Das Unerwartete erwarten. Wie sich ein Klassenlehrer auf seinen Unterricht vorbereitet

Henning Kullak-Ublick

Die Geschichte vom Bukephalos

Bei der Vorbereitung sammelt man als Lehrer zunächst einmal jede Menge Material. Diese gleichermaßen mühsame wie spannende Suche wird durch die heute oft ziemlich guten Schulbücher so vereinfacht, dass die Versuchung groß ist, diese als Hauptinformationsquelle zu nutzen. Das ist praktisch, aber nicht gut, denn die Entdeckungsreise in unbekanntes Terrain ist ein wichtiger Teil der Vorbereitung.

An der Waldorfschule müssen sich Klassenlehrer für jede Epoche in relativ kurzer Zeit viel Wissen aneignen, um mit ihrer Klasse weitergehen zu können. Abwechselnd geht es um Geografie oder Biologie, Geschichte oder Algebra, Chemie oder Physik, Deutsch, Hausbau oder Landwirtschaft. Diese Vielfalt zwingt, beispielhaft vorzugehen und aus lauter möglichen Wegen den einen herauszufinden, der für diese Klasse, ihre Fragen und ihren Entwicklungsstand am besten geeignet ist.

Ein entscheidender Schritt ist dabei, die Fülle des Stoffes zu starken, charakteristischen Bildern zu verdichten und diese in der eigenen Phantasie so auszugestalten, dass sie lebendig atmen und zu sprechen beginnen. Wird beispielsweise in der griechischen Geschichte Alexander behandelt, stellt sich die Frage, welche Ereignisse seines Lebens geeignet sind, einen satten Eindruck dieses Helden zu vermitteln, der trotz seines kurzen Lebens bis heute »der Große« genannt wird.

Eine Geschichte, die Klassenlehrer gerne erzählen, ist die seines Pferdes Bukephalos: Alexanders Vater Philipp II. wurde ein prächtiger Hengst zum Kauf angeboten. Aber immer, wenn sich ihm ein Reiter näherte, scheute er, stieg und schlug aus. Philipp wandte sich schon verärgert ab, als sein zwölfjähriger Sohn nach vorne drängte und sagte, er könne das Pferd zähmen. Alexander nahm es beim Zügel, drehte es um, saß auf und galoppierte unter dem Jubel der Zuschauer davon. Er hatte beobachtet, dass das Pferd vor den Schatten der Reiter zurückgeschreckt war und stellte es so zur Sonne, dass es keine Schatten mehr sah. Philipp kaufte das Pferd und sprach die berühmten Worte: »Sohn, suche dir dein eigenes Königreich, denn Makedonien ist zu klein für dich!« Alexander ritt Bukephalos von diesem Tag an und es trug ihn später auf seinem großen Zug in den Osten. Als das Pferd mit dreißig Jahren ertrank, errichtete er ihm zu Ehren die Stadt Alexandreia Bukephalos, heute Jhelam im pakistanischen Punjab.

Es genügt nicht, eine solche Geschichte einfach vorzulesen; man muss sich die Szene so farbig und lebendig vorgestellt haben, dass all das beim Erzählen zum Erlebnis wird: mit Gerüchen, Geräuschen, der Hitze, der blendenden Sonne, den Gesichtern der Beteiligten.

Anfangs hilft es, das laut zu üben, später geht es auch in Gedanken, vielleicht sogar für ein bestimmtes Kind. Dieser Vorgang ist eine imaginative Übung, weil das Bild durchsichtig, transparent wird für Zusammenhänge, die über die konkrete Situation hinausreichen. Im Beispiel sind das die Beobachtungsgabe, die Intelligenz und der unbedingte Wille Alexanders, die in den Worten seines Vaters noch einmal angesprochen werden.

Schlafend vom Bild zum Begriff

Dann kommt der Schlaf, der seinen Mantel des Vergessens über alle unsere Vorstellungen ausbreitet. Aber in der Nacht passiert etwas – bei uns wie bei den Kindern. Neurowissenschaftler sprechen davon, dass die Erfahrungen des Tages im Schlaf verarbeitet werden: Das erinnerbare Wissen wird im »deklarativen« Gedächtnis verankert, während in anderen Schlafphasen die Summe der Erfahrungen im »prozeduralen« Gedächtnis zu Fähigkeiten umgearbeitet wird. Wenn die Kinder morgens wieder in die Schule kommen, haben sich ihre Erlebnisse vom Vortag durch den Schlaf etwas verändert – vorausgesetzt, sie waren interessant genug, um im Schlaf beachtet zu werden.

