Der Fähigkeit zur Polarisierung begegnen. Mut zu Verwandlungen in der Mittelstufe

Claus-Peter Röh

Die Schüler schauen im Verlauf des sechsten Schuljahres mit wachsender Distanz auf die Welt und es entstehen Spannungsfelder, die zu neuen Fragen führen: Warum hat Hannibal nach der gewonnenen Schlacht Rom nicht erobert? Warum ergeben die Unterschiede zwischen den Quadratzahlen eine endlose Kette ungerader Zahlen? Im Unterrichtsgespräch entzünden sich erste Warum-Fragen, die auf die gedankliche Kausalität abzielen. Die Urteilsbildung erwacht. Dieser neuen Fähigkeit kommen einerseits die Fächer der 6. Klasse entgegen: Zinsrechnung, konstruktive Geometrie, Physik oder Mineralogie. Andererseits gilt es, für den Unterricht immer wieder Aufgabenstellungen aus thematischen Rätseln, Gegensätzen und Spannungsräumen zu entwickeln und abzuspüren, welche Fragen in welchen Schülerpersönlichkeiten ent­stehen. Im Übergang von Klasse 6 zur Klasse 7 verstärkt sich das Bewusstsein der Schüler für die persönlichen Empfindungskräfte deutlich. Zu der damit einhergehenden wachsenden Amplitude zwischen bejahender Sympathie und unmittelbar ablehnender Antipathie gehört das Bedürfnis nach stetigen Gegenbewegungen zwischen den Polen. Diese Fähigkeit, nun gegen den Strom schwimmen zu können, sucht auch im Lernen nach Gegensätzen oder Polarisierungen. So werden von der Seite des Denkens die gegebenen Dinge unmittelbar hinterfragt: »Aber was sind denn eigentlich negative Zahlen? Sind das unsichtbare Schulden, oder so?« – »Aber wieso ergibt minus mal minus Plus und nicht Quadrat-Minus?“ Hier deutet das einleitende charakteristische »Aber« die innere Distanz an, zu der das Gefühl wachsender Eigenständigkeit ebenso gehört wie das der Einsamkeit. Wenn die jungen Menschen dieser Entwicklungsstufe lernen, mit der Berechnung abstrakter Zahlen und mit geometrischen Beweisen umzugehen, stehen die Lehrer der Mittelstufenklassen vor einer besonderen Herausforderung: Gibt es einen pädagogischen Weg, die neu sich bildende Fähigkeit des eigenen folgerichtigen Denkens nicht isoliert zu fördern, sondern als integralen Teil des ganzen Menschen? 

Phantasie und Gestaltungswille – die andere Seite des Menschen

Gerade weil in diesen Jahren des Umbruchs und der inneren Neuorientierung der kindlichen Seele die Grundlagen für alles Spätere gelegt werden, gilt es neben dem Denken eine zweite Seite des heranwachsenden Menschen so vielseitig und stark als nur möglich herauszufordern: das seelische Erleben, das Durchfühlen von Qualitäten, die Kräfte der Phantasie und des mitgestaltenden Willens. Von dieser Seite der Fähigkeiten wird es entscheidend abhängen, ob in späteren Lebenssituationen das klare gedankliche Verstehen mit Kräften des Einfühlungsvermögens, der seelischen Flexibilität und der Ideenfindung verbunden ist. Im Blick auf diese biographischen Wirkungen einer gesunden Gefühls- und Phantasieentwicklung fordert Rudolf Steiner schon bei der Schulgründung 1919:

»Daher müssen Sie darauf sinnen, dasjenige, was Sie in den letzten Volksschuljahren phantasievoll ausgestalten, zugleich mit Gefühlsmäßigem in ihrem eigenen Selbst zu durchdringen«

