Gesundheit fordern in ihren Gebeten die Menschen von den Göttern; dass sie aber die Macht darüber in sich selbst tragen, wissen sie nicht.
Demokrit
Soll man nun auch noch an dieser Stelle über jenes Thema sprechen, das uns alle seit bald einem Jahr praktisch und seelisch besetzt hält? – Wenn ich diese Frage mit ›Ja‹ beantworte und ihnen also nach allem Überdruss noch eine Corona-Überlegung zumuten werde, dann naheliegender Weise unter der Perspektive des anstehenden Festes. Kann man aus der gedanklichen Konfrontation unserer Ausnahmesituation mit Weihnachten geistigen Nektar saugen? (Die Metapher selbst kann auf die Antwort vorausweisen: Der süße Nektar – so lernen wir bei Joseph Beuys – ist verdichtete Sonnenkraft; er ist mit Heilung und Wärme konnotiert.)
Eine Weihnachtsansprache ist ein rhetorisch heikles Feld: Sie soll behaglich, bekömmlich und im besten Sinne tröstlich sein, zugleich aber wenigstens einen nahrhaften und brauchbaren Gedanken enthalten. Wie aber könnte man Trost und redliches Denken in dieser katastrophalen Lage in Berührung bringen, ohne sich der Schönrederei und Verharmlosung schuldig zu machen?
Die Menschen, deren Verfassung ich in diesen Wochen wahrnehme, sind sich einig in der Diagnose des Katastrophenzustandes, stehen sich aber bei der Charakterisierung des Katastrophalen in zwei Lagern gegenüber, die immer weniger miteinander reden, sich dafür zunehmend misstrauisch und feindselig beäugen. Die verständigende Balance zwischen diesen auseinandertreibenden Wahrnehmungsweisen (die ich selbst den Sommer über zu halten versucht habe) scheint zunehmend fruchtlos. Beide Lager haben sich in ihren Ängsten eingerichtet. Auf der einen Seite die Angst vor der Krankheit, vor der Ansteckung, also vor der körperlichen Nähe der Mitmenschen; letztlich die Angst vor einem als falsch verstandenen physischen Sterben. Auf der anderen Seite die Angst um den sozialen Organismus, um das Kultur- und Bildungsleben, um unsere Demokratie und Freiheitsrechte. Resultat dieser Spaltung ist eine um sich greifende Erschöpfung und tiefe Traurigkeit, die sich im Falle des Waldorflehrerberufes etwa auch darin begründet, dass fast alle wesentlichen Elemente unserer Pädagogik im Zuge behördlicher Verbote nicht mehr gelebt werden können. Der Blick in die kommenden Wintermonate zeigt junge Menschen mit kalten Fingern im Schein ihrer Bildschirme.
Was hat das Weihnachtsfest dieser Schwermütigkeit entgegenzusetzen? Wir überschreiten in den kommenden Tagen die kalendarische Schwelle der Wintersonnenwende, die in vielen Kulturzusammenhängen euphorisch – mit dem Erscheinen von Licht und neuem Leben in tiefster Dunkelheit – verbunden ist. Das Christentum hat diese kultische Zäsur (wie viele andere auch) nicht erfunden, sondern aus älteren religiösen Praktiken übernommen und erzählerisch neu eingekleidet, mit der wunderbaren und ungeheuerlichen Pointe, dass ein Gott sich freiwillig seiner Unsterblichkeit entledigt, sich körperlich zu den Menschen herablässt, um sie erst zu lehren und sich dann aus Liebe zu ihnen selbst zu opfern und sie als Heiland schließlich zum Heil, also zur allumfassenden Gesundheit, zu führen.
