Der Mensch lebt nicht im Kopf allein

Henning Kullak-Ublick

Ein Kind, das morgens in die Klasse kommt, lebt immer in zwei Welten: Einerseits ziehen Sinneseindrücke, Empfindungen, Gedanken, Bilder und Vorstellungen durch sein Bewusstsein, andererseits hat es gut oder schlecht geschlafen, ist müde oder wach, hat gut oder schlecht gefrühstückt und ist entsprechend satt oder hungrig, kurz: Es muss sich nicht nur mit seinen Gedanken, sondern auch mit seinem Wachstum und seinem Stoffwechsel auseinandersetzen. Kein Kind schickt nur seinen Kopf in die Schule! Es nimmt immer sein ganzes Wesen mit, und alles, was es tut, wirkt auf den ganzen Menschen zurück. Diese Wechselbeziehung ist eine der wichtigsten Forschungsaufgaben der Waldorfpädagogi

Während der Schädel das bewegungslose, schwerelos schwimmende, aber ungeheuer energiehungrige Gehirn umschließt – es verbraucht fast ein Viertel der gesamten Körperenergie –, ist der Verdauungsorganismus ein überaus reger Verwandlungskünstler, der den ganzen Körper mit Energie versorgt und eng mit dem Bewegungsmenschen verbunden ist. Zwischen diesen beiden Polen wirkt ein nimmermüder Vermittler, der in den Brustorganen Herz und Lunge am prägnantesten in Erscheinung tritt: der alle Organe durchziehende Rhythmus.

Die funktionale Dreigliederung des menschlichen Organismus:

• Kopf – Nerven- und Sinneszentrale (Gehirn) – Ruhe

• Brust – Atmung und Kreislauf (Lunge und Herz) – Rhythmus

• Rumpf – Stoffwechsel und Gliedmaßen (Verdauung) – Bewegung

Das Nerven-Sinnes-System, das rhythmische und das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System sind jeweils im gesamten Organismus wirksam, aber sie haben ihre Hauptorgane entweder im Kopf (Gehirn), in der Brust (Herz und Lunge) oder im Rumpf (Verdauung, Bewegungsorganismus).

Eine der bedeutendsten Entdeckungen Rudolf Steiners war, dass er die Trichotomie, also die geistige, seelische und leibliche Existenz des Menschen, nicht nur als philosophische Idee postulieren, sondern die Wechselwirkungen dieser drei Daseinsebenen konkret aufeinander beziehen konnte. In seinem Werk »Von Seelenrätseln« stellte Steiner diese Beziehungen erstmals systematisch dar. Damit schuf er die Grundlage für eine pädagogische Idee, die unter dem Stichwort Salutogenese erst in jüngster Zeit in ihrer zukunftsweisenden Bedeutung erkannt wird. Jede seelische Aktivität, sei es das Denken, Fühlen oder Wollen, korrespondiert mit einer der oben erwähnten Körperfunktionen. Unmittelbar einleuchtend ist, dass das Gehirn als Zentralorgan unseres Nerven-Sinnes-Systems die körperliche Grundlage des Denkens ist. Dass unser rhythmisches System (insbesondere die Atmung und der Blutkreislauf) die leibliche Grundlage für das Fühlen ist, bedarf schon eines genaueren Blickes: Wenn jemandem vor Schreck der »Atem stockt«, sein »Blut in Wallung« gerät oder »in den Adern gefriert«, wenn er errötet, erblasst oder in der Hektik »atemlos« wird, wird dieser Zusammenhang evident. Schwieriger ist es, den Zusammenhang des Willens mit dem Stoffwechsel und den Gliedmaßen zu erkennen. Aber jeder Mensch kennt aus eigener Erfahrung, dass man sich mitunter nur schwer zu einer Handlung »aufraffen« kann, sich dann schwerfällig dahinschleppt oder aber energisch auf ein Ziel »zugeht«. Wir erleben die körperlich wirkende Seite des Willens niemals direkt, sondern immer nur als Wirkung. Wenn wir den Arm heben, können wir das zwar sehen, aber den eigentlichen Vorgang »verschlafen« wir. So gehören jeweils ein körperliches Funktionssystem, eine seelische Aktivität und ein bestimmter Bewusstseinszustand zusammen:

