Der Pädagoge Comenius. Zum 350. Todestag des Jan Amos Komenský

Johannes Kiersch

Am Zweiten Weltkrieg scheiterten beide. Die gebildeten Eliten, die noch von den Ideen Platons reden konnten, hatten sich der Nazi-Ideologie gegenüber als vollkommen hilflos erwiesen. Die jungen Idealisten, soweit sie nicht dem Begeisterungsrausch des Regimes zum Opfer gefallen oder zu Tode gekommen waren, arrangierten sich in ihrer Mehrzahl ernüchtert mit den gesellschaftlichen Zwängen der Adenauerzeit. Das kleine Häuflein engagierter Anthroposophen, denen der Privatschulartikel 7.4 des neuen Grundgesetzes einen bescheidenen Freiheitsraum zugestanden hatte, wagte sich nach der Verbotszeit mit einer Reihe neuer Schulgründungen hervor. In den folgenden Jahrzehnten wehrten sie sich, so gut es ging, gegen den stetigen Ausbau des Berechtigungswesens und das Anwachsen behördlicher Vorschriften. Gemessen an den Hoffnungen und Forderungen Rudolf Steiners, mit bescheidenem Erfolg.

Seit neuestem, unter dem Druck der Corona-Pandemie, wächst die in Deutschland seit der Bismarckzeit verbreitete Sympathie für zentrale, technokratisch durchgesetzte Lenkungsmaßnahmen. Dadurch wird in den kommenden Jahren der mühsam errungene Freiraum wieder eingeengt werden. Das elementare Menschenrecht eines jeden Kindes, sich selbst zu erziehen, und das Recht aller engagierten Lehrkräfte, ihm dabei eigenverantwortlich und aus der persönlichen Einsicht in die konkrete Situation zu helfen, sind bedroht wie nie zuvor.

Angesichts dieser Lage sei hier an eine historische Gestalt erinnert, deren überaus modernes Schicksal und deren überraschend aktuelle Ideen gerade heute zu denken geben: den tschechischen Pädagogen Jan Amos Komenský, bekannt unter seinem lateinischen Namen Comenius (1582-1670). Für Leser, die mit den Ideen Rudolf Steiners näher bekannt sind, mag darüber hinaus von Interesse sein, dass der Begründer der Waldorfpädagogik in den letzten Monaten seines Arbeitslebens mit merkwürdiger Eindringlichkeit auf den Gelehrtenkreis des frühen 17. Jahrhunderts zu sprechen kam, mit dem Comenius eng verbunden war: Johann Valentin Andreae, Tycho Brahe, Johannes Kepler und ihre Geistesverwandten, vor allem aber den englischen Lordkanzler Francis Bacon, den maßgeblichen Vertreter der Denkweise, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts von England aus die auf nüchternes Tatsachenwissen gegründete, reduktionistische Naturwissenschaft unserer Gegenwart über Europa verbreitete (Kiersch 1967). Comenius sei der maßgebliche Organisator gewesen, der das geistige Milieu geschaffen habe, in welchem sich das Gedankengut des Philosophen Francis Bacon habe einnisten können (Steiner 1924). Nun war für Steiner die »baconsche« Naturwissenschaft und mit ihr die moderne, technische Kultur keineswegs ein Irrweg, sondern ein notwendiges Durchgangsstadium in der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit auf dem Weg zu individueller Freiheit (Steiner 1918). Steiner folgte in seinem Urteil über das Werk des Comenius der seinerzeit verbreiteten Meinung, dass der große Reformer als Begründer des »Anschauungsunterrichts« zu betrachten sei, der Lehrmethode, aus der sich im Lauf der letzten Jahrzehnte die umfassende Digitalisierung des Bildungswesens entwickelt hat, deren verheerende Nebenwirkungen eingehend beschrieben und diskutiert werden. Siehe etwa die Publikationen, die das Bündnis für humane Bildung ins Netz gestellt hat (www.aufwach-s-en.de/).

