Der Drache und der Phönix

Arlene Reijnders

In der Mitte des Gartens, dort, wo die Kieswege sich treffen, steht eine kurze, wie aus steinernen Ranken gewundene Säule, und auf ihrem Kopf trägt sie eine schillernd weiße Kugel: eine Perle, so groß, dass man gerade beide Hände bräuchte, um sie zu heben.

Nicht, dass dies je einer gewagt hätte. Es bestand auch nie die Möglichkeit dazu, denn den einzigen Bewohner, den Mönch, verlangte es nicht danach. Er war nur da, um diese Perle zu bewachen, die, wie man ihm gesagt hatte, das Schicksal der Welt in sich barg. Er tat dies seit dem Tag, an dem er siebzehn wurde, so, wie der Mönch vor ihm es getan hatte und der Mönch nach ihm es tun würde, sollte er einmal sterben.

Eines Tages kam ein Drache zu dem Kloster. Der Mönch stand hinter den Säulen, im Begriff, den Garten zu betreten, doch hielt er inne, als er den schlanken Körper am Himmel entdeckte. Groß und flügellos war er, und doch vermochte er es, sich durch die Luft zu schlängeln, schillernd, als wäre er ein Fisch im Wasser. Er tauchte durch die Wolken, kringelte sich, um sich dann in weiten Kreisen hinunter zu schrauben und im Garten niederzulassen. Er hatte ein freundliches Gesicht.

Der Mönch hatte in den alten Schriften über den Drachen gelesen und wusste daher, dass dies der Drache war, der vor Jahrhunderten die Perle an diesen Ort gebracht und der Obhut der Menschen übergeben hatte, doch er wunderte sich, warum er jetzt nach all der Zeit zurückkehrte.

Da sah er das Feuer in den Wolken und zog sich eilends in das Innere des Gemäuers zurück, denn er verstand: wenn der Drache zurückgekommen war, dann nur, weil die Perle von einer Macht bedroht wurde, gegen die kein Mensch etwas ausrichten konnte.

Der Phönix stieß vom Himmel hinab. Er gierte nach der Perle und ihrer Macht. Doch der schuppige Körper des Drachen umgab sie und hinderte ihn daran, sie sich zu greifen. Also spreizte der Phönix seine goldenen Klauen und schlug sie in das Fleisch des schimmernden Wächters. Der Drache löste die Umschlingung und schoss hinauf in die Luft, seinen Gegner mit sich reißend, dem es nicht gelang, noch rechtzeitig von ihm abzulassen.

Hektisches Geflatter und Windstöße, die die Blätter und Blüten von den Pflanzen rissen. Rote Federn segelten nieder und verbrannten den Boden, während sie qualmend ausglühten und zu schwarzer Asche wurden.

Eine erbitterte und uralte Feindschaft erfüllte die Luft, so stark, dass es die Wolken heranzog, die sich dicht und grau auftürmten. Bald war kein Fleckchen Blau mehr zu sehen, nur der Sturm und sein gewaltsames Grollen, das mit eingesperrten Blitzen den dunklen Tag in dumpfes, unstetiges Licht tauchte.

Der Drache und der Phönix kämpften.

Es war ein Hacken und Stechen, Hieb um Hieb, und immer wieder durchschnitt der schrille Kriegsruf des Phönix die Luft. Sie kämpften lange. Mehr Federn lösten sich aus den flammenden Flügeln, weniger wegen des Drachens, denn dieser versuchte seinen Feind nicht zu verletzen, sondern vielmehr aufgrund des Phönix eigener Wut. Wann immer er konnte, sammelte der Drache die Federn aus der Luft, sodass sie den Garten nicht noch mehr verbrannten. Als der Phönix dies bemerkte, fasste er einen Plan und ließ sich, von perfider Grausamkeit ergriffen, in die Blumen fallen. Sie fingen augenblicklich Feuer und in wenigen Sekunden brannte der gesamte Garten. Das Feuer ergriff auch den Efeu und verwandelte ihn in glühende Schlingen, die das Gemäuer zu erwürgen schienen.

