»Das Wahre ist eine Fackel; aber eine ungeheure«. Motive aus der Kernzone des Jugendalters

Andre Bartoniczek

Wie war es, als 2003 die amerikanische Regierung unbezweifelbare Beweise für die Herstellung von Massenvernichtungswaffen im Irak vorlegte, um den vernichtenden Einmarsch in das feindliche Land zu legitimieren, und sich später herausstellte, dass jene Beweise sämtlich gefälscht waren? Was bewegt heute die jugendlichen Freitags-Demonstranten, wenn sie die Versprechungen der Politikerinnen und Politiker hören und zugleich erfahren, was sie dann faktisch unternehmen? Oder im viel kleineren Maßstab: Was bedeutet es für einen Schüler, wenn ihn ein Lehrer einer Tat bezichtigt, die er gar nicht begangen hat, der Lehrer aber trotz Gegenbeweisen auf seiner Meinung beharrt? Was nimmt eine Schülerin mit ins Leben, wenn ein Kollegium sie ihres Klassenbuchdienstes enthebt, weil sie begonnen hat, auch die zu spät kommenden Lehrer einzutragen?

Wer solche Situationen erlebt hat, weiß, wie sie sich persönlich auswirken, kennt den Schmerz der Enttäuschung, der Verletzung und Verunsicherung, der in diesem Moment auftritt, aber auch die Empörung und Wut darüber. Wahrheit ist keine neutrale Angelegenheit unverbindlicher Überlegungen, sondern sie betrifft geradezu medizinisch unsere Lebensgrundlage. Lügen können zerstörerisch sein, das Erleben der Wahrheit aber erlösend, kräftigend und aufbauend. Der tschechische Schriftsteller und Bürgerrechtler Václav Havel, der für seine Überzeugung immer wieder ins Gefängnis ging und nach der »samtenen Revolution« Präsident seines Landes wurde, hat über den Versuch, in der Wahrheit zu leben – so der Titel seines Essays von 1978 – gesagt, er führe »den Menschen auf den festen Grund seiner eigenen Identität«. Das ist ein Satz für junge Menschen: 

Sie kommen auf diese Erde und möchten in dieser unbekannten, neu zu entdeckenden Welt ihre Identität finden. Das gelingt aber nur, wenn diese Welt sinnvoll erscheint, verstehbar ist und Vertrauen in ihre »Stimmigkeit« rechtfertigt. Wenn ein Jugendlicher aber erleben muss, dass die Realität, auf die er trifft, sich plötzlich als Täuschung entpuppt und er sich nicht auf sie verlassen kann, wird er es schwer haben, sich auf diesem Planeten zu beheimaten. Entwürdigungserlebnisse, Ohnmacht, Sinnlosigkeitserfahrungen bis hin zum Hass auf eine feindliche, zerstörerische Welt treten an die Stelle der Freude, Mensch zu sein.

»Alternative Fakten« wurde 2017 zum »Unwort des Jahres« gekürt und die Fälle, die diese Wahl rechtfertigen, sind unüberschaubar geworden. Die Folgen permanenter Verdrehung von Tatsachen sind nachhaltig – vor allem, weil wir uns an sie gewöhnen und sie immer weniger bemerken. Von der Pflanze bis zum Menschen wird bald alles künstlich nachgebaut, Gen-, Nano- und Computertechnologie täuschen Leben vor, das keines ist – man wird bald kaum mehr wissen, was »wirklich« ist. Man will es auch gar nicht mehr wissen: Schon vor Jahrzehnten hat sich philosophisch die Auffassung durchgesetzt, die Wahrheit oder Wirklichkeit sei eine Erfindung: Das Subjekt erschaffe seine eigene Welt, nach deren Stimmigkeit gar nicht gefragt werden könne, weil sie eine objektive Realität voraussetze, die es aber nicht gebe. Nach einer »Wahrheit« zu fragen, ist unwissenschaftlich und geradezu albern geworden – mit der Folge, dass gar kein Anspruch mehr erhoben werden kann, so etwas wie Wahrheit zu erkennen. Die zunächst rein theoretischen Positionen sind in das alltägliche Lebensgefühl unserer Zeit eingedrungen: Resignation tritt ein und es erlahmt der Drang, um Erkenntnis zu ringen. Es ist einfacher, zu betonen, jeder habe halt seine eigene Sicht, als die Anstrengung der inhaltlichen Auseinandersetzung auf sich zu nehmen und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Die ratlose Frage des Pontius Pilatus ist ungeheuer modern: »Was ist Wahrheit?«