Nun gibt es hier eine weitere interessante Beobachtung: Je intensiver ich als Lehrer am Vorabend in die Gestaltung eines Bildes eingetaucht bin, desto weniger klebe ich am nächsten Morgen an meinem Unterrichtsplan, am »Stoff« oder sogar an dem Bild selbst. Vielmehr passiert etwas ganz anderes: Ich werde neugierig auf das, was die Kinder mit Bezug auf das am Vortag Gelernte aus ihrem Nach(t)erleben mitbringen. Indem ich hören lerne, was sie erzählen oder welche unausgesprochenen Fragen in ihnen nachklingen, inspirieren sie mich, nicht einfach mit dem Stoff weiterzumachen, sondern mit ihnen die Zusammenhänge zu erkunden und daraus lebendige Begriffe zu gewinnen, die später weiter wachsen können. Dieses Hören ist ein Resonanzphänomen, das jeder Lehrer kennt: Plötzlich bekommt der Inhalt, den wir bearbeiten, eine Tiefe, eine Farbe oder eine neue Dimension, die weit über das hinausgeht, was ich geplant hatte oder was der Lehrplan verlangt. In dem Raum, der sich durch die gesteigerte Aufmerksamkeit für das Wie der Erinnerungen der Schüler bildet, wird Intuition möglich oder, um es mit einem gebräuchlicheren Begriff zu sagen: Das Lernen wird für alle zu einer Erfahrung der Geistes­gegenwart, aus dem die Sicherheit erwächst: Ich kann die Welt wirklich verstehen!

Der Epochenunterricht bietet wunderbare Möglichkeiten für diese Art des Lernens und Unterrichtens, denn die Kinder gehen schon mit der Erwartung ins Bett, dass es am nächsten Morgen weitergeht. Wenn sie sich mit einer gewissen Spannung darauf freuen können, verbinden sie sich viel intensiver mit den Inhalten, als es durch die kognitive Wissensakkumulation allein möglich wäre. In einem größeren Bogen wiederholt sich dieses »Vergessen« zwischen den Epochen und das Erinnern, wenn der Faden wieder aufgenommen wird. Es gehört zu den erstaunlichen Erfahrungen, dass eine Klasse zu Beginn einer neuen Epoche, etwa beim Rechnen, oft mehr Können aus der Erinnerung hervorkramt, als sie am Ende der letzten Rechenepoche zur Verfügung hatte. Der an Waldorfschulen geübte methodische Kunstgriff, von den bildhaften, an die Phantasie der Kinder appellierenden Geschichten, von einem Experiment oder von einer anderen aktiven Wahrnehmung zunächst zum wiederholenden Beschreiben, Zeichnen oder Gestalten überzugehen und dann erst, nach einem Nachtschlaf, mit der begrifflichen Auseinandersetzung zu beginnen, schafft den Raum für die beschriebene Vertiefung.

Stufen der Meditation

Die Vorbereitung geht von der Materialsammlung zur Bildgestaltung und von dort zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die Fragen und Gedanken, die am nächsten Morgen von den Kindern kommen. Dadurch kann eine Atmosphäre entstehen, in der das Unerwartete geschieht – Geistesgegenwart. Dieser Dreischritt führt zu einer qualitativen Steigerung der Erkenntnisbildung und nicht zu einer unbestimmten Gefühlsduselei. Diese methodischen Stufen kann man sich allerdings nicht schnell mal eben aneignen. Sie sind ein Übungsweg, der den Vorteil hat, dass es zwar auch auf das Ergebnis, vor allem aber auf das Üben selbst ankommt. Und das beginnt beim ersten Versuch. Der Weg vom Stoff über das Bild zum »Hören« bis zur Geistesgegenwart entspricht den Stufen höherer Erkenntnis, die Rudolf Steiner mit den Worten Imagination, Inspiration und Intuition bezeichnet hat und von denen er sagte, sie seien als Anlage in jedem Menschen vorhanden, wenn es auch besonderer Aufmerksamkeit bedürfe, sie gezielt zu entwickeln. Gleichwohl liegen diese drei Erkenntnisstufen viel näher, als man vielleicht zunächst vermuten würde.

Die Bedeutung des Wortes Imagination ergibt sich bereits aus dem Vorbereitungsweg, bei dem es darum geht, lebendige Bilder zu finden, die geeignet sind, etwas von der geistigen Substanz der Dinge zu erahnen. In einem meditativen Kontext kann das ein Sinnen über die Beziehung von Weisheit und Liebe zu Licht und Wärme sein oder die Versenkung in das Bild einer Rose als Sinnbild für eine auf dornigem Pfad errungene Reinheit. Tiefer im Fühlen verankert ist die Inspiration, von der die gesteigerte Aufmerksamkeit für die unausgesprochenen Fragen der Kinder eine Vorstufe ist. Sie geht über die Imagination hinaus. Wenn ich merke, was die Kinder an den Bildern erleben oder erlebt haben, fühle ich nicht mehr (nur) mich selbst, sondern die Welt, die durch die Kinder zu mir spricht. Das Gefühl läutert sich zum Wahrnehmungsorgan.

