Im Gespräch mit der Neurobiologin Gertraud Teuchert-Noodt.
Erziehungskunst | Ist das menschliche Gehirn auf die Digitalisierung vorbereitet?
Getraud Teuchert-Noodt | Ja, spätestens seit drei Jahrtausenden, nämlich seit die Phönizier das bis heute gültige Alphabet erfunden haben. Damit konnte – allerdings erst seit drei Jahrhunderten – die Beschulung des Kindes durch Schreiben, Lesen und Rechnen zum kulturtechnischen Erfolgsschlager werden. Die in einem definierten Zeitfenster reifenden sensomotorischen Felder des kindlichen Gehirns werden optimal angelegt. Erst die voll ausgereiften primären und sekundären Nervennetze in diesen Feldern des Kortex – der Hirnrinde – erlauben es dem Erwachsenen, in abstrakten Denkmustern kreativ tätig zu werden, eben auch mit digitalen Medien sinnvoll umzugehen und vielleicht selber auch Programme und Algorithmen zu schreiben.
Es ist ein Trugschluss, davon auszugehen, das moderne Kind könne den Umgang mit digitalen Medien – auf Grund des minimalen technischen Aufwandes – unmittelbar von den Erwachsenen übernehmen. Auf einen sinnvollen inhaltlichen Umgang mit diesen Medien wird sich nach Erkenntnisstand der Hirnforschung das kindliche Gehirn auch in den nächsten tausend Jahren nicht vorbereiten lassen! Denn damit der Mensch denken lernt, müssen Nervennetze erster und zweiter Ordnung in der kindlichen Hirnrinde über eine lange Zeit von innen gesteuert reifen. Digitale Medien beschleunigen die Reifung der Hirnrinde so stark, dass man von einer Notreifung sprechen kann, die irreversibel süchtig macht.
Wenn wir den Karren so weiter laufen lassen, wird das eine ganze Generation von Kindern in die Steinzeit zurückwerfen. Erstmals in der Menschheitsgeschichte wird uns die für Denkprozesse absolut notwendige neuronale Grundlage streitig gemacht.
EK | Gibt es Wege, mit der Digitalisierung vernünftig umzugehen?
GTN | Vernünftig mit digitalen Medien umgehen, verlangt dem Erwachsenen ab, einen bewussten Umgang mit möglichst wenig Medieneinsatz im privaten Leben und Totalverzicht auf Medien in digital befriedeten Freizeiten zu pflegen. Auf Kinder und Jugendliche bezogen bedeutet »vernünftig mit digitalen Medien umgehen« allerdings noch eine größere Herausforderung. Am vernünftigsten ist es, wenn Eltern ihre Kinder dazu bringen können, ganz und gar auf jegliche Elektronik zu verzichten und wenn digitale Medien aus Kitas und Grundschulen vollkommen verschwinden.
Zwei Gründe sind zu nennen: Gehirne von Kindern benötigen die körperlichen Bewegungen, um Erfahrungen in Raum und Zeit im Gehirn zu verankern. Das wird über das sehr früh reifende Gleichgewichtsorgan (Vestibularissystem) sowie die Muskel- und Sehnenspindeln des Bewegungsapparates vermittelt. Dabei werden die über unsere Lebenswelt gegebenen drei Raumebenen im Kleinhirn auf drei zugehörige Schaltebenen programmiert. Laufen, Klettern, Purzeln und Balancieren sind und bleiben die initialen Stimulanzien, ohne die sich Verschaltungen im Kleinhirn gar nicht normal ausbilden können. Je mehr sich Kinder bewegen, desto besser reift ihr Gehirn. Denn diese frühkindlichen Erfahrungen schlagen sich linear auch im Grad der Differenzierung von höheren nachgeschalteten motorischen Schaltkreisen nieder. Zusätzlich knüpfen Malen, Kneten und Basteln Netze in sensomotorischen Assoziationsfeldern des Kortex und präzisieren Verschaltungen. Auch das umtriebige Spielverhalten des Kindes gehört zur kognitiv-emotionalen Reifung und stimuliert komplexe Operationen wie Aufmerksamkeit, Urteilsfähigkeit und Sozialverhalten.