Immer im Exil

Comenius hat zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) und danach ein unstetes Wanderleben absolvieren müssen, durch Hoffnungen und Enttäuschungen, wie die Vertriebenen unserer Gegenwart, zunächst als junger Prediger der böhmischen Brüdergemeine, als ihm seine Frau und seine beiden Kinder durch eine Epidemie wegstarben und er durch die siegreichen Kräfte der Gegenreformation aus seiner Heimat vertrieben wurde, später dann als Bischof seiner stillen Glaubensgemeinschaft im Exil. Ein Bild von den Zeitumständen, denen er ausgesetzt war, gibt seine Trostschrift Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, in seiner Muttersprache geschrieben und in seiner Heimat bis heute gekannt und beliebt. Comenius beklagt darin die Missstände jener Jahre, die dogmatischen Streitereien und Machtkämpfe. Die höchste Weisheit, allegorisch als Königin der Welt dargestellt, entpuppt sich bei ihm als Eitelkeit. Die biblische Gestalt des Königs Salomo, seit dem Altertum das würdigste Vorbild an Weisheit und Tugend, verfällt samt ihrem Gefolge den schlimmsten Lastern.

Die Macht der Denkkollektive

Wer genauer hinschaut, entdeckt in den allegorischen Bildern der zu Herzen gehenden Erbauungsschrift Hinweise auf die Lage der Pädagogik in unserer Gegenwart. Wie der polnische Mediziner und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck entdeckt hat, unterliegt alles, was wir zu wissen glauben, einem zeitgebundenen Denkstil, der von unbewussten Annahmen und Vorurteilen abhängt, die von der Gemeinschaft der Wissenschaftler als selbstverständlich angenommen und nicht kritisch reflektiert werden. Das Denkkollektiv der Wissenschaftler präsentiert uns seine derart vorgeprägten Ergebnisse als wissenschaftliche »Tatsachen«, deren durchaus vorläufige und eingeschränkte Gültigkeit wir nicht durchschauen (Fleck 1980).

Comenius findet dafür schon im 17. Jahrhundert ein treffendes Bild. Der Pilger, den er durch das »Labyrinth der Welt« wandern lässt, wird schon beim Aufbruch doppelt gefesselt. Zum einen von einer Figur, die sich den »Allwisser« nennt, »mit dem Beinamen Überalldabei«, und sich ihm als kompetenter Führer aufdrängt. »Ohne mich darf nichts geschehen«, erklärt er dem gutwilligen Erkenntnissucher, »alles zu überwachen ist meine Pflicht« (Comenius 1908, S. 17). Seinen eigenen Verstand soll der Wanderer dabei ausschalten. Zum anderen bedrängt ihn eine nebelhafte Rätselgestalt, die sich als die »Verblendung« vorstellt und dafür zu sorgen hat, dass er sich »mit den Tatsachen zufrieden gebe«. So wird ihm ein Zaum umgelegt, mit dem er auf seinem Weg gelenkt werden soll, und eine Brille auf die Nase gesetzt, »geschnitten aus dem Glase des Vorurteils und gefasst in einen Rahmen von Horn, der Gewohnheit heißt«. Der Pilger irrt dann von einer Enttäuschung zur nächsten durch die verworrene Welt, bis die beiden problematischen Begleiter ihn verlassen und er in der stillen Kammer seines Herzens den ersehnten Gottesfrieden findet.

