Der »Klassenlehrer« – modern oder antiquiert?

Heiner Ullrich, Walter Riethmüller

Erziehungskunst | Herr Ullrich, warum halten Sie das an Waldorfschulen praktizierte Klassenlehrerprinzip für überholt?

Heiner Ullrich | Erziehungsgeschichtlich gesehen ist das Klassenlehrerprinzip ein Relikt der patriarchalisch geführten achtklassigen Volksschule des späten 19. Jahrhunderts. Der damit verbundene, weit ausgreifende Führungsanspruch der Lehrperson kollidiert heute mit den wissenschaftlichen Ansprüchen der einzelnen Schulfächer, den größeren Selbstständigkeitsansprüchen der Heranwachsenden und mit deren immer stärker ins Gewicht fallenden außerschulischen medialen Orientierungen. – Allerdings halte ich die Rolle des Klassenlehrers  nicht für überholt, plädiere aber für eine Verkürzung auf vier bis sechs Jahre. Danach sollte er durch einen Mentor abgelöst werden, der nicht mehr als zwei oder drei Schulfächer in der Klasse unterrichtet. Wenn in einer acht Jahre langen Klassenlehrerzeit keine positive Beziehung hergestellt wird, führt dies für die Schüler zu dauerhaften Belastungen, zu Verkennungen und Misserfolgen. Dies zeigen gerade die Analysen der misslingenden Fälle in unserer Studie über Klassenlehrer-Schüler-Beziehungen an Waldorfschulen im achten Schuljahr. 

EK | Herr Riethmüller, warum ist das Klassenlehrermodell nicht veraltet?

Walter Riethmüller | Weil alle Erziehung Beziehung ist! Und diese kann gar nicht »veralten« oder aus der Mode kommen. Ich möchte nur auf das vor kurzem in Buchform erschienene Gespräch des Züricher Journalisten Martin Beglinger mit dem bedeutenden Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo verweisen, in dem jeder Satz dieses Diktum unterstreicht. Das Klassenlehrerprinzip ist nur von diesem Grundsatz her zu verstehen. Es entzieht sich einem historischen Vergleich, weil ein solcher Vergleich Unvergleichbares gleichsetzt. Steiner räumt ja mit dem Paradigma der »Lernschule« alten Typs gründlich auf! Nur auf den ersten Blick scheinen sich Übereinstimmungen zu ergeben.

Die Bedeutung der Beziehung für einen gelingenden Lernprozess wird auch durch aktuelle empirische Studien unterstützt. Die in Kürze erscheinende »Schülerzufrieden­heitsstudie«, in der eine repräsentative Anzahl von Waldorfschülern nach ihren Erfahrungen mit dem Klassen­lehrer- prinzip befragt wird, stützt dieses – wenn auch kritisch – eindrucksvoll.

Übrigens spielt die Wissenschaftlichkeit, wenn es ihr denn gelänge, den Unterricht tatsächlich wirksam zu befruchten, im Vergleich zur Beziehungskomponente eine untergeordnete Rolle. 

EK | Herr Ullrich, einer ihrer Kritikpunkte ist die angebliche Fokussierung der Schüler auf eine Lehrerpersönlichkeit über acht Jahre hinweg. Ihr Züricher Wissenschaftskollege Jürgen Oelkers meinte dazu bei einem Podiumsgespräch im Stuttgarter Kunstmuseum, dass das gerade ein unverzichtbares Alleinstellungsmerkmal der Waldorfschulen sei, weil es in der Schule an Vorbildern fehle.

HU |  Positive Wirkungen des Klassenlehrers können in der Herstellung langjähriger sozio-emotionaler Stabilität und der Durchsetzung verbindlicher Regeln, verlässlicher Reviere und stabiler Routinen liegen. Angesichts der Pluralisierung und Enttraditionalisierung der sozialen Lebensformen und der fragiler werdenden familialen Beziehungen wird dies für immer mehr Kinder wichtig. Die Lehrperson kann durch ihr Handeln im Unterricht und durch ihr pädagogisches Verstehen für die Kinder ein Vorbild sein; die Kindheit endet heute allerdings zumeist mit dem zwölften Lebensjahr. Den frühadoleszenten Schülern sollten die Lehrer nur noch Beispiel geben für den Umgang mit fachlichen Ansprüchen und sozialen Konflikten. Ihre pädagogische Autorität ist konstitutiv auf die Anerkennung durch die Schüler angewiesen; zuviel Nähe und besserwisserische Betulichkeit belastet die pädagogischen Beziehungen. Schüler verlangen heute viel früher nach Selbstständigkeit und suchen die Auseinandersetzung mit einem größeren Umkreis von Personen.

Deshalb sollte sich die Professionalität einer verantwortungsbewussten Lehrperson gerade darin zeigen, dass sie ihren pädagogischen Einfluss auf die Heranwachsenden schrittweise zurücknimmt. 

