Das schönste Instrument. Wer im Kindergarten singt, fördert alle Sinne
Menschen, die singen werden bewundert. Singen ist ein Mittel, um Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Popstars werden gefeiert, Operndiven bejubelt. Viele lassen sich den ganzen Tag mit populärer Musik berieseln, die vom Gesang lebt, aber nur wenige trauen sich, noch selbst zu singen. In den Familien wird immer weniger gesungen. Die Wurzeln für das positive Verhältnis zur eigenen Singstimme liegen in der frühen Kindheit, in der Kindergartenzeit. Eine Musikpädagogin und eine Waldorferzieherin schreiben über die Bedeutung des Singens für Kindergartenkinder.
Wenn morgens die Kinder in den Kindergarten kommen, wo schon gesungen wird, sind sie gleich in ein gemeinsames Singen und Tun hinein genommen.
Wer singt, setzt alles im Körper in Bewegung. Die ganze Person (per-sonare: durchklingen) ist durch die Stimme charakterisiert und geprägt. Unser Körper ist das Instrument beim Singen, wir singen vom Scheitel bis zur Sohle. Die Stimme, das Instrument, das wir immer bei uns haben, ermöglicht uns dieses Ganzheitserlebnis. In ihr drückt sich die Seele aus; sie ist individuell und unverwechselbar. Diesen Schatz, der uns das ganze Leben über begleitet, gilt es zum Klingen zu bringen. Jedes Kind singt gerne, probiert seine Stimme aus und trällert, während es malt, bastelt, hüpft und spielt. Bevor ein Kind aber selber ganze Lieder singt, muss es förmlich in Liedern und Sprache gebadet haben.
Im Kindergartenalltag gelingt dies am natürlichsten, wenn die Erzieherin mit den Kindern und für sie singt. Singen ist kein Programmpunkt, sondern begleitet alle Tätigkeiten. Ein großes Repertoire an immer gleichen Liedern begleitet die sich wöchentlich wiederholenden Tätigkeiten wie Malen, Wachskneten und Backen. Wichtig ist, dass wir »nebenher« tätig sind. Durch das Singen gehen uns die Tätigkeiten leichter von der Hand. Es gibt unzählige Gelegenheiten, im Kindergarten zu singen. Es sind die Feste, beginnend mit den Geburtstagen. Bereits morgens wird das Geburtstagskind mit einem Lied begrüßt. Alle Kinder wissen sofort, welch besonderer Tag heute ist. So führen wir die Jahreszeiten unserer christlichen Tradition entsprechend mit Liedern ein, was sie für die Kinder emotional erlebbar macht. Auch hören wir die Weihnachtsgeschichte immer wieder durch die Lieder und verinnerlichen sie zunehmend. Oder wir singen Erntelieder und bereiten uns so auf das Erntedankfest vor, der Herbst bekommt seinen eigenen Klang. Und singen wir während des Dreschens, verbindet sich unser Tun mit dem Rhythmus des Liedes.
Das Vorschulalter ist für die Entwicklung der Musikalität entscheidend
Musik ist an Emotionen gebunden. Deshalb ist es wichtig, dass wir die richtige »Stimmung« haben, uns ein-stimmen, mit unserer Stimme Gefühl transportieren. Wenn mich ein Lied anspricht und ich es gerne singe, springt der Funke auch auf die Kinder über. Meine Freude an einem Lied weckt die Begeisterung bei den Kindern. Wenn uns eine Melodie gefällt, ein Rhythmus mitreißt, singen und bewegen wir uns gerne mit. Den Kindern geht es genauso. Diese Freude am Singen gilt es bei in ihnen zu erhalten und zu fördern. Alle Kinder singen gerne – auch die, die es noch nicht so gut können –, wenn es lustvoll geschieht. Singen ist ein elementares Grundbedürfnis, eine elementare Ausdrucksmöglichkeit für Körper, Seele und Geist. Wenn wir singen, öffnen wir uns ganz. Das tun wir, wenn wir uns wohl und angenommen fühlen. Das gemeinsame Singen von Liedern ist Ausdruck dieses Wohlfühlens. Jede Kritik an der Stimme wird leicht als Ablehnung der ganzen Person verstanden: sie ist unangebracht und sinnlos. Solche Kritik führt dazu, dass Menschen sich nicht mehr zu singen getrauen. Viel wichtiger ist es die Freude, die Lust beim Singen zu stärken. Wenn die Bezugspersonen gerne singen, werden auch die Kinder begeistert singen.
