynamischer Landbau) enger aufeinander zu beziehen. Dass das fast von alleine angebahnt wird, zeigen Orte, an denen der ökologische Landbau als gemeinwesentragender und -getragener Impuls betrieben wird. Diese CSA (Community Supported Agriculture)-Höfe, die jede Woche Hunderten von »Mitarbeitern« und »Mitfinanzierern« ihre für ein Jahr vorfinanzierten Lebensmittelanteile aushändigen, sind für die Kinder, die dorthin selbstverständlich mitkommen wollen, ein solcher Anregungsimpuls.
Warum soll man da nicht einen Kindergarten gleich auf dem Hof einrichten, wo so viele Menschen sichtbar und offensichtlich für das Wohlergehen eben dieser Kinder und deren Eltern arbeiten? Und natürlich ist durch die Vorfinanzierung der Lebensmittelproduktion ein sozialer Raum geschaffen, in dem der Landwirt ohne den wirtschaftlichen Erfolgsdruck der jeweils geltenden Marktlage arbeiten kann. Er arbeitet dann hauptsächlich für die Qualität der Lebensmittel und nicht für deren Zahl, Gewicht und Preis. Der unter egoistischem Erfolgsdruck operierende Markt ist ja ein Hauptgrund für die Verwüstung der Erde und die lautstarke tägliche »alternativlose« Verkündigung dieses Marktes übertönt jeden Ruf der Erde. Vollständige Hoforganismen wird man nur noch schaffen oder erhalten können, wenn man sie vom Markt nimmt. Sonst machen immer billigere Importe den regionalen Absatz von Bioprodukten unmöglich.
Es ist eine zentrale gegenwärtige Bildungsaufgabe, diese Zusammenhänge in der Schule und im wirklichen Leben zu studieren und tatsächlich zu üben! Und dann kann man die Kinder dieser Kindergärten weiter mit den Aufgaben auf einem Hof in Verbindung halten. Sie kennen ihren Hof, sie schätzen den Wert der dort geschaffenen Orte und Produkte. Sie wissen, was wo getan wird. Sie können andere Kinder dabei an die Hand nehmen, diese Orte zu erkunden. Nach mehreren Jahren gibt es Jugendliche, die als Vermittler von Fähigkeiten lehren und lernen. So wächst eine lernende Gemeinschaft. Eine unvorbereitete Klasse mit 35 Kindern erstmals auf einem Hof hat ein großes Störpotenzial oder sogar Zerstörungskräfte.
Auch unvorbereitete Erwachsene begegnen Tieren oft mit Angst oder Übergriffigkeit. So, als erlebnispädogogischen Event, kann und darf man das nicht weitermachen, denn das verfehlt, die Arbeit als Willensstrom zu erkennen und einen Erkenntnisbegriff zu schaffen, der größere Zusammenhänge in »Wirklichkeit« und »Wirksamkeit« erschließt!
Man kann deshalb nicht auf irgendeinen Hof gehen. Wenn dort keine Idee von der Erziehung der Erde, der Pflanzen und Tiere lebt, ist das kein pädagogischer Ort. Der pädagogische Wille muss der Erde und der Welt zugewandt sein, dann entsteht dort ein Sog für lernbegierige Menschen. Eine zukunftsweisende Willenserziehung gelingt nur im Sog und misslingt unter Druck.
Fortbildungshinweis: Eine Fortbildung für Handlungspädagogik ist in Vorbereitung. Dauer: zwei Jahre (an 12 Wochenenden).
E-Mail: hofhauser@web.de
Zum Autor: Dr. Manfred Schulze arbeitet als Erzieher und Landwirt. Als Erziehungswissenschaftler und Mitbegründer der »Arbeitsgemeinschaft Handlungspädagogik« arbeitet er an der Zusammenführung von Pädagogen und Landwirten zur gegenseitigen Befruchtung von praktischer Pädagogik und bäuerlicher Landwirtschaft.
Literatur: T. Hartkemeyer, P. Guttenhöfer, M. Schulze (Hrsg.): Das pflügende Klassenzimmer, München 2014