Zurückgezogen in einem Büro sitzt ein Wissenschaftler in weißem Kittel und brütet über einem Problem. Seitenlange Berechnungen entstehen. Nach Wochen und Monaten des Grübelns beginnt er zu zeichnen und reicht kurze Zeit später eine Bauanleitung an das Fertigungsteam weiter, das nach seinen Vorgaben eine neue Maschine baut, die uns etwa dabei unterstützt, die Auswirkungen des Klimawandels abzumildern. Kann das sein? Wohl eher nicht! Realistischerweise ist es doch eher so, dass ein Team unterschiedlicher Wissenschaftler:innen und Ingenieur:innen vor ein Problem gestellt wird. Aufsattelnd auf bisherigen Lösungsansätzen werden Ideen ausgetauscht, Lösungsansätze ausprobiert, Schwachstellen aufgedeckt und so lange verbessert, bis eine adäquate Lösung entwickelt worden ist, die in einem ersten Prototypen mündet. Für diese Form des ausprobierenden, problemlösenden Denkens nach dem Motto Trial and Error finden sich zauberhafte Beispiele in dem YouTube-Kanal lego technik ingeneer. Dort wird wunderbar sichtbar, wie eine Problemstellung einen kreativen Schub auslöst, Gedanken in Bewegung bringt und eine Idee geboren wird, die in einem nächsten Schritt ausprobiert wird.
Win-Win
Die Freie Waldorfschule Augsburg startet gerade eine Zusammenarbeit mit den Fachbereichen Architektur und energieeffizientes Bauen der Technischen Hochschule Augsburg (THA). Eines der Motive der Hochschule ist die Nachwuchsgewinnung. Die Zukunft und der Klimawandel verursachen einen Bedarf an kreativen Ingenieur:innen. Gleichzeitig bleibt der Nachwuchs aus und immer weniger Schulabgänger:innen wählen solche Berufe. Einer der Gründe, den die Fachbereichsleitungen ausgemacht haben, ist, dass ganz im Sinne des eingangs geschilderten Bildes der Ingenieur:innen-Beruf vor allem mit mathematischem Vermögen assoziiert wird. Während der Schulzeit wird die Mathematik von vielen als fern ab des Alltags und unerreichbar erlebt. Ein Studienfach wählen, bei dem die Mathematik scheinbar im Mittelpunkt steht, kommt daher für viele nicht infrage.
Die THA bemüht sich, dieses Vorurteil abzubauen. Bei einem ersten Treffen wurden wir auf das Dach der Hochschule geführt, wo uns eine aktuelle Forschungsreihe vorgestellt wurde. Die THA arbeitet seit Jahren mit der Universität Suceava in Rumänien zusammen und bietet im Sommer gemeinsame Exkursionen in die Region Bukowina an. Dort werden Häuser traditionell mit Dachschindeln gedeckt, die mit Teer bestrichen werden, um widerstandsfähiger gegen Witterungseinflüsse zu sein. Mit jedem Regenguss werden Spuren des giftigen Teers in den Boden gewaschen und verseuchen den Boden. Bei einer der Exkursionen entstand die Idee, auf diesem Gebiet zu arbeiten. Geforscht wird daher an einer regionalen, nachhaltigen und vor allem umweltverträglichen Imprägnierung für Dachschindeln. Dieses Forschungsprojekt wirkt äußerst unspektakulär. Es gibt keine seitenlangen Berechnungen, sondern nur mit verschiedenen Wachsen, Ölen und Verfahren imprägnierte Schindeln, die der Witterung ausgesetzt sind. Dennoch wurde uns das Vorhaben voller Stolz präsentiert. Nachhaltiges und energieeffizientes Bauen mit nachwachsenden Materialien ist eines der gesetzten Anliegen des Fachbereiches und damit erfüllt das Forschungsprojekt höchste Anforderungen. Nun gilt es abzuwarten und mit verschiedensten Methoden genau zu analysieren, welche Verfahren am vielversprechendsten sind, und diese dann weiterzuentwickeln. So wenig mathematisch können Forschung und Entwicklung sein!
Jahresarbeiten treffen auf Studienprojekte
Bereits im zweiten Jahr unserer Zusammenarbeit kommt im Vorfeld der Entscheidung für die Elft-Klass-Jahresarbeiten ein Team der THA in den Unterricht, informiert über den Studiengang, stellt ein aktuelles Projekt vor – in diesem Jahr ein selbstgebauter Windkanal – in dem die Schüler:innen experimentieren können, und berichtet über verschiedene Projektideen im Bereich Umwelttechnologie. Wird eine der Ideen oder auch ein eigenes Projekt aus dem Bereich Umwelttechnologie als Jahresarbeit gewählt, so wird die Arbeit durch die THA begleitet und bei Bedarf womöglich durch einen Projektfonds finanziell unterstützt. Umgekehrt dürfen Studierende der THA auf dem Gelände der Schule Projekte realisieren. So entstand in diesem Jahr im Rahmen einer Jahresarbeit eine kleine Windkraftanlage, die vermutlich ihren Platz auf einer Dachterrasse der Schule finden wird. Von Studierenden wird im Rahmen einer Masterarbeit ein autarkes, energieneutrales Haus für den Gartenbauunterricht im Schulgarten geplant, das wiederum mit Mitteln aus Sponsoring und der Schule zur Umsetzung kommen soll. Andere Studierende planen ein Energieaudit der Schule. In die Datenerhebung sollen die Schüler:innen eingebunden werden.
Vorurteile durch Erlebnisse ersetzen
Der beiderseitige Gewinn dieser Zusammenarbeit ist für mich offensichtlich. Die Schüler:innen unserer Schule kommen in Berührung mit aktueller Forschung im Bereich nachhaltiges, energieeffizientes Bauen, können praktische Erfahrungen sammeln und lernen vor allem Menschen kennen, die diese Berufe gewählt haben. Vorurteile über den Beruf der Ingenieur:innen können so durch eigene Erlebnisse und darauf fußende Urteile ersetzt werden. In jedem Fall ist das für eine spätere Berufswahl ein Plus. Die Hochschule dagegen hat für ihre Studierenden ein Anwendungsfeld. Praxis und Theorie können so standortnah miteinander verbunden werden und eventuell stellt sich sogar der dringend benötigte Nachwuchs auf diese Weise ein. Persönlich wünsche ich mir schon seit Langem in der Oberstufe vermehrten Praxisbezug in den MINT-Fächern, die meiner Meinung nach in der Oberstufe zu kurz kommen. Insgesamt mehr Wahlmöglichkeiten für die Schüler:innen und damit einhergehend AGs im MINT-Bereich könnten für mich ein Weg sein.
Kommentare
Es sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar hinzufügen
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.