Die Stimme ist ein Erziehungsmittel
Zentral ist dabei die Stimme der Erzieherin. Intonationssicherheit, also das Treffen der »richtigen« Töne ist dabei nicht so wesentlich. Viel wichtiger ist, dass mit den Kindern in der richtigen Stimmlage gesungen wird – und mit Freude. Die Stimme der Kinder ist – wie der ganze Körper – im Wachstum. Die Stimmbänder sind noch kürzer, klingen also höher. Wollen wir den organischen Gegebenheiten Rechnung tragen, müssen wir im Ton- und Stimmumfang der Kinder bleiben. Der liegt bei Kindergartenkindern zwischen f1 und e2. Bis zur Pubertät wächst der Stimmumfang. Wird in der Familie, der Schule, im Freundeskreis gesungen, entwickeln sich die Stimmen der Kinder unbemerkt. Durch die Übung wird ihre Stimme kräftiger, ausdauernder und schöner. Der bis zur Pubertät kontinuierlich wachsende Stimmumfang und die natürliche Sing-fähigkeit entwickeln sich in einem singenden Umfeld unbemerkt, und die Kinderstimme gewinnt durch regelmäßige Übung an Kraft, Ausdauer und Klangschönheit. Jedes Kind verfügt in den ersten Lebensjahren über ein großes musikalisches Potenzial. Es hängt von der Unterstützung und Begleitung durch seine Bezugspersonen ab, wie weit diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Lieder haben im Kindergarten aber auch eine Signalwirkung. Wenn ein bestimmtes Lied ertönt, wissen die Kinder, was als nächstes geschieht. Beginnt die Erzieherin »Backe, backe Kuchen« zu singen, dann holen die Ersten von alleine ihre Schürzen. Sie sind eingestimmt und vorbereitet. Manche Ansage fällt weg, wenn wir ein einfaches Lied zu singen beginnen.
Viele fleißige Hände, schaffen jetzt ein Ende,
alles, alles geht nun schlafen,
Schifflein fahren in den Hafen.
Aufräumen, aufräumen.
Singen macht sozial
Durch das regelmäßige Wiederholen der gleichen Lieder wird auch die Artikulationsgeschicklichkeit der Kinder geschult. Das Zusammenspiel der Atmung, Stimmgebung, Zungen-, Lippen-, Kieferbewegungen wird verfeinert. Zusätzlich bedarf es des Gehörs. Wir müssen die Töne um uns herum wahrnehmen und müssen aufmerksam zuhören, damit wir mitsingen können. Um die gleiche Tonhöhe selber mit unserer Stimme »treffen« zu können, braucht es viel Übung, im Sozialen wie im Musikalischen. Es entwickelt sich aus dem Nebeneinander beim Singen, Bewegen und Spielen ein gemeinsames Tun, ein Miteinander – ein wichtiger Reifungsschritt im sozialen Erleben. Die Erzieherin und die großen Kinder singen für die Kleinen, die im nächsten Jahr die Lieder bereits gut kennen und je nach Entwicklungsstand des Kindes früher oder später mitsingen. Das gemeinsame Singen ist für alle Kinder ansprechend, so dass sie selbstverständlich mitsingen – ganz gleich, ob sie den vollständigen Text beherrschen oder nur die Melodie oder ob sie nur kurze Sequenzen mitsummen.
Das Sprechen wird aus dem Singen geboren
Das Erste, was von der Sprache gelernt und verstanden wird, ist die Sprachmelodie, die Prosodie, der Sprechrhythmus – Sprechtempo, Akzente und Betonungen – erst danach die Wortbedeutungen und der Satzbau. Aus richtig gebauten Sätzen lernt das Kind die sprachlichen Regeln. Das heißt, die Texte der einfachen Kinderlieder und Kinderreime liefern als häufig wiederholte Beispielsätze eine wesentliche Grundlage der heute so viel geforderten Sprachkompetenz.
Mit Inbrunst und größter Überzeugung singen die Kinder manchmal nur klanglich ähnliche Laute oder Wörter, »und oben singt Josef den Engelein vor«, statt »und oben singt jubelnd der Engelein Chor«. Oder »Hallo Julia« statt »Halleluja«. Sie kommen mit zunehmend regelmäßiger Übung sowohl der Melodie, als auch dem Text immer näher, und ihr Wortschatz erweitert sich deutlich durch Lieder, Reime und feststehende Sprüche.
Wenn wir »Wer will fleißige Handwerker sehn« singen, lernt das Kind nicht nur einiges über die verschiedenen Handwerke (Wortschatz), sondern auch Syntax (Satzbau), Artikulation und Rhythmus. Im neuen Orientierungsplan der Kindergärten Baden-Württembergs hat das Singen und Musizieren deshalb wieder einen größeren Stellenwert bekommen. Im Musikprojekt »Singende Kindergärten« von dm-drogerie markt haben wir gesehen, dass die Kinder sehr gerne singen, oft aber den Erzieherinnen der Mut und die Selbstverständlichkeit des regelmäßigen Singens fehlte. Hier setzte die Schulung der Erzieherinnen an. Wir Musikpädagogen konnten durch praktische Hilfe vor Ort mit den Erzieherinnen weitere Möglichkeiten erarbeiten, um das Singen in den regelmäßigen Tagesablauf zu integrieren.
Es bleibt zu wünschen, dass durch dieses Engagement das Singen in den Kindergärten wieder die Bedeutung erlangt, die ihm zukommt.
Zu den Autorinnen:
Annette Mangold Waizenegger: Logopädin, Sängerin, Kinderchorleiterin, Fortbildungstätigkeit für Erzieherinnen, Mutter von zwei Kindern.
Karin Bierich-Schopmeyer: Waldorferzieherin am Kräherwald in Stuttgart, Mutter von drei Kindern.
Marina Krüger, Preetz, 02.10.12 05:10
Ein gelungener Beitrag! Mit meinen Tageskindern funktioniert das Vor- sich- Hinsingen und -Summen genauso. Es gehört ja selbstverständlich in unseren Alttag. Das kann ich bestätigen, da in allen vier Familien zur Zeit zu Hause eben nicht gesungen wird!
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