Bei der Intuition, deren Vorstufe die Erfahrung der Geistesgegenwart ist, wird die für unser alltägliches Bewusstsein notwendige und übliche Subjekt-Objekt-Trennung aufge­hoben, Erkennen und Erkanntes stehen sich nicht mehr gegenüber. Viele Mystiker beschreiben das. Dostojewski sagte lapidar: »Liebe macht sehend« – Steiner übrigens auch. In einem religiösen Kontext entspricht dem die Kommunion, worauf Rudolf Steiner in seiner »Philosophie der Freiheit« mit den Worten Bezug nimmt: »Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.« Fasst man die Stufen der Meditation zusammen, so geht der Weg zuerst zu einem bewusst aufgebauten Bild, in das sich der Meditierende vertieft. Gelingt es ihm, dieses Bild innerlich zu fühlen und diesen Gefühlen sukzessive mehr Aufmerksamkeit als dem Bild zuzuwenden, kann daraus schließlich das Erfahren der wesenhaften Realität der geistigen Welt werden. Was wir normalerweise nur punktuell, in der Kunst oder in der Begegnung mit einem geliebten Menschen erleben, erweitert sich zur Welterkenntnis.

Fusionsreaktor oder Stern der Liebe

Eines Morgens kam ein Viertklässler zu mir und sagte, indem er mich herausfordernd ansah: »Die Sonne ist ein Fusionsreaktor!« Am Vortag hatte ich den staunenden Kindern erzählt, wie die Walfänger und Jamaika-Segler früher mit Hilfe der Sterne zurück in ihren heimatlichen Hafen fanden. Als er seinem Vater davon erzählte, zeigte der ihm einen populärwissenschaftlichen Astronomiefilm. Nun ist die Definition der Sonne als Fusionsreaktor für ein zehnjähriges Kind eine mechanistische Reduktion, die nicht nur phantasietötend wirkt, sondern es auch intellektuell überfordert: Als ich ihn fragte, was denn ein Fusionsreaktor sei, erfuhr ich, dass da kleine Krümel zusammenbacken. So viel zum Wirklichkeitscharakter des Modells … Was also tun? Ich wollte weder das Modell negieren, noch an der Autorität seines Vaters rütteln. Aber es war deutlich zu spüren, wie der Junge hoffte, dass ich ihm aus einer existenziellen Patsche half. Bis gestern war die Sonne noch ein großes Wesen, jetzt wurde sie ein Mechanismus. Also suchte ich ein Bild, das alles das umfasste, und zwar schnell, denn das Gespräch fand jetzt statt. Also fragte ich ihn, wo er merkt, dass er jemanden lieb hat. Er zeigte auf sein Herz. Wir sprachen darüber, wie es uns warm ums Herz wird, wenn wir jemanden lieb haben. Schließlich fuhr ich fort: »Die Sonne hat so viel Liebe, dass ihr Licht und ihre Wärme für alle Tiere, Blumen, Fische, Vögel und für alle Menschen reichen. Und immer, wenn ein Mensch jemanden lieb hat und gut zu ihm ist, holt er ein kleines bisschen davon auf die Erde, bis sie einmal selbst zu einem Stern geworden sein wird.« Eine solche kleine Imagination kann wachsen, ohne im Widerspruch zu Erklärungs­modellen zu stehen, die das später erwachende analytische Denken erfassen kann.

Freiheit wird heute oft mit der Fähigkeit verwechselt, Distanz zu wahren. Das ist aber nur die Vorbedingung zu einer tieferen Freiheit, die aus eigenem Entschluss neue Verbindung schafft. Damit die Kinder vom bereits vorhandenen, fertigen Wissen der Erwachsenen ihren eigenen Weg zum Begreifen gehen können, brauchen sie Bilder als Anregungen zum Selberdenken. Freiheit ist ein Balanceakt zwischen Willkür und Beliebigkeit, mit denen sie allzugerne verwechselt wird. Eine Pädagogik, die sich der Freiheit verschrieben hat, tut gut daran, das Balancieren zu üben, weil die Fähigkeit, im Vorwärtsschreiten stets neu das Gleichgewicht zu finden, nicht nur die Grundlage jeder guten Pädagogik, sondern auch jeder Lebenskunst ist.

Und genau diese Kunst ist es, die uns vor der Erstarrung oder Verflüchtigung bewahrt – sowohl in der Schule als auch im Leben.

Zum Autor: Henning Kullak-Ublick ist Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und leitet dessen Öffentlichkeitsarbeit in Hamburg. Er war 27 Jahre Klassenlehrer in Flensburg und vertritt die deutschen Waldorfschulen in der Internationalen Konferenz (Haager Kreis). 2014 erschien sein Buch »Jedes Kind ein Könner«.