Die anstehenden Tage sind also, mit oder ohne Christentum, vom Impuls der Freude, der Anti-Traurigkeit geprägt. Was kann das im konkreten Umgang mit sich und anderen bedeuten? – Ich möchte hierzu eine Sichtweise Rudolf Steiners ins Spiel bringen, die aber, wie mir scheint, auch ohne anthroposophische Begriffe nachvollziehbar ist. Steiner verortet die Menschheit in ihrer gegenwärtigen Entwicklungsphase auf der »Baustelle« des »Bewußtseinsseelenzeitalters«. Der Reiz besteht darin, dass wir, während diese Entwicklung andauert, noch nicht genau absehen können, worin sich die zu erstrebende Bewußtseinsseele von der vorangehenden Verstandesseele unterscheidet. Wir können also jenes Bewußtsein, das sich in uns heranbilden könnte, zwar erahnen, erproben und explorativ umkreisen, aber noch nicht als etwas voll Verfügbares greifen und beschreiben. Steiners Hinweisen können wir immerhin eine markante Tendenz dieser Phase entnehmen: die zunehmende Individualisierung, die sich in der Spannung zwischen freier Ich-Werdung und sozialer Vereinzelung herausarbeitet. (Als gegenwärtig besonders anregender Schlüsseltext in diesem Zusammenhang erscheint Steiners Vortrag zu den »Sozialen und Antisozialen Trieben im Menschen«, 1918, GA 186.)
Wirft man einen kursorischen Blick in die jüngere Geschichte, etwa die vergangenen 30 Jahre seit dem Ende des Kalten Krieges, so mag man sich fragen, wie die realen gesellschaftlichen Phänomene mit Steiners Prognose in Einklang zu bringen sind. Nach dem Untergang des staatssozialistischen Kollektivismus inszeniert sich das kapitalistische Subjekt als Sieger der Geschichte. Zwar unterwirft es sich als egozentrische ›Ich-AG‹ einem permanenten Selbstoptimierungsprozess, darf dabei aber nicht seinen individuellen, sondern nur den wiederum kollektiven Normen des darwinistisch gedachten Konkurrenz- und Existenzkampfes folgen. Der harmonische und ethisch grundierte Ausgleich von Freiheit und Gleichheit, auf den Steiners Soziallehre gerichtet ist, scheint vom aktuellen Mainstream weit entfernt.
Im letzten Jahrzehnt beobachten wir darüber hinaus eine frappierende Anziehungskraft kollektiv-abgrenzender Identifikationsangebote. Die ›Neue Rechte‹ ist nichts weniger als neu; tatsächlich hat sie nur ideologische Antiquitäten aus dem 19. Jahrhundert im Angebot, allen voran das obsolete Konzept des ethnisch gedachten Nationalstaates, das den Einzelnen zur Rückkehr in die Volksgemeinschaft verlockt und damit von der Zumutung freier Selbstwerdung entlastet.
Ist die Vorhersage der kommenden Bewusstseinsseele also gleichsam empirisch widerlegt und damit hinfällig? Immerhin könnte es sein, dass Steiners Entwicklungsdenken von hegelscher Dialektik begleitet ist. In diesem Sinne wäre Geschichte als oszillierender Prozeß widersprüchlicher Bewegungen zu verstehen, bei dem ein Bildungsziel stets auch durch sein Gegenteil angestrebt werden kann. Hegels Weltgeist wühlt sich durch die Menschheitsgeschichte, um sich in seinen (in der Regel ebenfalls katastrophischen) historischen Veräußerungen als sein Gegenteil selbst zu erkennen.