Der Drache dachte an den Mönch und warf sich ohne zu zögern in die Flammen, wälzte seinen Körper hin und her, bis seine Schuppen nicht mehr glänzten, sondern stumpf und brüchig wurden, und er erstickte das Feuer, wie es ihn erstickte.

Als die Flammen erloschen waren, lag er am Boden und rührte sich kaum mehr. Sein schlanker Körper qualmte noch ein wenig und wand sich schwach in den Überresten der Pflanzen; nur daran und an seinen Augen sah man, dass noch Leben in ihm war. Der Phönix hüpfte heran, wie eine neugierige Taube, musterte ihn, zuckte mit seinem Schnabel vor und riss ihm die Kehle heraus. Das Blut tränkte den Boden und färbte die Kieswege rot, und der Phönix erhob sich mit einem entsetzlichen Schrei des Triumpfes in die Höhe und ließ sich auf der Säule in der Mitte nieder, die Perle eingeklemmt zwischen den Klauen. Dort saß er, während die Hitze des Kampfes langsam verschwand und die Wolken niedersanken. Es begann zu regnen. Die Tropfen verwandelten die Asche in Matsch, vermischten sich mit dem Blut des Drachen oder verdampften auf dem Federkleid des Phönix.

Er musterte aus blinzelnden Augen heraus das Chaos um sich herum und die Leiche. Die Schlacht, die er Jahrhunderte lang geführt hatte, war vorbei. Er hatte gewonnen.

Der Regen wurde stärker und es regnete so stark und viel, dass es dem Phönix kalt wurde, also breitete er seine gigantischen Schwingen aus und verdampfte den Regen zu dichtem Nebel. Dieser füllte das Kloster und umhüllte es, undurchdringlich, nass und grau. Er hing dort tagelang. Als er sich schließlich klärte und der Himmel wieder blau war, saß der Phönix immer noch da und sah auf die Leiche hinab. Sein Triumpf war verschwunden und nun war er das Bild leid, das sich ihm bot. Er beugte sich hinunter zum Drachen und steckte ihn in Brand, hielt das Feuer am Leben, bis nichts mehr übrig war als Asche, genau so schwarz, wie die seiner Federn. Der Phönix hatte die Feuer der Menschen gesehen und wusste, dass ihre Asche weiß sein konnte. Er fragte sich, warum er dies nicht zu schaffen vermochte. Er fragte sich eine Menge, während er da saß, und er saß da eine lange Zeit. Mit der Zeit wurde die Asche Teil der Erde und brachte neue Blumen und Kräuter hervor. Die Efeuranken sprossen wieder grün wie Jade und der Garten entfaltete sich zu neuer Schönheit. Die Farben erinnerten den Phönix an den Drachen, doch sie waren wie ein Schatten von ihm, der ihm niemals gerecht werden konnte. Ein Schatten, der nun auf dem Phönix lag und ihn am Vergessen hinderte. Seine Flügel wollten ihn nicht mehr tragen, gleich, wie oft er mit ihnen schlug. Es fehlte ihm an Willenskraft, sich von dem zu lösen, was nunmehr unerreichbar war, und so gab er schließlich auf, blieb im Garten und ertrug die Einsamkeit.