EK | Herr Riethmüller, der Autoritätsbegriff ist spätestens seit Bernhard Buebs Buch »Lob der Disziplin« wieder in der pädagogischen Diskussion. Ist die »geliebte Autorität« nicht Schnee von gestern?

WR | Die Klassenlehrerin, der Klassenlehrer als »Tor zur Welt«: Wenn ich dieses Verständnis vom Klassenlehrer anlege, dann ist es doch ziemlich gleichgültig, ob es gestern geschneit hat oder nicht – wenn frischer Weltwind durch die Vermittlung des Unterrichtenden die Kinderseelen belebt, dann »lieben« sie ihre Lehrer, weil sie an ihnen die Fähigkeit des »Wettermachens« schätzen. Disziplin tritt immer dann als Frage auf, wenn genau dieser Wind nicht mehr erfrischt: höchste Zeit für den Lehrer, sich nun nicht disziplinierend autoritär zu gebärden, sondern die Wetterlage zu studieren! 

EK | Herr Ullrich, ein weiterer Kritikpunkt ist die vermeintliche fachliche Inkompetenz des Klassenlehrers, der viele Fächer, wie zum Beispiel Chemie oder Geschichte abdecken muss.

HU |  Sekundarschullehrer an öffentlichen Schulen haben bisher an Universitäten in fünf bis sechs Jahren zwei Schulfächer mit starker Wissenschaftsorientierung studiert; Waldorfklassenlehrer lernen bislang an Seminaren und Hochschulen in drei bis vier Jahren die Inhalte von acht Fächern in einer betont künstlerisch-praktischen Ausrichtung unter dem weltanschaulichen Dach der Anthropologie Rudolf Steiners. Da liegt der Vorwurf des fachlichen Dilettantismus natürlich auf der Hand. Und die Beschwörung des pädagogischen Idealismus macht die Sache auch nicht überzeugender. Lehrer brauchen als Grundlagen eines erziehenden Unterrichts ein solides fachliches, fachdidaktisches und pädagogisches Wissen; Motivation und Ethos können hier alleine wenig bewirken. Nichts schafft bei Schülern langfristig ein größeres Interesse als die Liebe des Lehrers zum Fach.

Für die Lehrkräfte an staatlichen Schulen wünschte man sich zwar ein Stück von der praktischen »Einwurzelung« des Waldorflehrers; Waldorfklassenlehrer sollten aber dringend mehr Fachdidaktik lernen  und am bildungswissenschaft­lichen Diskurs teilnehmen – insbesondere über die veränderten Bedingungen des Aufwachsens heute und über neue Formen des Lehrens und Lernens. Dies würde ihr Verständnis für die Pluralität heutiger Lebensstile erweitern und ebenso ihre Kompetenzen für den Umgang mit der wachsenden Heterogenität in ihrer Schulklasse. 

EK | Herr Riethmüller, ist der angebliche fachliche Dilettantismus pädagogisches Programm oder tatsächlich ein Problem an den Schulen?

WR | Unterricht kann nur gelingen, wenn genügend Fachkompetenz vorhanden ist – insofern ist jeder Dilettantismus natürlich von Übel, er darf an keiner Schule der Welt gebilligt werden! Und eine gründliche Vertiefung bestimmter grundlegender Fächer während des Studiums ist selbstverständlich nur zu begrüßen. Verstehen wir den Klassenlehrer aber doch nicht als Dilettanten – das ist mir viel zu abwertend. Verstehen wir ihn  als Universalisten, der fächermäßig breit aufgestellt ist, der überdies an den Stellen, an denen er wenig Standfestigkeit verspürt, diese aktiv erwirbt – dann ist das keine überfordernde Aufgabe, sondern eine Lebensnotwendigkeit. Warum sollte der Lehrer sich der Aufgabe des »lebenslangen Lernens« entziehen, wenn er doch die Schüler gerade dazu befähigen soll?

Außerdem erleben die Schüler, wie sich der Lehrer entwickelt, wie er sich bemüht, und dann auch noch seine Lernerfolge nicht nur im Stillen genießt, sondern sie an ihnen teilhaben lässt. Das ist doch tief befriedigend, wenn sie erleben können, dass man durch intensives Bemühen etwas lernen kann, selbst noch als Erwachsener … Ich gehe im übrigen davon aus, dass jeder Unterrichtende, wenn er spürt, dass er in einem bestimmten Stoffgebiet partout nicht heimisch werden kann, sich Hilfe von kompetenten Kollegen holt. Wer sagt denn, dass man gerade ab Klasse 7 alle Fächer unterrichten muss? Das lag niemals im Sinne des Erfinders! Hier gibt es genügend Möglichkeiten, individuell abgestimmte und bewegliche Verfahren zu finden, damit das Lern- und Wissensbedürfnis der Schüler angemessen befriedigt und fachlich vertieft werden kann! Ich plädiere allerdings für eine verantwortliche individuelle Lösung und kann nicht verstehen, warum man das ganze System über Bord werfen soll, nur weil es an einigen Stellen knirscht. 

