Der Beziehungsleib

Corinna Gleide

Man kann der Auffassung sein, dass man nur den physischen Körper des Menschen mit Augen sehen kann, die »übersinnlichen« Wesensglieder wie den Ätherleib, den Astralleib und das Ich hingegen nicht. Da stellte sich sofort die Frage, welche Wege es denn gibt, um etwas von diesen übersinnlichen Wesensgliedern zu wissen. Oder muss man an sie glauben?

Einen einzigen Zeitpunkt im menschlichen Leben gibt es, wo wir den physischen Körper wirklich so sehen, wie er ist: wenn ein Mensch gestorben und als Leichnam aufgebahrt ist. Erst jetzt erleben wir den physischen Körper so, wie er an und für sich ist. Das bedeutet, dass wir – abgesehen von dieser Ausnahmesituation – nie allein einen physischen Körper wahrnehmen, sondern stets einen physischen Körper, der belebt und von einem Seelisch-Geistigen durchseelt ist. Das heißt, wir sehen mit Augen, was der Ätherleib, der Astralleib und das Ich im menschlichen Leib tun.

Was tut der Ätherleib?

In dem Augenblick, in dem der physische Körper nach dem Tod sich selbst überlassen ist, beginnt er zu zerfallen. Er kann seine Form nicht aus eigener Kraft erhalten. Er zerfällt, weil das Leben aus ihm gewichen ist – das ist ja auch eine Formulierung, die wir alltäglich gebrauchen. Dieses Leben ist nichts anderes als der Ätherleib. Der Ätherleib sorgt während des Lebens dafür, dass der Körper eine Form, eine Gestalt hat. Er sorgt dafür, dass jeder Mensch seine individuelle Körperform hat. Jeder Mensch hat sein eigenes Gesicht, seine eigene Gestalt. Auch wenn wir einen anderen Menschen viele Jahre nicht gesehen haben – wenn also die stoffliche Basis seines Körpers längst eine andere ist – erkennen wir ihn wieder, weil wir seine Gestalt kennen.

Neben dem ganz Individuellen und Eigenen der menschlichen Gestalt spielt aber auch die Vererbung eine wichtige Rolle: Körpergröße und -umfang, die Gestalt der Schultern oder Merkmale der Gesichtsbildung sind vererbt; ebenso die Formen, zum Beispiel, der inneren Organe. Der Ätherleib schafft nicht allein die Gestalt, er trägt auch die Vererbung.

Die »Geburt« des Ätherleibes

Für die Waldorfpädagogik ist der Gedanke besonders wichtig, dass – wie Rudolf Steiner das nennt – der Ätherleib nicht bei der physischen Geburt des Kindes, sondern erst ein Jahrsiebt später geboren wird. Was ist damit gemeint? »Geborenwerden« wird von ihm gleichbedeutend verwendet mit Eintreten ins Getrenntsein und in die Eigenständigkeit. Nach der Geburt ist das Kind nicht mehr in der Mutter, sondern außerhalb von ihr und damit physisch getrennt. In Bezug auf den Ätherleib ist das zunächst aber anders: Das Kind lebt noch bis zum Zahnwechsel in der Ätherhülle der Mutter. Die Mutter spürt das daran, dass alles, was mit dem Kind geschieht in dieser Zeit, ihr besonders nah geht, denn ihre Lebenskräfte sind verbunden mit den Lebenskräften des Kindes. Von der Seite des Kindes her betrachtet, bewirkt die Konstellation, die durch den noch nicht individuellen Ätherleib entsteht, dass alles, was das Kind im ersten Jahrsiebt erlebt, unmittelbar »leibbildend« ist. Man kann das an dem Phänomen ablesen, dass die Kinder in diesem Alter noch völlig offen, wie ungeschützt – und damit auch extrem verletzbar – sind. Alles, was die Kinder erleben, wirkt sich bis in die physische Gestalt- und Organbildung aus. Der Neuropsychologe Manfred Spitzer hat in Bezug auf die Gehirnphysiologie nachgewiesen, wie die Umgebung und be- stimmte Tätigkeiten des Kindes in der frühen Kindheit auf den Leib wirken. So zeigte er beispielsweise, dass Musik­hören oder das Erlernen feinmotorischer Fertigkeiten auf das Gehirn kleiner Kinder einen positiven Einfluss ausüben, während sich die Gehirne von Kindern, die früh mit Computerspielen konfrontiert sind, defizitär entwickeln. Für alle leibbildenden Einflüsse aus der Umgebung spielt der Ätherleib in seiner Funktion des Form- und Strukturgebens eine Hauptrolle. Anders formuliert: Der Ätherleib ist der Beziehungsleib, er ist das Medium, durch das der Mensch unbewusst in Beziehung zur Welt und zu den Menschen steht. Deswegen ist es für die Kindergartenstufe der Waldorfpädagogik so wichtig, dass die Kinder eine schöne, geordnete und natürliche Umgebung haben.

Erst wenn die Schulreife eintritt, nabelt sich das Kind stärker ab, es wird jetzt selbstständiger. Das ist Ausdruck davon, dass sein individueller Ätherleib »geboren« wird. Mit dem eintretenden Zahnwechsel ist ein Signal dafür gegeben, dass der Ätherleib des Kindes nun nicht mehr ausschließlich für das Körperwachstum und die Gestaltbildung gebraucht wird. Ein Teil des Ätherleibes – man kann ihn die Kulturseite des Ätherleibes nennen – wird frei für das Lernen. Lern- und Erinnerungsvorgänge sind ohne Ich und Astralleib nicht vorstellbar, aber sie haben als Basis den Ätherleib. Der stark am Bildhaften orientierte Unterricht der ersten Schuljahre versucht, dem Rechnung zu tragen, indem den Kindern, die im zweiten Jahrsiebt ihren Ätherleib ausbilden, dafür Kräfte zur Verfügung gestellt werden, bis er frei wird.

Bedeutung für die Pädagogik

Für die Waldorfpädagogik sind diese Einsichten elementar; denn sie haben die Konsequenz, dass man die Kinder nicht vor der Schulreife mit schulischem Lernen konfrontiert. Es werden in dieser Zeit die wesentlichen Grundlagen für Gesundheit und Krankheit im Erwachsenenalter geschaffen. Ein Abziehen der Kräfte des Ätherleibs für vorschulisches Lernen schwächt den physischen Leib. Das am Bildhaft-Imaginativen orientierte Lernen der ersten Schuljahre baut die Lerninhalte vom Lebendigen her auf, um sie dann in der Mittel- und Oberstufe mehr und mehr ins Gedankliche und ins Verstehen überzuführen. Was am Beispiel des Ätherleibes gezeigt werden sollte, gilt für den menschenkundlichen Ansatz der Waldorfpädagogik insgesamt, deren Stärke darin besteht, sich an den Entwicklungsgesetzen der menschlichen Wesensglieder zu orientieren.

Zur Autorin: Corinna Gleide hat 2002 das D. N. Dunlop Institut für anthroposophische Erwachsenenbildung, Sozialforschung und Beratung in Heidelberg mit begründet und ist seither in dessen Leitung. www.dndunlop-institut.de