Leben im Zwiespalt

Comenius hat im Lauf seines Lebens diesen Impuls in der gewaltigen Vision einer »Pansophie« verwirklicht, eines umfassenden Aufklärungsprogramms in sieben Stufen. Die Entwürfe dafür sind erst ab 1935 in der berühmten Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle entdeckt worden. Sie sind inzwischen veröffentlicht, aber in weiten Teilen noch nicht aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt worden. Comenius nannte sein Werk De rerum humanarum emendatione consultatio catholica, eine »Allgemeine Beratung über die Verbesserung der menschlichen Dinge«. Er zeigt sich darin, im Gegensatz zu den vielen anderen Reformern seiner Zeit, als überragender Menschheitslehrer auf der Grundlage tiefsinniger christlicher Mystik. Für den waldorfpädagogisch interessierten Betrachter wird das besonders schön sichtbar an dem Praxis-Projekt, zu welchem der damals schon europaweit bekannte Reformer eingeladen wurde (Blekastad 1969, S. 482 ff.). Comenius realisierte in Sárospatak im nordöstlichen Ungarn, am Hof des siebenbürgischen Fürsten Zsigmond Rákóczi, die große Idee des Lernens mit Kopf, Herz und Hand, die später durch Johann Heinrich Pestalozzi verbreitet worden und besonders in der Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts verwirklicht worden ist. Seine Schule stand auch Mädchen offen. Der Sinn der Kinder für die gottgewollte Ordnung des Universums wurde durch künstlerische Übungen geweckt: durch Schönschreiben, Malen und Zeichnen, Singen und ausgedehnte Schauspielprojekte. Als Nebenprodukt entstand ein Bilderbuch für Kinder als Hinführung zu den Wundern der Schöpfung, der berühmte Orbis sensualium pictus, von dem mehr als hundert Jahre später Goethe berichtet, dass er sich als Knabe daran orientiert habe.

Comenius war eine zwiespältige Existenz. Als Pionier des »Anschauungsunterrichts« war er ein Vorläufer moderner Bestrebungen, die der Waldorfpädagogik so fern wie nur möglich stehen. Als Mystiker war er ein Wegbereiter moderner Spiritualität, der den Geheimnissen des göttlichen Schöpfungsplans nachspüren wollte und als Lenker seiner Glaubensgemeinschaft einen Strom selbstloser Taten in Gang gesetzt hat, welcher im 18. Jahrhundert durch den Grafen Zinzendorf in der Herrnhuter Brüdergemeine weitergeleitet und durch den Heilpädagogen Karl König mit dem Werk Rudolf Steiners verbunden wurde: in Gestalt der weltweiten Camphill-Bewegung, die den Lebensformen der Böhmischen Brüder viel verdankt. Als Comenius gegen Ende seines Lebens seine Glaubensgemeinschaft an den neuen Machtverhältnissen nach dem großen Krieg zugrunde gehen sah, entwarf er als letztes Bekenntnis seine Clamores Eliae, die Wehklagen des Propheten Elias, dessen Individualität den Kennern der Anthroposophie Rudolf Steiners als zentrale Gestalt von dessen letzter Ansprache im Jahre 1924 bekannt ist.

Milada Blekastad schreibt darüber: »Der jüdische Prophet, der mit seinem Ruf das lebendige Feuer vom Himmel herabholte und die Götzenbilder vernichtete, hatte seinen Gott nicht im Wüten der Stürme, sondern im sanften Wehen des Geistes, in der Panharmonie, erkannt. […] In der letzten Zeit soll Elias noch einmal erscheinen, als ›Elias Artista‹, ›Elias Pandocheus‹ usw. Wer wird dieser Elias sein? Jeder erweckte, freie Mensch, der sich zu dem gemeinsamen Werke der Verwandlung und Verbesserung berufen fühlt« (Blekastad, S. 702).

Zum Autor: Johannes Kiersch war Waldorflehrer und ab 1973 am Aufbau des Instituts für Waldorfpädagogik in Witten beteiligt. Publikationen zur Waldorfpädagogik und anthroposophischen Esoterik.

Literatur: Chr. Haid: Auf der Suche nach dem Menschen. Die anthroposophische Jugend- und Studentenarbeit in den Jahren 1920–1931. Dornach 2001. | J. Kiersch: »Comenius, Bacon und das Rosenkreuzertum«. In: Mitteilungen aus der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland Nr. 80, Johanni 1967. | R. Steiner: Vorträge vom 27. 8. 1924, GA 240, und vom 16. 9. 1924, GA 238. | R. Steiner: Vortrag vom 20. 10. 1918. GA 185 (1962), S. 67 f. | L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M. 1980. | J. A. Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens. Jena 1908. | M. Blekastad: Comenius. Versuch eines Umrisses von Leben, Werk und Schicksal des Jan Amos Komenský. Oslo und Praha 1969.