Zusammenhänge selber denken

Vor diesem Hintergrund lässt sich erahnen, welche Bedeutung dem pädagogischen Umgang mit der Frage nach der Wahrheit zukommt. Es wird eine der wichtigsten Aufgaben der Schulen werden, Jugendlichen die Erfahrung zu ermöglichen, dass es diese Wirklichkeit einer geistigen, sinnhaften Welt gibt und dass sie selber in ihrem Denken diese Welt erkennen können und ihre eigenen geistigen Ideale und biographischen Intentionen keine belächelnswerten Seifenblasen, sondern Realitäten sind. Wenn im Jugendalter zunehmend die individuelle Persönlichkeit der Schüler erwacht, wird immer mehr das Bedürfnis entstehen, sich durch eigene Fragen und Erkenntnisse Urteile über die Welt zu bilden und sich ihrer Wahrheit zu versichern. Stammt der Mensch vom Affen ab? Was ist Atomismus? Wie kann ich die Ereignisse der Gegenwart verstehen? Was ist Zeit? Die Antworten müssen die Schüler selbst finden. Der Unterricht nimmt sie mit hinein in die Erscheinungen der Welt und regt sie zu eigenständiger Reflexion darüber an. 

Dabei geht es nicht nur um inhaltliches Wissen: »Fake« und Realität zu unterscheiden wird immer anspruchsvoller und fordert vom Menschen höchste Aktivität. Solange von den Schülern verlangt wird, passiv Informationen aufzunehmen und in ihren Vorstellungen abzuspiegeln, bleiben die Dinge beliebig und wesenlos, denn es fehlt der Gesichtspunkt, unter dem sie eine Bedeutung erlangen. Fakten kann man heute in kürzester Zeit nachschauen, ihren Zusammenhang muss man denken, und zwar selber. Dieses Denken muss geübt werden. Rudolf Steiner hat einmal in einem Bild ausgedrückt, was hier zu erlernen wäre. Wenn ein Mann tot unter einem Baum liegen würde und neben ihm eine Leiter am Baum stünde: Welcher Gedanke würde sich sofort einstellen? Er ist von der Leiter gestürzt und dadurch gestorben. So muss es aber gar nicht gewesen sein: Er kann auf der Leiter an einem Herzinfarkt gestorben und deshalb heruntergefallen sein. Auf diese zweite Variante kommen wir in der Regel nicht, weil unser Denken zu unbeweglich ist und sich häufig von Schablonen leiten lässt. 

Die Französische Revolution wird sehr oft aus der ökonomischen Situation Frankreichs erklärt – das Spätere wird wie bei umfallenden Dominosteinen aus dem Früheren hergeleitet. Kann man es nicht aber auch umdrehen, indem man sich fragt, ob nicht erst die Wahrnehmung einer zukünftigen freieren Welt den Protest gegen die ökonomischen Verhältnisse entfacht hat? Ist die Pubertät eine lästige, aber notwendige biologische Zwischenphase, die hoffentlich schnell wieder vergeht, oder ist sie der erfreuliche Ausdruck der Zukunft eines Menschen, den man jetzt erst kennen lernt?

Die Wahrheit will errungen sein

Wahrheit ist nicht ein zu erlernender Inhalt, sondern das Resultat einer höchst persönlichen Anstrengung. Von Gotthold Ephraim Lessing stammt die berühmte Formulierung: »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte.« In diesem Sinne beschäftigt sich der Geschichtsunterricht der 9. Klasse z.B. mit den Geschwistern Scholl, die keineswegs sofort Hitler-Gegner gewesen sind. Den Schülern wird abverlangt, sie zunächst als HJ-Anhänger wahrzunehmen, und nun muss das eigene Urteilen aktiv werden, sich von Denkgewohnheiten frei machen und verstehen lernen, wie so etwas sein konnte. In ihren eigenen Erkenntnis­anstrengungen vollziehen sie schließlich das Ringen nach, das die Scholls durchgemacht haben, als in ihnen allmählich das Gefühl erwachte, »als lebten wir in einem einst schönen und reinen Haus, in dessen Keller hinter verschlossenen Türen furchtbare, böse, unheimliche Dinge geschehen«. Erst die Auseinandersetzung mit der Lüge ermöglicht dem Menschen Freiheit – die Wahrheit ist nie als äußere Gegebenheit da. 