Wenn Künstliche-Intelligenz-Forscher meinen, all diese lebensnotwendigen Funktionen mit dem Geschenk eines Smartphones dem Kind in die Wiege legen zu können, dann schaffen sie sich mittelfristig gesehen selber ab.
Tückische Gefahren lauern zusätzlich für das Gehirn des Kindes auf der Ebene des limbischen Systems, das Emotionen und Triebe steuert. Stichwort Suchtgefahr: Landläufig geht man davon aus, dass die digitale Sucht als nicht-stoffliche Abhängigkeit etwas Anderes und vielleicht Harmloseres sei als Drogensucht. Das ist ein Irrtum! Beide Male werden an gleicher Stelle des limbischen Systems hirneigene Opiate im Übermaß ausgeschüttet, die einen sich selbst verstärkenden geschlossenen Schaltkreis – ein »Belohnungssystem« – physiologisch stabilisieren. Dadurch wird ein geradezu teuflischer Automatismus in Gang gesetzt. Für Kinder besteht keine Möglichkeit zur Selbstkontrolle, sie werden zu hilflosen Gefangenen ihrer selbst. Erst ab der Adoleszenz kann das fortschreitend reifende Stirnhirn mit dem limbischen Schaltkreis annähernd kontrolliert kooperieren und sinnbezogen mit Medien umgehen.
EK | Wie entsteht das menschliche Gehirn und was ist für die Reifung entscheidend?
GTN | Biologisch betrachtet, ist die ökologische Nische des Homo sapiens einer neu entstandenen hirneigenen Konstruktion zu verdanken, dem Stirnhirn. Es versetzt den Menschen in die allen anderen Lebewesen überlegene Lage, eine neue, bis dahin nicht vorhanden gewesene Welt in Raum und Zeit schöpferisch zu schaffen und sich in ihr einzurichten, Kulturen hervorzubringen und zu tradieren. An dieser raum-zeitlichen ökologischen Nische hing und hängt die Existenz des Menschen. Digitale Medien sind ein heimtückischer Anschlag auf unsere Lebensansprüche. Deswegen muss jedes Menschenkind sein Stirnhirn entwickeln und stärken, um eigene Lebensstrategien entfalten und den täglichen Anforderungen neu anpassen zu können.
Eine digitale Beschulung von Kindern wird nicht ohne Verlust der kognitiven Funktionsreifung vonstatten gehen. Die werdenden Funktionsleistungen des kindlichen Stirnhirns leiten sich nicht unmittelbar von einem genetischen Programm ab. Sie müssen ab der Geburt in die verfügbaren Nervennetze neu einstrukturiert werden. Dafür steht die für die menschliche Spezies einmalig lange Kindheits- und Jugendphase bereit. Man führe sich vor Augen, was es bedeutet, wenn Kinder und Jugendliche digital fremdgesteuert sind und mit wenig Empathie, ohne gesellschaftsbezogenes und historisches Bewusstsein aufwachsen. Wenn sie nicht Merkfähigkeit, Zahlen- und Gedankentraining einüben, sondern mit digitalen Hilfswerkzeugen umgehen und Clouds bespeichern, anstatt die Rindenfelder ihres Gehirns reichhaltig mit Erfahrungen anzufüllen.
Dem digital angeleinten Schulkind werden die Chancen genommen, den notwendigen Prozess der geistigen und emotionalen Abnabelung von der Mutter zu vollziehen und Selbstständigkeit zu entwickeln. Das wird zu psychischer Destabilisierung, innerem Freiheitsverlust, Ängsten und Aggressivität führen.
Überlässt man einem »virtuellen Assistenten« die mentalen Anstrengungen, verkümmern viele hirneigene Fähigkeiten, wie antizipatorische Leistungen im Berufsleben, Lust, Interesse und Phantasie. Digitale Medien überschleunigen automatisch die hirnphysiologischen Vorgänge, behindern die neuronale Sequenzbildung und die neurochemische Kommunikation zwischen den Zellgruppen, die der Übertragung von Erregungsmustern auf entfernt gelegene Nervennetze dienen. Kognitive Impotenz will sich doch keiner so gern auf die Stirn schreiben lassen. Dennoch bewegt sich die KI-Forschung Schritt für Schritt darauf zu, das Gehirn in digitalisierten Gesellschaften physiologisch einer nicht-invasiven Lobotomie auszusetzen und den Menschen – freiwillig (!) – zu entmündigen.