• Nerven-Sinnes-System – Denken – Wachen

• Rhythmisches System – Fühlen – Träumen

• Stoffwechsel-Gliedmaßen-System – Wollen – Schlafen

Was sich zunächst wie ein trockenes Schema liest, ist eine sehr lebendige Realität. Für die Erziehung ist diese Entdeckung von entscheidender Bedeutung, weil jede Tätigkeit, die wir mit den Kindern ausführen, auch auf ihre Konstitution wirkt. Es lernt niemals nur der Kopf, sondern immer der ganze Mensch. Stopft man Kinder dauernd mit Definitionen oder Erklärungen voll, spricht also nur ihren Kopf an, zehrt man sie physisch aus. Sie werden blass, müde, nervös und schlapp. Umgekehrt gibt es immer mehr fettleibige Kinder, die von ihren Stoffwechselvorgängen geradezu überwältigt werden. Statt im Kopf richtig aufzuwachen, entwickeln sie eine Tendenz zur Dumpfheit, die keineswegs angeboren, sehr wohl aber anerzogen ist.

Die Urgebärde des Lernens

Kinder brauchen, wie jeder Mensch, zum Lernen einen lebendigen Wechsel zwischen Handlungen, Gefühlserlebnissen und Denkerfahrungen. Jedes Kind erobert zu Beginn seines Lebens drei große Freiheitsfähigkeiten. Es beginnt immer mit der vorbehaltlosen Hingabe an seine Umgebung: Zunächst ahmt es die Erwachsenen nach, indem es so lange übt, bis es sich aufrichten und gehen kann. Seine Sprache erwirbt es durch seine Hingabe an seine sprechende Umgebung ohne jemals ein Grammatikbuch in die Hand zu nehmen. An der Muttersprache entzündet sich sein Denken. Was mit reiner Willensanstrengung beginnt (Aufrichten, Gehen), verinnerlicht sich (Sprache) und wird schließlich zum reflektierenden Bewusstsein (Denken). Diese drei Schritte sind deshalb so bemerkenswert, weil sie alle mit der Hingabe an die Umgebung beginnen und sich dann durch Üben zu einer indi­viduellen Fähigkeit entwickeln.

Auch der Unterricht an der Waldorfschule beginnt für die jüngeren Kinder meistens mit Bewegungen wie Geschicklichkeits- und Balanceübungen oder Fingerspielen. Das hilft nicht nur, morgens in der Klasse anzukommen, sondern auch, den eigenen Körper zu entdecken und zu erobern und wirkt bis in die Bildung differenzierter Gehirnstrukturen.

Der Bewegungsmensch ist, wie wir oben sahen, eng mit dem Willensleben verbunden. Eine der wichtigsten Herausforderungen für jedes Kind ist es, seinen zunächst ganz in den Bewegungsabläufen aufgehenden Willen im Bewusstsein aktivieren zu lernen. Der Weg dahin ist mühsam und führt stufenweise von der Gedächtnisbildung über die Phantasie zum logischen Denken.

Dem Rhythmus kommt dabei eine wichtige Rolle zu, weil er dafür sorgt, dass die weckenden und bewusstseinsbildenden, vegetativ aber zehrenden Tätigkeiten sich mit lösenden und aufbauenden Phasen abwechseln. Im Lehrerkurs vor der Gründung der ersten Waldorfschule widmete Steiner große Teile seiner einführenden Betrachtungen dem Rhythmus und der Frage, wie Kinder gesund einatmen und ausatmen, einschlafen und aufwachen lernen können. Er hatte dabei zunächst gar nicht das gemeinsame Üben von allerlei Rhythmen im Auge, sondern zielte auf grundlegende Methoden des Unterrichtens ab, wie die wechselnden Phasen der Konzentration und Entspannung, des Sprechens und Zuhörens, des Betrachtens und Handelns.