EK | Was ist die Grundidee oder was sind die anthropologischen Grundlagen des Klassenlehrers?

WR | Lassen Sie mich an dieser Stelle einen für mich persönlich ganz bedeutsamen Gedanken Steiners anführen: Für den »modernen« Lehrer gelte es, festzustellen, ob er eine »ersprießliche Beziehung« zum werdenden Menschen herstellen kann, ob er mit seiner ganzen Seele untertauchen kann in das Wesen des werdenden Menschen. Dann wird er nicht »Leselehrer, Rechenlehrer, Zeichenlehrer« und so weiter sein, sondern dann wird er »der Bildner des werdenden Menschen sein können«.

Der Lehrer als Taucher im Meer der Entwicklungspsychologie, der Anthropologie, der »Menschenkunde« – das ist mehr, als sich mit den genannten Inhalten beiläufig zu benetzen, nein, man muss schon richtig nass werden, von Kopf bis Fuß …

EK | Herr Ullrich, wird aus erziehungswissenschaftlicher Sicht dieser Ansatz nicht auch bestätigt – man denke an das genetische oder entdeckende Lernen?

HU |  Da gibt es durchaus Parallelen: Durch den Unterrichtseinstieg bei den Alltagsphänomenen und das lange Verweilen in der Anschaulichkeit ergeben sich deutliche Berührungspunkte zum genetischen Lehren und zur Lehrkunstdidaktik. Allerdings setzen diese didaktischen Ansätze des dialogischen Lernens inzwischen noch stärker darauf, den Wissenstransport umzukehren: vom Schüler zum Lehrer statt umgekehrt. Sie bauen auf die Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten des Internets statt auf den traditionellen entwickelnden Frontalunterricht. Im Mittelpunkt steht die aktive Aneignung der Lerninhalte im Kleingruppenunterricht – nicht etwa nur die Einbeziehung des individuellen »Schlafgeschehens« wie in der Waldorfdidaktik. 

EK | Herr Ullrich, besteht die Gefahr der permanenten Überforderung des Klassenlehrers durch seinen Anspruch »Seelenführer« der Kinder und »Menschheitslehrer« zu sein? Was können Sie Klassenlehrern empfehlen, um nicht in die Burnout-Falle zu tappen?

HU |  Das Arbeitsengagement, die Widerstandsfähigkeit und das berufliche Erfolgserleben hängen zum einen von den Kompetenzen ab, die die Lehrpersonen auf ihrem je spezi­fischen berufsbiographischen Professionalisierungspfad erworben haben, zum anderen von ihrem Umgang mit der strukturell herausgehobenen Rolle als Klassenlehrer an ihrer Waldorfschule.

Mit dem Anspruch eines pädagogischen Monarchen, der für alles in seiner Klasse zuständig ist und Schüler aller Be­gabungsniveaus und -profile fördern will, ist Überforderung ebenso verbunden wie spätere Erschöpfung und Resignation.

Als motivierend und entlastend kann ein freiwillig gewähltes Heraustreten aus der Einzelkämpferrolle erlebt werden: in gemeinsamen Fallbesprechungen und Supervisionen, in der Mitarbeit in kollegialen Steuergruppen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung oder bei Hospitationen im Rahmen der Schulevaluation. Dies zeigt unsere aktuelle Studie über effektive Formen der Lehrerkooperation, an der auch eine Mandatsgruppe aus einer Waldorfschule teilgenommen hat. Die einfachste Möglichkeit der kollegialen Entlastung liegt übrigens darin, sich gegenseitig die Materialien für die Unterrichtsepochen zur Verfügung zu stellen. Der Stabilisierung des beruflichen Engagements kann auch die Er­arbeitung neuer Methoden und Kommunikationsformen in einer »professionellen Lerngemeinschaft« dienen. Dafür kann man durchaus einige Wochen im Schuljahr auf die Teilnahme an der Pädagogischen Konferenz verzichten. 

EK | Herr Riethmüller, meinen Sie, dass Burnout bei Waldorflehrern stärker verbreitet ist als bei Lehrern anderer Schulen?

WR | Leider kenne ich keine belastbaren Vergleichszahlen, und hier etwas zu meinen, halte ich für wenig hilfreich. Ich stimme zu: Der Lehrer als Monarch, der sich als Selbstherrscher versteht, der alles und jedes nur seiner eigenen Selbstkompetenz zuspricht und nicht delegieren kann, steht auf verlorenem Posten und der Burnout ist programmiert!

Wenn neben dem notwendigen Idealismus, ohne den im Lehrerberuf gar nichts geht, auch noch der Sinn entdeckt wird und den Alltag im Unterricht belebt, dann ist die Gefahr eines möglichen Burnouts zumindest reduziert. Ich wage zu glauben, dass es noch genug Kolleginnen und Kollegen gibt, die gerade aus diesem Grund den Lehrerberuf an einer Waldorfschule ausüben.