Der Fall

Leonhard Günther

Wir lebten in einer Wohnung genau neben der Mauer, ich hätte Westberlin aus dem Fenster sehen können, aber unsere Fenster wurden zugemauert, zur Sicherheit, dass keiner flüchtet, dass keiner über die Mauer springt aus dem fünften Stock. Der Strom wurde uns abgeschaltet.

Mein Vater saß im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Er hatte versucht, in einem Diplomatenauto in den Westen zu kommen. Am Checkpoint Charlie hat man ihn gekriegt. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als meine Mutter mir sagte: »Du wirst Deinen Vater nie wieder sehen!« Damit sollte sie recht behalten. Mein Vater starb an den Folgen der »Haftbedingungen«.

Nach dem Tod meines Vaters, wollte ich Freiheit, weg von hier, nie wieder Ost-Berlin. Vielleicht auf die Kanaren. Da soll es sehr warm sein, hatte ich gehört, aber bis dahin musste ich noch warten. Zwei Jahre und ein paar Monate. In dem Jahr vor dem Mauerfall nahm sich meine Mutter das Leben. Ich kam nach Hause und fand ihren leblosen Körper an einem Strick hängen. Ich heulte im Kerzenschein. Da sah ich einen Brief meiner Mutter, in dem stand:

»Liebster Kalle,

ich liebe dich sehr. Ich hoffe, du bist stark genug und hältst durch. So verspreche ich dir die Freiheit. Sie ist sehr nah, bleib so wie du bist und bleib geduldig!«

Ich fiel in schwere Trauer, ich lebte alleine, versorgte mich auch, soweit es ging, alleine. Dann endlich, am 9. November 1989, fiel die Mauer über Nacht. Sofort packte ich meine Sachen: Eine Packung Knäckebrot, eine kleine Flasche Wasser, alles Geld, was ich hatte, ein Buch, genauer »Emil und die Detektive«, mein absolutes Lieblingsbuch! Und ein Bild meiner Eltern, mehr nicht.

Als ich in Westberlin angekommen war, fragte ich mich: »Wie geht’s weiter? Wie komme ich auf die Kanaren? Muss ich fliegen? Ich hab wenig Geld und auch nur die Ost-Mark. Hier zahlt man mit DM.«

Es waren Flutwellen von Menschen, die über die Mauer sprangen, oder mit ihren Autos über die Grenze fuhren. Ich stellte mir vor, dass ich hier mit meinen Eltern stünde, aber es war nicht so. Ich stand allein unter vielen Menschen. Nicht ganz allein, meine Eltern begleiteten mich im Inneren. Mit dieser Einstellung machte ich mich auf den Weg zum Güterbahnhof. Von da fuhr ich als blinder Passagier in einem Viehanhänger mit. Wo es hin ging, wusste ich damals noch nicht, aber die ganze Zugfahrt über dachte ich mir, dass das wohl die große Freiheit war, von der meine Mutter geschrieben hatte.

Ich kam am Frankfurter Bahnhof an. Von dort fuhr ich in der Zugtoilette eines Regionalzuges mit. Ich kam durch viele Städte. Ich fand die Freiheit toll. Endlich durfte ich das sehen, was damals gar nicht möglich war, zu sehen: die wunderbare große Welt. –

»Nun dürft ihr in die Pause gehen!«, sagte der Zeitzeuge, den unser Geschichtslehrer eingeladen hatte und der uns aus der Zeit der Berliner Mauer erzählt hatte. Endlich konnte ich den Klassenraum verlassen, in meine wohlverdiente Pause gehen und die große Freiheit genießen.

Anmerkung: Der Text wurde von Leonhard Günther im Rahmen einer Geschichtsepoche in der 9. Klasse an der Freien Waldorfschule Sorsum verfasst.