Der eigenen Urteilskraft vertrauen lernen

Denn selbstverständlich erschöpft sich Lernen nicht in Rhythmus und Bewegung. Was erfahren wird, muss auch gedanklich durchdrungen werden. Das fordert ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit und Reflexionsvermögen.

Wiederholungen, genaue Beobachtungen, exakte Beschreibungen und die Lust am Fragen gehören dazu ebenso wie die Gestaltung der Epochenhefte. Diese Willensanstrengung gibt dem Verstehen eine individuell erarbeitete Tiefe. An die Stelle genormter Lernziele tritt ein tätig errungenes Vertrauen in die eigene Denkfähigkeit und Urteilskraft.

Die oben beschriebene Urgebärde des Lernens ist immer wirksam, wenn Kinder zuerst etwas tun, es dann in vielen Facetten durchleben und es schließlich auf den Punkt bringen, also begrifflich erfassen. Erstklässler können beispielsweise üben, eine Einmaleinsreihe rhythmisch zu laufen und zu sprechen. Wenn sie das ein paar Mal überschlafen und wieder aufgeweckt haben, werfen sie sich vielleicht einen Ball zu: Wer ihn fängt, muss die nächste Zahl der Reihe sagen. Schließlich werden sie durcheinander abgefragt. So geht das zunächst in der Bewegung (Wille, Gliedmaßen) verankerte Wissen über das Rhythmusgedächtnis (Fühlen) ins wache Kopfgedächtnis über: Der ganze Mensch ist am Lernen beteiligt.

Eine altersgemäße Variation lässt sich am Physikunterricht der Mittelstufe zeigen. Eine Schülergruppe pustet einen leichten, schwarzen Müllsack locker auf, bindet ihn am Ende zu und legt ihn in die pralle Sonne. Eine zweite Gruppe baut eine hauchdünne Papierglocke, unter der sie ein Teelicht befestigt und wieder eine andere Gruppe beobachtet den Funkenflug eines Lagerfeuers. Alle beschreiben ganz genau, was sie getan und dann beobachtet haben. Am nächsten Tag bereiten sie schon ein neues Experiment vor, erinnern sich aber zunächst an die Experimente des Vortags und tauschen ihre Beobachtungen unter Zuhilfenahme aller verfügbaren Sinnesqualitäten aus. Am dritten Tag fassen sie ihre Erkenntnisse zu einem Gesetz zusammen, in diesem Fall zur Thermik.

Daran lassen sich neue Fragen und Experimente knüpfen, deren entscheidender Wert darin liegt, dass die Schüler ihre eigenen Handlungen, Beobachtungen und die Erkenntnisbildung auseinander haben hervorgehen lassen. Natürlich hätte man auch schon am ersten Tag ein Gesetz definieren können, aber das hier geschilderte Vorgehen schafft erst Vertrauen in die eigene Urteilskraft. Eine in Österreich separat ausgewertete PISA-Studie zum naturwissenschaftlichen Lernen führte die weit überdurchschnittlichen Fähigkeiten der Waldorfschüler unmittelbar auf diesen Unterrichtsansatz zurück.

»Erzählen Sie Märchen!«

Einstein wurde einmal gefragt, wie man eigentlich Genies erziehen könne. Seine Antwort kam prompt: »Erzählen Sie den Kindern Märchen!« Auf die Nachfrage, was man denn aber zusätzlich noch tun könne, antwortete er: »Erzählen Sie ihnen noch mehr Märchen!« Märchen leben in der Verwandlung und regen die Phantasie der Kinder an, die sich das Erzählte beim Hören plastisch vorstellen. Dazu müssen sie ihren ansonsten in den Leibesvorgängen schlafenden Willen seelisch aktivieren. Der Dreischritt vom eigenen Handeln über das Erleben bis zum selbstständigen Erkennen ist der moderne Weg des Lernens. Er schafft die Grundlage für den umgekehrten Weg, der aus der frei gewonnenen Erkenntnis zu selbst bestimmten Handlungen führt. Erziehung zur Freiheit ist, bei Licht betrachtet, stets mehr als die Summe von Kopf, Herz und Hand.