Irgendwann wagte sich der Mönch wieder hinaus. Den Garten betrat er nicht, doch er stand von Zeit zu Zeit bei den Säulen und betrachtete die Kreatur, die dort hockte und seinen Blick mit erloschenen Augen erwiderte. Der Mönch empfand Mitleid für diesen Vogel, dem nun nichts geblieben war, außer einem wertlosen Sieg. Dann und wann verließ der Phönix seinen Platz auf der Säule und wanderte auf den Kieswegen herum und betrachtete die Blüten in stiller Wehmut. Er behandelte sie vorsichtig, zertrat oder verbrannte nicht ein einziges Blättchen. Eines Tages hörte er dann auf zu wandern. Er kehrte auch nicht auf seinen Platz zurück oder flog davon. Er saß nur da, in der Mitte des Gartens, und ruhte mit dem Kopf auf der Säule, direkt neben der Perle. Er ließ sie nie aus den Augen, passte auf sie auf, beschützte sie und pflegte und wärmte sie mit seinem Phönix-Atem und einem Wunsch, der sein kleines kohleschwarzes Herz fast zum Zerreißen brachte. Er hatte bis dahin nicht gewusst, dass er eins hatte. Erst jetzt, da er es spürte, da es schmerzte, wurde er dessen gewahr. Er erzählte es der Perle in Gedanken, so wie er ihr alles anvertraute, fütterte sie auch mit den Geschichten über die alte, glorreiche Schlacht. Vor allem den Drachen beschrieb er der Kugel in all seinen herrlichen Einzelheiten, und seine glühenden Tränen tropften auf die Perle und sickerten durch die Oberfläche. Und dann kam der Tag, an dem ein Riss im zarten Weiß erschien.

Der Phönix hob den Kopf und beobachtete, wie weitere Risse folgten, sich ausweiteten, größer wurden. Er trat zurück. Die Perle zersprang und aus den Scherben erhob sich schillernd und schlank wie eh und je der Drache. Er stieg höher, kreiste über dem Phönix, zunächst noch klein, doch zügig wachsend, bis er bald in alter Herrlichkeit über dem Garten schwebte und auf seinen alten Feind herabblickte. Dieser versuchte nicht zu fliehen, wenngleich sein kleines Herz sich mit Angst füllte, sondern senkte nur das Haupt und ließ zu, dass sich das Maul des Drachen um seinen Hals schloss. Der Drache jedoch biss nicht zu. Er zog ihn hoch in die Lüfte, höher und höher, bis der Phönix einer Erinnerung folgend die Flügel ausbreitete. Dann ließ er los und sie flogen gemeinsam, kreisten um das Kloster und über seinen Dächern und flogen schließlich davon.

Der Mönch trat in den Garten, sah die Splitter der Perle und stellte fest, dass die Welt nicht untergegangen war. Er empfand das als ein gutes Zeichen, lächelte und machte sich einen Tee, mit dem er sich hinaus in die Sonne setzte, um den nun leeren Platz auf der Säule anzuschauen. Was sollte er denn jetzt bewachen? Nicht, dass er in dieser Aufgabe besonders gut gewesen wäre, aber er hatte einen Eid geschworen.

Nachdenklich schaute er hinauf in den Himmel. Er war blau und wolkenlos und in ihm hing noch das Echo vom Schillern und Glühen der beiden Geschöpfe, die sich dort einst in Feindschaft trafen und bekriegten, um letztlich dann vereint von dannen zu ziehen. Der Mönch lächelte wieder und entschied, dass die Perle immer noch da war. Die Säule trug noch immer das Schicksal der Welt. Und das schimmernde Weiß der Perle war in Wahrheit reiner und strahlender denn je.

Er bewachte sie gut, genau so, wie sein Vorgänger es getan hatte und sein Nachfolger es letztlich tat. Mehr Mönche kamen, lebten dort beisammen, manchmal viele, manchmal wenige, und bisweilen war das Kloster gänzlich leer. Aber das Leben verließ diesen Ort nie. Das hat es bis heute nicht. Das Kloster steht noch immer, die Perle ist immer noch da und der Garten ist immer noch wunderschön, und ab und zu, wenn man zur rechten Zeit in den Himmel schaut, sieht man zwei wunderliche Geschöpfe in den Wolken, ein Glühen hier, ein Blinken dort, vom Sonnenlicht erfasst, wie sie mit dem Wetter spielen: Der Drache und der Phönix.