EK | Warum ist es so wichtig, dass Smartphones von Kleinkindern ferngehalten werden?
GTN | Benutzen Kleinkinder bereits Smartphones, Tablets oder ähnliche Geräte werden sie automatisch in eine Abhängigkeit hineingezogen. Das geschieht, ohne dass die Kinder es merken und schwächt das Belohnungssystem fürs Sprechen-, Schreiben- und Lesenlernen. Das Erlernen dieser Fähigkeiten kann in der späteren Entwicklung nur schwer nachgeholt werden, denn das Entwicklungsfenster ist geschlossen. Das Kleinkind ist von einem intrinsischen Dauerstress befallen.
Zwei Aspekte sind zusätzlich zu beachten: 1. Es ist kaum möglich, den Medienkonsum des Kindes längerfristig auf eine halbe Stunde pro Tag zu beschränken. Man weiß doch, dass ein tägliches kleinstes Alkoholgläschen ausreicht, um ein Kind zum Alkoholiker zu machen. 2. Das ganz und gar auf Nachahmung angelegte Gehirn des Kleinkindes ist insbesondere dann hochgradig gefährdet, wenn es bei den Eltern den ständigen Gebrauch digitaler Medien beobachtet. Eltern können nur dann wieder zum Vorbild werden und die Suchtgefahr ihres Kindes abwenden, wenn sie selber im Privatleben möglichst auf Smartphone und Co verzichten.
EK | Bewegung, Spazierengehen – ohne Smartphone – ist wichtig, um Ideen zu generieren. Was passiert da im Gehirn?
GTN | Das Gehirn ist lebenslang auf motorische Aktivitäten programmiert, die gemeinsam mit Sinneswahrnehmungen und dem Bewegungsapparat eingespeist werden. Beim Schreibtischsitzen verlagern sich die hirneigenen Aktivitäten ganz und gar auf höchste Assoziationsfelder. Der Mensch kann sich gut konzentrieren und gut denken. Die Kapazitäten der dafür notwendigen und über Transmitter gesteuerten Prozesse sind allerdings limitiert, Erholungsphasen sind erforderlich, Bewegungen wie Spazierengehen haben einen besonders positiven Effekt. Denn langsame rhythmische Körperbewegungen und beiläufige unterschwellige Sinneseindrücke stimulieren das ganze Gehirn und ordnen die neuronalen Aktivitäten im Hintergrund neu. Speziell die rhythmisch langsamen Schwingungen des Schrittes unterstützen diese ganzheitliche Hirnstimulation in hohem Maß.
EK | Ist es besser, Texte auf Papier zu lesen, als auf dem Bildschirm?
GTN | Zum vertieften Lesen eines Textes sind nicht nur die für das Lesen zuständigen sensomotorischen Assoziationsfelder im parietalen und occipitalen Kortex gefragt. Aber auf diese fokussiert sich das Auge insbesondere beim Lesen am Bildschirm. Damit bedient es sich vorrangig einer rein seriellen Erregungsübertragung im Kortex, also eines »maschinellen« Lesens mit eingeschränktem geistigen Blickfeld. Der Text wird schnell und flüchtig abgelesen, Seite für Seite wird am Tablet »fortgewischt«. Aber, gleichzeitig geht es beim Textlesen auch darum – und das leistet der Text auf Papier – formale und inhaltliche Bewertungsarbeit zu leisten. Das Multitasking ist quasi eine Systemeigenschaft des Gehirns, was ihm beim Lesen des Textes auf Papier leichter zugänglich wird.
