Der Josephspfennig oder über die wundersame Vermehrung des Geldes

Michael Benner

Hartz IV wird um fünf Euro erhöht und die Hypo Real Estate Bank benötigt weitere 40.000.000.000 Euro vom Staat (von uns). Zwei Nachrichten innerhalb von zwei Wochen. Eine Wirtschaftstagung für Schüler an der Freien Waldorfschule Ismaning mit dem Thema: »Wirtschaft anders denken« widmete sich diesen Diskrepanzen. Eine neue Sicht auf das Geld konnte entwickelt werden. Denn Denkverbote denkerisch aufzubrechen fällt den Schülern leichter, da sie sich frisch, unvoreingenommen und ohne von Zins- und Renditeerwägungen vernebelt zu sein, also ohne Dollar-Zeichen in den Augen, rein aus Erkenntnisinteresse auf die gestellten Fragen einlassen können.

Für einen Erwachsenen läuft eventuell noch ein zweiter Film im Hintergrund: Passen die erarbeiteten Erkenntnisse und Ideale noch zum eigenen Handeln? Wie viel »Sündenfall« trennt einen schon von den Schülern. Hier kann sich jeder Leser also selber testen.

Denkverbot Zinsen? Ein Beispiel

Auf der Tagung an der Ismaninger Waldorfschule wurde folgendes Beispiel von meinem Würzburger Kollegen Klaus Rohrbach angesprochen. Ich greife es gerne in meinem Unterricht auf, um ein kritisches Gespräch über die Rolle von Zins und Rendite anzuregen.

»Hätte Joseph, als verantwortlicher Vater von Jesus zur Geburt seines Sohnes einen Cent bei der Sparkasse Bethlehem angelegt und einen jährlichen Zins von 5 Prozent vereinbart ...«

Nehmen wir einmal an, diese Geschichte habe so stattgefunden, wenn sie auch sicher zu einem Vater-Sohn-Konflikt geführt hätte.

Bei einer Verzinsung von 5 Prozent (einschließlich Zinseszins) verdoppelt sich die angelegte Summe in ca. 14 Jahren. Dieser Vorgang wird exponentielles Wachstum genannt.

Nehmen wir weiterhin an, die Erben von Jesus hätten im Jahr 2000 das Vertrauen in die israelischen Sparkassen verloren und wären dem Rat gefolgt, den man immer häufiger lesen kann, dass man zur Vermögensabsicherung in Edelmetalle investieren soll. Nehmen wir auch an, sie hätten sich gesagt, die Goldgewinnung ist ökologisch erheblich problematischer als die Silbergewinnung, deshalb wollen wir uns unser Erbe in Silberbarren auszahlen lassen.

Der Auftrag an die Bethlehemer Sparkasse im Jahr 2000 würde also lauten: »Bitte liefern Sie den ursprünglich angelegten Cent einschließlich der aufgelaufenen Zinsen und Zinseszinsen in Form von 1 kg Silberbarren an unsere Ihnen bekannte Heimatadresse in Bethlehem«.

Zu liefern wären 23 Billionen Silberkugeln je (wie der nachfolgende Text zeigt) vom Gewicht unserer Erde oder

23.900.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000 Euro oder = 23,9 X 1039 Euro

Da ich noch niemanden getroffen habe, der das glauben mochte, hilft nur ein Taschenrechner.

Die Hausbank wird nicht liefern können und jeder versteht, warum.

Nicht einmal eine Silberkugel vom Gewicht unserer Erde wird sie liefern können, geschweige denn 23 Billionen!

Bis zur Auftragserteilung gab es übrigens kein Problem und das ist symptomatisch.

Die Zahl von 23.900.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000 Euro

stand im Computer und konnte, eine kleine Schriftgröße vorausgesetzt, auch auf dem Bildschirm angezeigt werden. Auch die Erhöhung der Summe am Jahresende um jeweils 5 Prozent war ein ganz »normaler« Vorgang. Fast jedem von uns werden am Jahresende die Zinsen von zur Zeit 1,4 Prozent gutgeschrieben, weil unser Geld ja »gearbeitet« hat.

Das Problem tritt also erst ein, wenn die lautlose und auf dem Papier irgendwie wirkungslose Vermehrung in die Realität geholt werden soll. Wäre unser Geld noch mit Gold oder anderen Sachwerten wie Grundstücken gedeckt, würde man bemerken, dass dem Zinseszins Grundstücke im Wert von mehreren Erden hinterlegt sein müssten. Es ist also die Verknüpfung der Abstraktion des ungedeckten Geldes mit der Mathematik des Zinseszinses, die das Unmögliche scheinbar möglich macht.

