Dem Krokodil auf der Spur

Sven Saar

Jon McAlice erzählt gerne Geschichten. Gleich zu Beginn seines Vortrages hören wir von Malidoma Some, der als Fünfjähriger aus seinem westafrikanischen Dorf in ein Jesuitenkolleg gebracht wurde und dort zum katholischen Priester ausgebildet werden sollte. Der intelligente Knabe wurde im westlichen Denken geschult, bis er – schon ein junger Mann – nach ungezählten Demütigungen schließlich die Entscheidung traf, aus dem Kolleg zu fliehen und in sein Dorf zurückzukehren. Seine Verwandten wussten dort trotz aller Wiedersehensfreude nicht so richtig, was sie mit ihm anstellen sollten: Er war ein Fremder, ein schwarzer Europäer geworden. Für sie war die Welt belebt, voll vom Gesang der Dinge: Die Erde, der Wind, die Tiere und Pflanzen – sie alle hatten eine Stimme und Malidoma war für sie taub geworden. Mit den jungen Männern des Dorfes begab er sich nun auf den stammesüblichen Einweihungsweg, und die erste Aufgabe war, einen Baum zu betrachten. Da saß er nun, Stunde um Stunde, und sah diesen Baum. Sonst nichts. Am nächsten Tag wieder. Botanik hatte er gelernt, auch die afrikanische Geografie, und vor ihm stand ein Baum. Am dritten Tag begann er, dem Baum seine Geschichte zu erzählen – und nach einiger Zeit war es, als spräche der Baum zurück! So sitzt man im Saal des Dornacher Goetheanums, lauscht der Geschichte und wundert sich – was hat das jetzt mit der »Menschenkunde« Rudolf Steiners zu tun? Und dann sagt McAlice: »So kann es einem auch mit diesem Buch gehen«, und hält es in die Luft. »Neunhundert Seiten Weisheit, und man liest und liest und es bleibt ein Buch. Was müssen wir tun, damit es zu uns spricht?«

Das Buch, das er in der Hand hält, ist die Neuausgabe von Steiners erstem Lehrerkurs, den er 1919 auf der Stuttgarter Uhlandshöhe 24 Menschen innerhalb von drei Wochen gab. Morgens die »Allgemeine Menschenkunde«, eine spirituelle Anthropologie, in der er Körper, Seele und Geist des Menschen grundlegend erklärte und beschrieb. Dann, nach der Kaffeepause, folgte ein Kurs, der später als »Methodisch-Didaktisches« veröffentlicht wurde und eine Übersicht darüber gibt, welche Inhalte man Kindern in welchem Alter so nahebringt, dass sie sich an ihnen gesund entwickeln können. Und am Nachmittag jeden Tages gab es die »Seminarbesprechungen«: drei Stunden Gespräch mit den angehenden Lehrern, in denen Steiner zuerst die Psychologie des Kindes entschlüsselte und ihnen dann, damit sie das Lehren lernen konnten, Unterrichtsaufgaben zuteilte. Viele von ihnen hatten noch nie vor einer Gruppe Kindern gestanden und sollten binnen weniger Wochen das Kollegium der ersten Waldorfschule bilden.

Anschauungsmaterial aus dem Vorgarten

Zurück im Saal des Goetheanums. Jon McAlice ist inzwischen beim menschlichen Knochenbau angekommen. Zart und respektvoll hebt er den Arm des auf der Bühne stehenden Skelettes und referiert darüber, wie man einen Zusammenhang zwischen den flexiblen, strahlenförmigen Knochen der Gliedmaßen und der beschützenden, einhüllenden Gebärde der Schädelknochen herstellen kann – ein Denkvorgang, der sich auf die Vorstellung sich metamorphosierender Formkräfte einlässt. Er zeigt uns Fotos einer Reihe von Blättern einer Pflanze aus seinem Vorgarten: Man sieht deutlich, was jedes Blatt in dieser Reihe, sorgfältig vom unteren bis zum oberen Ende der Pflanze gepflückt, mit seinem Nachbarn gemein hat. Keines entwickelt sich physisch aus dem anderen, und doch spürt man deutlich, dass jedes den gleichen Formgesetzen folgt. »Das ist, wie wenn man auf Safari geht«, erklärt McAlice. »Da sieht man eine Spur, und weiß, hier ist ein Löwe gewesen, eine Giraffe oder ein Krokodil. Man sieht nicht das Tier, aber man weiß mit Sicherheit, es ist hier gewesen. Untersucht man eine Blattsequenz, oder die aufeinanderfolgenden Knochen der Wirbelsäule, sieht man die Spuren dieser Formkräfte, die uns selber verborgen bleiben, sich aber in den schönsten Gestalten offenbaren.«

