Der erste Mondknoten und die Malerei

Michael Bennett

Die rhythmische Wiederkehr des Mondknotens im Lebenslauf ist oft mit »Geburtssituationen« verbunden. Alle 18 Jahre, 7 Monate und 9-10 Tage durchkreuzt der Mond die Sonnenbahn (Ekliptik) an fast derselben Stelle wie zum Geburtszeitpunkt. Dieser Moment bedeutet eine Wiederkehr der Sternenverhältnisse, die zur Geburtsstunde bestanden. Rudolf Steiner bezeichnet die Nächte dieser Zeit als die wichtigsten im Leben. Wie durch ein geöffnetes Fenster wird die Sternenwirksamkeit des Makrokosmos als ein großer Atmungsvorgang spürbar und der Mensch kann gewahr werden, dass er vom Makrokosmos ausgeatmet wird, um sich auf der Erde zu inkarnieren. 18 Atemzüge hat der Makrokosmos vollendet, 18 mal hat die Weltenseele auf ihrem jährlichen Weg durch Sommer und Winter ein- und ausgeatmet. Dieser Atmungsrhythmus entspricht laut Steiner einer makro­kosmischen Minute. Der Mond als erdnaher, nächtlicher Spiegel des

Sternenhimmels kommt in seinen veränderlichen Rhythmen dem menschlichen Freiheitsbedürfnis sehr nahe. Seine abwechselnde Ferne und Nähe, seine empfindliche Reaktion auf andere Wandelsterne und sein in Winkel und Breite immer neues Sichelbild machen den Mond zu einem vertrauten Begleiter der Seele bei ihrem Weg durch die Höhen und Tiefen der Freude und der Trauer.

Für kurze Zeit leuchtet bei der Wiederkehr des Mondknotens das Geburtssternenlicht in unser Leben herein und erinnert uns an die Schicksalsimpulse, die wir mitgebracht haben. Am Lesezeichen der Mondbewegung öffnet sich das Lebensbuch, in dessen von uns selbst geschriebener Erzählung sich Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsahnung in wachsender Selbsterkenntnis begegnen. Mit zunehmender Intensität wird dieser Augenblick im Laufe der Biographie zu einer ernsten Stunde innerer Rechenschaft. Denn hier stehen sich Schicksalsaufgaben – Begabungen und Hindernisse – und bewusste Selbstgestaltung gegenüber. Mondhaftes (Vergangenes) und Sonnenhaftes (Zukünftiges) schauen sich gegenseitig an. Mit dem 21. Jahr wird dann das Sonnenhafte im Menschen geboren, sein Ich.

Der Mondknoten bietet eine Chance für den Kunstunterricht

Die Epoche der expressionistischen Malerei bietet viele lohnende Ansätze. Auflösung und Entstehung von Neuem durchziehen die Lebenswirklichkeit der europäischen Menschheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Alte Formen und Maßstäbe weichen rapide zurück. Kaum ein Lebensbereich bleibt davon unberührt. Neue Impulse erschüttern das Fundament von Gesellschaft, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft und lösen Tiefenkräfte aus ihren Bindungen. Oft gehen Neuschöpfung und Zerstörung fast Hand in Hand. Im deutschen Großstadtexpressionismus schafft sich dieses Geschehen einen bildhaften Ausdruck mit vielen Facetten.

Das Mitempfinden der Geburtswehen des 20. Jahrhunderts bildet eine fruchtbare Grundlage für Bildinterpretationen, bei der die Kunstwerke mit der Biographie des Künstlers und dessen Zeit zusammen geschaut werden können. Von empfindsamer Wahrnehmung über die stilistische Analyse und die Würdigung des Zeitgeschehens können die Schüler im Erkennen des Darstellungsinteresses zu einem kreativen Aufsatz auf hohem Niveau gelangen. Besonders förderlich für das Erfassen der malerischen Stilmittel ist die aktive Pflege der Eigenschaftsworte. Ein Hell-Dunkel-Kontrast zum Beispiel wirkt qualitativ ganz anders bei Ernst L. Kirchner als bei Lyonel Feininger. Auf dem Hintergrund des durch die Mond-­dynamik ausgelösten Empfindungsreichtums ist die versach­-lichende Pflege der Eigenschaftswörter sehr wohl­tuend.