Nun gibt es noch eine kleine interessante Parallelrechnung, die zum Vergleich mit dem obigen Beispiel recht lehrreich ist.

Nehmen wir an, Josef hätte, veranlasst durch die Kritik seines Sohnes, den Vertrag mit der Bethlehemer Sparkasse ganz leicht modifiziert, indem er vereinbart hätte, dass zwar jedes Jahr die Zinsen von 5 Prozent gezahlt und gesammelt, die Zinseszinsen aber nicht berechnet und nicht gezahlt werden sollen.

Im Jahr 1 wäre der Kontostand bei beiden Varianten noch gleich gewesen.

1 Cent + 5 Prozent ergibt 1,05 Cent. oder 0,0105 Euro. Im zweiten Jahr, dem ersten Jahr, in dem Zinseszinsen auflaufen, ergibt sich ein minimaler Unterschied.

Variante A mit Zinseszins: 1,05 Cent + 5 Prozent auf 1,05 Cent = 1,1025 Cent

Variante B ohne Zinseszins: 1,05 Cent + 5 Prozent auf 1 Cent = 1,1  Cent.

Josef hat also im Namen und mit Einverständnis von Jesus auf die Differenz von 0,0025 Cent verzichtet. Das ist verschmerzbar, weil er ja die Hauptsumme an Zinsen, nämlich 0,05 Cent bekommen hat. Der Zins ist logischerweise 20 mal so hoch wie der Zinseszins.

Wie sieht also das Vermögen nach 2000 Jahren mit diesem kleinen Verzicht aus?

Die Rechnung ist im Gegensatz zu der vorherigen Rechnung ganz einfach und kann im Kopf ausgeführt werden. Bei 5 Prozent Zinsen erreicht man in 20 Jahren eine Verdoppelung der angelegten Summe (5 Prozent x 20 = 100 Prozent = 1 Cent). In 200 Jahren hat man also 10 Cent Zinsen erwirtschaftet und in 2000 Jahren sind es 100 Cent, also 1 Euro. Und das ist ja gar nicht schlecht.

Es ist eine Verhundertfachung des eingesetzten Kapitals und das ohne Arbeit und praktisch wie im Schlaf oder im Tiefschlaf, weil die Nachfahren von Jesus ja die ganzen Jahrhunderte nicht an das sich vermehrende Vermögen gedacht hatten.

Noch mal:

Mit 5 Prozent Zins, aber ohne Zinseszins wird aus einem Cent in 2000 Jahren 1 Euro

Mit 5 Prozent Zins und Zinseszins werden aus einem Cent in 2000 Jahren

23.900.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000 Euro.

Die Differenz von 23.899.999.999.999.999.999.999.999.999.999.999.999.999 Euro

wird also ausschließlich vom Zinseszins verursacht.

Das bedeutet: Theoretisch (auf dem Papier oder im Computer programmiert) ist der Zinseszins durchaus denkbar und somit auch berechenbar, praktisch ist er zerstörerisch.

Das merkt man, wenn man sich vorstellt, dass Josefs Erben der Hausbank mit dem Gerichtsvollzieher drohen, weil sie nicht liefert.

Die Hausbank würde dann, um ihren guten Ruf nicht zu verlieren und auch um den Zinseszinsgedanken nicht in Misskredit zu bringen, die gesamte Erde bis in die tiefsten Tiefen durchwühlen lassen um Silber zu beschaffen.

Aber jeder 9.-Klässler weiß es schon: Selbst wenn der durchschnittliche Silbergehalt der Erde 10 Prozent betrüge und die Jerusalemer Hausbank weltweite Schürfrechte erworben hätte und die Technik zur Verfügung stünde, bis zum Erdmittelpunkt zu schürfen kämen nur ein Zehntel vom Gewicht einer Erdkugel heraus. Tatsächlich erreichen die tiefsten Bohrungen heute rund 14 Kilometer, knapp 1/500 der Strecke bis zum Erdmittelpunkt, und der Silbergehalt der Erde beträgt 0,0000079 Prozent der Erdkruste.

Liefern muss die Bank aber 23.559.000.000.000 Silberkugeln vom Gewicht unserer Erde.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann graben sie noch heute.

www.sinnestäuschung-gibt-es-nicht.de

Thementage »Wirtschaft anders denken« an der Rudolf-Steiner-Schule Ismaning: www.wirtschaft-anders-denken.de