Diese Gedankenfigur ist gefährlich, weil sich damit jede Not, jede Unmenschlichkeit, jede politische und soziale Verschlimmerung zu etwas Sinnvollem oder gar Notwendigem adeln lässt. Damit ist sie den Vorstellungen von Reinkarnation und Karma verwandt, die sich in der herrschenden Seuchenzeit ebenfalls aufdrängen können, um im Falschen die Möglichkeit des Richtigen zu erkennen. – Ist nicht die Tatsache, dass wir in unserer Lebenszeit dieser bedeutenden gesellschaftlichen Verschiebung beiwohnen, schon ein Hinweis darauf, dass sich darin für jeden von uns eine Entwicklungsmöglichkeit verbirgt? Die Gefahr einer derartigen Betrachtung liegt darin, dass sie bei oberflächlicher Handhabung noch der bösesten Krankheit, dem größten humanistischen Rückschritt einen höheren Bildungsauftrag unterstellt und damit letztlich zu Indifferenz und passiver Schicksalsergebenheit verführen kann.
Der archimedische Hebelpunkt meiner hier skizzierten Überlegungen liegt schließlich außerhalb anthroposophischer Denk- und Sprechgewohnheiten. Ich fand ihn in einem Aphorismus des universalgelehrten Künstlers Alexander Kluge, demzufolge ›Menschen zweierlei Eigentum haben: ihre Lebenszeit und ihren Eigensinn‹. – Der Eigensinn ist in der Alltagssprache eher negativ belegt; wer als eigensinnig gilt, ist verschlossen, störrisch, unsozial und widerspricht deutlich dem (in der kapitalistischen wie der sozialistischen Arbeitswelt dogmatischen) Befehl zur Teamfähigkeit.
Kurz vor Weihnachten ist mir nun deutlich geworden, dass ich den Eigensinn meiner Mitmenschen im beruflichen und privaten Wahrnehmungsfeld lebendiger und plastischer empfinde als je zuvor. Dieser Eigensinn ist wärmend und ermutigend und wirkt als Gegenkraft zu Angst und Anpassung. Wie in einem dialektischen Musterbeispiel erwächst diese plötzliche Eigensinnigkeit ex negativo aus einer Erfahrung intensiver Fremdbestimmung. Wer die Lähmung der Traurigkeit wenigstens zeitweise überwindet, sieht sich für die Zukunft bestärkt, seinen intuitiven, individuellen Gestaltungsimpulsen kompromissloser und angstfreier zu folgen, also, platt gesagt: sein Ding zu machen.
Alexander Kluges Satz von Lebenszeit und Eigensinn steht in der Tradition Martin Heideggers, der – in gedanklicher Nähe zur Waldorfpädagogik – das Ziel jedes Menschen in der Bekräftigung seiner ›Eigentlichkeit‹ erkennt. Als Gegenkraft dieser Eigentlichkeit erscheint bei Heidegger das ›Man‹, in dem sich schon rein grammatisch alles Übernommene, Normale und Konventionelle verbirgt: das, was man eben so macht, solange man für das Eigene zu träge ist.
Da dieses reguläre ›Man‹ nun durch die drastischen Einschränkungen unserer Lebenswirklichkeit ohnehin in vielen Bereichen suspendiert ist, bietet sich in einem Zeitfenster produktiver Narrenfreiheit die aufregende Chance, mehr Eigentlichkeit zu wagen. Dazu zwei Beispiele: Da ich meinen Schulunterricht ohnehin nicht in bisheriger Weise fortsetzen kann, könnte ich ihn nach meinen Impulsen neu gestalten und mich dabei durch die mindestens temporäre Verwirrung aller hergebrachten Handlungsweisen ermutigt fühlen: Die Kollegen, Eltern und Schüler, letztlich aber der Geist dieser Tage selbst, werden meinem Eigensinn Kredit gegeben. Und da das familiäre Weihnachtsfest als traditionelle Trutzburg bürgerlicher Wiederholungen ebenfalls umgestaltet werden muss, kann ich vielleicht endlich dem lang gehegten Vorsatz folgen, die Organisation von Besuchsroutinen nebst fettem Schmaus und Geschenkebergen einzuschränken, um dafür Einkehr und Seelennahrung voranzubringen.
Ich wünsche Ihnen anregende, freudige und eigensinnige Weihnachtstage!
Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Kleinmachnow und Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik Berlin.