Im Literaturunterricht der 10. Klasse bewegt man sich unter Umständen in den Bildern von Horvaths Jugend ohne Gott und lernt den »Lehrer« kennen, der sich zu einem Geständnis durchringt, das ihn in eine katastrophale Situation bringt, zugleich aber die tragische Lage mehrerer Beteiligter auflöst und reinigt – sodass die Leser spüren können, welch befreiende Kraft die Wahrheit haben kann. In der 11. Klasse kann in Biologie eine gründliche Betrachtung der Zelle zu der Entdeckung führen, dass ihr Leben nicht ausschließlich von den genetischen Informationen der Chromosomen gesteuert wird, sondern dass Letztere selber von den Eiweißen (Enzymen) aus dem Zellplasma, das den Kern umgibt, reguliert werden – womit ein gegenüber dem eingeübten DNA-Denken geradezu diametral entgegengesetzter Blick auf das Verständnis von Leben entsteht.

Wenn realisiert wird, dass eine Pflanze unabhängig von meinem spontanen Wohlgefallen an dem einen augenblicklichen Exemplar, das im Winter abstirbt, im nächsten Jahr in einem anderen Exemplar mit den gleichen Entwicklungsabläufen wieder erscheint, erlebe ich die Gesetze der Natur, die über mir stehen und nicht meine Erfindung sind. An diese geistige Realität der Wahrheit muss Sokrates gedacht haben, als er vor den Athenern, die ihn zum Tod verurteilen wollten, entgegenrief: »Wenn ihr glaubt, dadurch, dass ihr Menschen tötet, auch die Wahrheit töten und verhindern zu können, so denkt ihr falsch.«

Die Erfahrung von Wahrheit ist ein Geschenk – das man aber vorbereiten kann: Zu der beschriebenen Kultur aktiver Erkenntnisprozesse gehört auch ein Unterricht, der Zeit für echte, Gedanken provozierende Gespräche und nicht nur für rhetorische Fragen hat, die korrekt zu beantworten sind. Das Gespräch zwischen teilnehmenden, denkenden, aneinander wachsenden Menschen ist ein Augenblick völliger Offenheit, in dem keine Antworten vorausgesetzt, sondern gesucht werden, in dem Fragen erst entstehen und das Ereignis unvermuteter, existenzieller Einsicht eintreten kann. Die schnelle Ergebnissicherung nach kurzem Pflichtaustausch lähmt die Gedanken und erzeugt starre Begriffe, die mit dem Leben wenig zu tun haben. 

Zugleich wird es noch viel stärker als bisher darum gehen, die Schule zu einem Ort von Sinneserlebnissen zu machen und in vielfältiger Weise für Situationen zu sorgen, in denen die Schüler die Chance erhalten, wahrzunehmen, ihre Sinne zu betätigen und auf Grundlage gesättigter Erlebnisse realitätshaltige Begriffe zu bilden. Vor allem aber brauchen junge Menschen Lehrer, die sie als authentisch erleben können und die den Mut haben, ihre pädagogischen Intentionen konsequent umzusetzen. Es sind die Schüler selbst, die wahrnehmen, ob es um Erkenntnisse oder Gedächtnisinhalte, um schöpferisches Tun oder Routine, um Ideale oder Phrasen geht – und letztlich um sie selbst oder um pädagogische Abstraktionen. Wenn es »echt« zugeht, dann lohnt es sich, mitzumachen. Was gibt es Begeisternderes, als sich mit Menschen, die ihre Existenz einsetzen für den »Versuch, in der Wahrheit zu leben« zusammen zu tun und an dem Projekt einer Schule der Zukunft zu bauen?

* Das Titelzitat stammt von J. W. v. Goethe aus »Maximen und Reflexionen«.*

Zum Autor: Andre Bartoniczek war Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an den Waldorfschulen in Weimar, Stuttgart-Uhlandshöhe und Mannheim und ist heute Dozent im Fernstudium für Waldorfpädagogik in Jena sowie an der Akademie für Waldorfpädagogik in Mannheim.

Literatur: K.-M. Dietz: Die Suche nach Wirklichkeit, Stuttgart 1988 | J. W. v. Goethe: Maximen und Reflexionen 291, in: Erich Trunz (Hrsg.), Goethes Werke, Bd. 12, München 1982 | G. E. Lessing: Über die Wahrheit, Kap. 1, 1777 | R. Steiner: Praktische Ausbildung des Denkens (GA 108). Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie, Dornach 1986 | I. Scholl: Die weiße Rose, Frankfurt/M. u. Hamburg 1959