Noch reicher ist der erzieherische Gewinn beim Malen. Die Entdeckungen der expressionistischen Maler übend mitzuerleben, aus ihren kreativen Quellen zu schöpfen und Innerlich-Erlebtes malerisch umzusetzen, ist an dieser Stelle viel mehr als nur Lernen. Dank der biographischen Gunst der Stunde kann sich hier Tugend entwickeln. Ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der expressionistischen Malerei liegt im neuen Verhältnis zwischen Farbe und Räumlichkeit. Das größte Hindernis für die Entfaltung der malerischen Phantasie wurde im perspektivischen Raum gesehen. Damit die Schwere überwunden, eine schwerelose Malerei erreicht werden konnte, musste die zweite Dimension, die reine Fläche erobert werden. Hier sollte auch das innere Fluten der Bilder eine neue Heimat finden. Folglich wandte sich die neue Kunst auf ihrer Suche nach Ursprungsquellen vom passiven Abbilden der Dreidimensionalität ab. Die Grundelemente der Malerei – Punkt, Linie, Farbe und Fläche – sollten davon befreit werden, den herkömmlichen Sehraum abzubilden. Durch die Verselbstständigung der bildnerischen Elemente wurden nun Punkte, Linien, Farben und Flächen selbst zu Themen, zu bildwürdigen schöpferischen Kräften. In diesem Zusammenhang ist auch die dramatische Zertrümmerung des herkömmlichen Raum-Zeitgefüges durch die Kubisten und Futuristen zu verstehen. Zur Form gewordene Bildekräfte der Dreidimensionalität wurden entfesselt und wirkten rauschhaft, verwirrend, chaotisierend, zum Teil auch zerstörerisch.

Ein Fenster zur Welt in mir

Ansätze für das übende Malen bietet besonders das Werk Kandinskys und sein Ringen um den »inneren Klang« der Welt. Die Bilder »Komposition IV« (1911) und »Improvisation 35« (1911) sind der Versuch, ein Fenster zur Weltinnerlichkeit zu öffnen, wo Farbräume sehend und hörend erlebt werden. Fast zeitgleich enthüllte Rudolf Steiner die Welt des imaginativen Schauens, in der Farben Ausdruck von Wesenheiten sind und unterschiedliche Sinnesqualitäten ver­schmelzen. Die beiden Hauptschriften Kandinskys »Über das Geistige in der Kunst« (1911) und »Punkt und Linie zur Fläche« (1926) bieten eine Fülle von Anregungen für den praktischen Mal­unterricht.

Ergänzt durch Steiners Charakterisierung der Glanz- und Bildfarben, Goethes Farbenlehre und die sieben Kontraste von

Johannes Itten kann der praktische Lehrgang im expressionistischen Malen die Schüler befähigen, die Flächendynamik von Komposition und Farbklang (Kolorit) so zu handhaben, dass sie ihre eigene Bildvorstellung umsetzen können. Eine mögliche Aufgabe kann zum Beispiel lauten: Erstellen Sie ein Selbstporträt, in dem Sie vergangene, gegenwärtige oder zukünftige oder alle drei Ebenen Ihrer Persönlichkeit darstellen. Verwenden Sie vorrangig die von Kandinsky entwickelte Methode der Verselbstständigung der bildnerischen Elemente.

Gerade der Zeitpunkt zwischen dem ersten Mondknoten und der Ich-Geburt ist ein fruchtbarer Boden für das malerische Bemühen um ein stimmiges Verhältnis zwischen Komposition und Kolorit. Während graphische Momente in der Komposition zur Gerinnung und Verfestigung neigen, sind farbige Flächen in ihrem Dahinfluten musikalische Gesten der Auflösung. In diesem Sinne übend erwerben die Schüler ein Gespür dafür, dass alle Erscheinungen aus Gewordenem und Werdendem, aus Mondhaftem und Sonnen­haftem geflochten sind, auch sie selbst. Natürlich sind solche Seelenereignisse intim. Nie dürfen sie zum Unterrichts­gegenstand werden. Und doch ist die Hoffnung berechtigt, dass die fördernde Kraft der Kunst hier Pate stehen kann für eine wichtige Stufe der inneren Reife. Wenn das eintritt, dann wird der Jugend­liche vielleicht am Ende der Schulzeit die Empfindung haben: »Ich sage Ja zu mir selbst und zu den Aufgaben, die ich in mir ahne. Und ich möchte in aller Klarheit meine eigenen Entscheidungen und Motive durch mich selbst verantworten.« ‹›

Zum Autor: Michael Bennett ist seit 1986 Kunstpädagoge an der Freien Waldorfschule Flensburg. Seit 2014 ist er Schulberater für den Oberstufenaufbau an der Freien Waldorfschule Berlin, Prenzlauer Berg.

Literatur:

J. Schultz: Rhythmen der Sterne, Dornach 1977 | F. Roder: Der Mondknoten im Lebenslauf, Stuttgart 2007 | R. Steiner: Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, GA 201, Dornach 1920 | R. Steiner: Das Lukas-Evangelium, GA 114, Dornach 1909