Der erste Lehrerkurs war dreigegliedert. An den ersten fünf Tagen widmete sich Steiner der menschlichen Seele, die nächsten vier Tage waren dem Geist und seinen Bewusstseinszuständen gewidmet, ab dem zehnten ging es um den Körper. Seinem kleinen Publikum präsentierte er ein umfassendes Bild des Menschen als sich entwickelndes, freies und doch inneren Gesetzmäßigkeiten folgendes Wesen, das sich seiner Vergangenheit bewusst werden und seine Zukunft frei gestalten kann. Aus den methodisch-didaktischen Vorträgen entwickelte sich später der Waldorflehrplan, und die Seminare führten zur heutigen Unterrichtspraxis. Manchmal gab Steiner sehr dezidierte Hinweise, zum Beispiel auf die Behandlung des Tintenfisches oder die Einführung der Pflanzenkunde, deren Umsetzung man auch heute noch in fast jeder Waldorfschule der Welt begegnet. Manchmal genügte eine fast nebensächliche Bemerkung, um Menschen zu lebenslanger Forschung anzuregen: Steiners Kritik am rein körperbezogenen Turnen im Vergleich mit der durchgeistigten Eurythmie führte direkt zur von Fritz von Bothmer entwickelten, dynamischen Gymnastik.

Bis heute stellen die Vorträge und Mitschriften eine Inspirationsquelle der pädagogischen Kollegiumsarbeit dar. Weit über ein wissenschaftliches Faktenverzeichnis hinausgehend, bilden sie in ihrer Komplexität auch eine Schule des Denkens, Fühlens und Wollens – man muss mit ihnen, wie Malidoma mit seinem afrikanischen Baum, in einen Dialog treten, damit sie zu sprechen beginnen.

Begeistert und hingebungsvoll auch heute

Im Juli 2019 fand nun in Dornach eine ganz besondere Jubiläumstagung statt: Zum ersten Mal sollten hier auf einer einzigen Tagung alle Vorträge dieser Reihe bearbeitet und untersucht werden, von Experten und Enthusiasten aus aller Welt. Zu diesem Anlass kam auch die Neuausgabe des Kurses in die Buchläden: Erstmalig wurden alle Vorträge in einem Band versammelt und chronologisch angeordnet. Dazugestellt wurden Steiners Notizbucheinträge und die Beiträge der Teilnehmer in den Seminarbesprechungen.

Auf der Tagung gab es vierzehn hochwertige Vorträge. Jedem Redner war ein Tag des Originalkurses zugeteilt worden, jede der vierzehn Interpretationen ein Meisterwerk. Auf die Vorträge folgten Arbeitsgruppen zur inhaltlichen und künstlerischen Vertiefung. Hier, so die Idee, sollte ernsthafte, intensive Arbeit geleistet werden. Über drei Dutzend Länder waren vertreten, über ein Viertel der Teilnehmer kamen aus Lateinamerika, eine Minderheit aus Mitteleuropa. Die Dolmetscher ins Englische und Spanische arbeiteten mindestens genauso oft in die umgekehrte Richtung, die meisten Arbeitsgruppen verständigten sich auf Englisch. Vor den Vorträgen erklang brasilianische Musik, und abends in der Erholungszeit trafen sich Gruppen zu lebhaftem Austausch und Tanz.

Nicht alle Zuhörer wurden damals nach dem ersten Lehrerkurs Waldorflehrer. Obwohl sie alle Steiners persönlicher Einladung gefolgt waren, wurden sie in den Seminarbesprechungen immer wieder subtil geprüft. Steiner forderte einzelne Teilnehmer auf, den Rhein zu beschreiben, sich die Einführung der Mathematik für verschiedene Temperamente zu erarbeiten, die Ellipse und Hyperbel zu erklären. Er machte sich wohl mentale Notizen, wem das gut gelang: Erst am letzten Tag vor der Eröffnung am 7. September 1919 erfuhren die Lehrer, welche Klassen ihnen zugeteilt worden waren! Geistesgegenwart und Phantasie schätzte Steiner als höchste Qualitäten des Lehrers. Ministeriale Lehrpläne oder eine vorgeschriebene Methodik soll es in dieser Schule nicht geben. Sie verlangt nach vom Stoff begeisterten, aus hingebungsvoller Liebe zum Kind arbeitenden Menschen, die ihre Aufgabe als Kunst und sich selbst als Künstler verstehen.

Mit dieser Tagung wurde die Arbeit an den Grundlagen, die in Stuttgart vor hundert Jahren begann, am Goetheanum neu inspiriert, von Menschen aus aller Welt und in vielen Sprachen. Eine Initiative, die in die Zukunft weist.

Zum Autor: Sven Saar ist nach dreißig Jahren Waldorflehrertätigkeit nun in der Lehreraus- und -weiterbildung aktiv. Er lebt und arbeitet vorwiegend in England.

Hinweis: Im Lauf der nächsten Monate wird die »Erziehungskunst« in regelmäßigen kurzen Beiträgen auf die Inhalte des »Ersten Lehrerkurses« eingehen.