Denn neben den seriellen werden zusätzlich parallele Schaltkreise einbezogen und kurze Teilaspekte werden unterschwellig redundant gelesen. Das fördert den vertieften Umgang mit dem Inhalt. Zusätzlich kommt das sogenannte Arbeitsgedächtnis im Stirnhirn zum Zuge, um wenige Sekunden dauernde bewusste Anwesenheiten zuzulassen und assoziative Aktivitäten über beide Hemisphären – und damit auch über das ganze Papier – streifen zu lassen. Das Auge kann großflächig und großzügig im Text auf Papier verharren. Das ist wichtig, denn die Sehrinde ist darauf angewiesen, mit den für die Konzentration und das Gedächtnis zuständigen Subsystemen des Gehirns räumlich und zeitlich zusammenzuarbeiten.
Räumlich bezieht sich auf die vertikal-horizontale Ordnung von Funktionsmodulen in den hierarchisch gegliederten Rindenfeldern, die sich beim Lesenlernen entsprechend anlegen und neu anpassen.
Zeitlich bezieht sich auf eine aktuelle Sequenzbildung mit eingebauten Verzögerungssequenzen, durch die im Millisekundenbereich Netzbildung und Gedankentätigkeit möglich werden. Durch das Scrollen wird dieses raum-zeitliche Gefüge gar nicht erst angesprochen, auch das E-Paper und E-Book haben lediglich den Wert der Schnellinformation aber nicht der neuronalen Integration von Inhalten.
EK | Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?
GTN | Ein Dilemma müsste es nicht geben, käme der Mensch seiner Bestimmung und Fähigkeit nach, dem Verstand, der Vernunft und der Verantwortung höchste Priorität einzuräumen, und sich nicht von den digitalen Medien benutzen zu lassen. Er sollte sie vielmehr als Handwerkszeug nutzen. Das wäre ein knappes Fazit, das den jüngsten Erkenntnissen der Hirn- und Evolutionsforschung entstammt.
Der akuten Sachlage wird es aber nur unvollkommen gerecht, angesichts der Schere, die sich zwischen digitaler Welt und menschlichem Gehirn auftut, konkret zwischen wirtschaftlichem Profitdenken und menschlicher Vernunft, zwischen informierter Minderheit und uninformierter Mehrheit in unserer Gesellschaft.
Ein konkreter Vorschlag wäre, den digitalen Führerschein einzuführen: Kinder bis zum 12. Lebensjahr sollten – ebenso wie vom Steuer am Auto – von digitalen Medien vollkommen ferngehalten werden. Das alternative Angebot wie Wandern, Spielen und Sport muss ausgebaut werden. Ab dem 12. Lebensjahr könnte an Schulen ein erster, dann ab dem 16. Lebensjahr ein aufbauender Führerschein eingeführt werden.
Für Eltern von Kleinkindern sollte gelten, dass sie selber im Privatleben möglichst auch auf digitale Medien verzichten und ebenso andere Stressfaktoren klein halten; das würde sie von viel Ärger und Sorgen entbinden, die Schulleistungen verbessern und der Chance Raum geben, dass eine medienmündige neue Generation heranwachsen kann.
Das Gespräch führte Johanna Wenninger-Muhr, www.visionsblog.info
Literatur: G. Teuchert-Noodt: »Risiken einer neuroplastischen Anpassung der Wahrnehmung von Raum und von Zeit im Kontext der Medienwirksamkeit«. In: J. Weinzirl, P. Lutzka, P. Heusser (Hrsg.): Bedeutung und Gefährdung der Sinne im digitalen Zeitalter. Wittener Kolloquium für Humanismus, Medizin und Philosophie (5), Würzburg 2017
G. Teuchert-Noodt/M. Brainy: »Lernen in kleinen und großen Schaltkreisen«. In: H. Reiter (Hrsg.): Hirngerechtes Lehren und Lernen – Wie Trainer, Coaches und Berater von den Neurowissenschaften profitieren können. Handbuch Hirnforschung und Weiterbildung, Weinheim 2017
G. Teuchert-Noodt: »Zu Risiken und Chancen fragen Sie das Gehirn«. In: G. Lembke/I. Leipner: Die Lüge der digitalen Bildung, München 2018
G. Teuchert-Noodt/I. Leipner: Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach. Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft, umwelt-medizin-gesellschaft, Heft 4/2016