Rudolf Steiner, Erziehungskunst Methodisch-Didaktisches

Wie prägend gerade die Mittelstufenjahre für eine ganzheitliche, ausgewogene Ausbildung beider Linien sind, zeigt sich im Blick auf viele Biographien. Der langjährige Journalist und Nah-Ost-Korrespondent Peter Scholl-Latour beschreibt jenen Moment, in welchem er als 13-Jähriger begann, Reiseschreibungen und Entdeckungen von Sven Hedin, Maria Sibylla Merian oder Roald Amundsen zu lesen, als den Zeitpunkt, an dem sein Weltinteresse geboren wurde. In einem anderen Kulturraum schildert Nelson Mandela, mit welchem Interesse er als 13–14 Jähriger schwierige Verhandlungen im Rat seines Stammes verfolgte und dabei Prinzipien der Lösungsfindung entdeckte, welchen er sein ganzes Leben treu blieb: »Ich habe immer versucht, mir das anzuhören, was jeder Einzelne in einer Diskussion zu sagen hatte, bevor ich meine eigene Meinung vortrug« (Der lange Weg zur Freiheit). Das Auf­finden solcher nachhaltig prägenden Erlebnisse ermöglicht einen anderen Blick auf das Ende der Klassenlehrerzeit: Wie können wir als Lehrer und Eltern in Begegnungen mit den Schülerpersönlichkeiten lernen, solche individuellen Zukunftsansätze wahrzunehmen und zu unterstützen? Diese Frage führt zu einer rätselhaften pädagogischen Doppelgeste: Einerseits gilt es, den polarisierenden Empfindungskräften herausfordernd zu begegnen und Räume zu bilden für tiefe Erlebnisse, Kontraste, Fragen und Gedanken. Zugleich zeigt die Erfahrung in Schule und Elternhaus, dass die Schüler einer Klasse 7 und 8 auch das tiefe Bedürfnis haben, um diese gesuchten Entdeckungsräume herum noch die Aufmerksamkeit und die Sicherheit der vertrauten Erzieher zu erleben. Wer eine solche Doppelgeste ermöglichen will, braucht den Mut, entschieden andere Wege zu gehen, er muss sich im Moment des Unterrichts aber auch zurücknehmen können. Um individuelle Fragen, Gedanken, Betonungen oder Entscheidungen wahrzunehmen, braucht es eine Art peripherer Aufmerksamkeit. Aufflammende Resonanzen zwischen Individualität und Thema zeigen sich eben eher in der Unmittelbarkeit des Geschehens. So kann es vorkommen, dass eine Schülerin der Klasse 7 ein Referat über Elsa Brandström vorträgt und mit einer Begebenheit ihrer Jugendzeit plötzlich die ganze Klasse in ihren Bann schlägt: Diese wächst nach ihrer Kindheit in St. Petersburg im schwedischen Linköping auf. Sie ist sehr eigenwillig und als alle Gleichaltrigen mit ihr der Konfirmation entgegengehen, werden ihre Zweifel daran so groß, dass sie darauf besteht, den Bischof persönlich zu sprechen. Ihre Frage an ihn lautet: »Muss ich zur Konfirmation gehen, ob ich es will oder nicht?« – Sinnend antwortet der Bischof: »Nein, Elsa, niemand wird Dich dazu zwingen.« Erst diese Antwort gibt ihr den inneren Freiraum, sich für die Konfirmation zu entscheiden. In der Unmittelbarkeit jener Situation des Zweifels, der Frage und der Antwort erschien es, als würden viele Schüler einen inneren Entschluss fassen. Als sie anschließend hörten, mit welcher Kraft Elsa Brandström sich später als »der Engel von Sibirien« für die hungernden Gefangenen des 1. Weltkriegs einsetzte, fiel jedes Wort auf tiefe Zustimmung und Anerkennung. Solche Momente der Identitäts- und Willensfindung zu ermöglichen und immer neu mit der Fähigkeit des Befragens und Denkens zu verbinden, ist Ziel des Unterrichts in dieser Entwicklungsstufe. In diesem Sinne kann das Erleben und Umgehen mit seelischen Polarisierungen bei allen Beteiligten zur Quelle der Verwandlung und Neuorientierung werden.

Zum Autor: Claus-Peter Röh ist Co-Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum.