Dieser Essay beleuchtet einige Facetten meiner Studienarbeit, die den Abschluss der zwölfjährigen Waldorf-Zeit bildet. Meine Ausarbeitung sollte keine rein philosophische Auseinandersetzung werden, an deren Ende ich den eigenen Lebenssinn finde. Vielmehr war sie eine Suche in Kontakt mit meinen Mitmenschen. Die gesammelten Erfahrungen sollten die Basis meiner Arbeit werden. Dabei begrenzte sich meine Fragestellung auf den Sinn, den ein Mensch in seinem eigenen Leben erkennt oder den er ihm gibt. Die Frage nach dem Sinn allen Lebens auf der Erde ist eine andere. So war es mein Bestreben, die Quintessenz des inneren Antriebes eines Menschen in Erfahrung zu bringen. Von besonderem Interesse waren für mich die Einflüsse, die, bewusst oder unbewusst, zur Bildung des Lebenssinnes führen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich zu keinem Zeitpunkt meiner Suche explizit die Frage nach dem Inhalt des Sinns des Lebens gestellt habe. Auch habe ich keinerlei Literatur gelesen und so die Chance genutzt, meinen eigenen Gedankenprozess ohne vorgefasste (Lehr-)Meinungen durchleben zu können.
Mein erster Schritt in der Bearbeitung war die Wahl meiner Mentorin aus dem Lehrerkollegium sowie die Festlegung des thematischen Schwerpunktes meiner Studienarbeit. Diese setzt sich aus einem praktischen und einem theoretischen Teil zusammen. In Ergänzung zu Gesprächen führte ich eine Onlinebefragung durch. Nach fünf Wochen reger Beteiligung schloss ich die Erhebung und begann ein dreimonatiges Gesprächsprojekt mit Menschen mit Behinderungen. Mir war diese Komplementierung der gesellschaftlichen Vielfalt sehr wichtig. Theoretischer Schwerpunkt war die Analyse der erhobenen Daten sowie ein philosophiegeschichtlicher Rückblick, beginnend mit der Antike, und eine Betrachtung der medialen Präsenz in der Gegenwart. Ich präsentierte meine Arbeit in Form eines Vortrages und einer schriftlichen Ausarbeitung einem interessierten Publikum im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung unserer Schule.
Einen allgemeingültigen Sinn gibt es nicht
Im letzten Abschnitt meiner Studienarbeit stand ich vor der Herausforderung, die erhobenen Daten und gesammelten Informationen zu durchdenken und meine Erkenntnisse zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass es keinen für die Menschheit allgemeingültigen Sinn gibt oder geben kann. Dieser ist dem Inhalt und der Bedeutung nach von Mensch zu Mensch verschieden. Er ist nicht absolut, sondern befindet sich in einem Prozess stetiger Veränderung, der bis ins hohe Alter andauert. In meiner Befragung wurden geschlechterübergreifend drei Alter angegeben, in denen sich die TeilnehmerInnen zum ersten Mal mit der Sinnfrage auseinandergesetzt haben: um das sechste, dreizehnte und das achtzehnte Lebensjahr. Die Auslöser reichten von einschneidenden Erlebnissen positiver und negativer Art bis hin zu täglicher Grübelei. Die Beschäftigung mit der Sinnfrage ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen. Wie sich herausstellte, folgte ich mit dem Begriff der »Sinnsuche« einem Irrweg. Der Sinn muss vom Individuum definiert, er kann nicht vorgefunden werden. In diesem Zusammenhang wird die »Sinnfindung« zur »Sinn-Bewusstmachung«. Dies setzt voraus, dass der Lebenssinn aus dem Handeln und der Lebenserfahrung eines Menschen heraus als prägendes charakterliches Merkmal in Erscheinung tritt. Zudem haben Alltag, Kulturkreis und in einigen Fällen auch Religion, Lebensphilosophie und Weltanschauung einen Einfluss auf die persönliche Definition. Der Sinn kann eine Aufgabe, eine Verantwortung, ein Lebensziel sein. Die individuelle Definition kann soziozentrisch oder egozentrisch sein. Der Glaube kann dem Sinn individuelle oder kollektive Gültigkeit zuschreiben. Mit anderen Worten: Wer den Sinn allen Lebens erfassen will, muss glauben. Wer den Sinn des eigenen Lebens erfassen will, kann glauben, er muss aber vor allem wissen. Eine Verschmelzung von Glauben und Wissen stellt für mich die »Berufung« dar. Ein Individuum ist sich sicher, dass seine erkannten Verantwortungen, Aufgaben und Ziele in einem höheren Zusammenhang stehen, und diesem dienen und möglicherweise von einer höheren Ordnung als Lebensauftrag vorgesehen sind. Aristoteles schrieb dazu: »Wo sich deine Talente mit den Bedürfnissen der Welt kreuzen, da liegt deine Berufung«.
Eine Vorstellung bekommen von der Gestaltung des Lebens
Meine zentrale Erkenntnis ist, dass der Begriff des »Lebenssinns« ein alter Begriff ist. Er basiert auf der Annahme, dass der Mensch von einer höheren, auch göttlichen Kraft aus einem bestimmten Grund geschaffen wurde. Da der Mensch unfähig war, die höhere Macht nach dem Sinn der menschlichen Existenz zu fragen, begann eine bis heute andauernde Suche nach der vermeintlichen Antwort. Dabei liegt die Schwierigkeit in meinen Augen gar nicht darin, die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu finden, sondern die Frage selbst zu hinterfragen. Bisher galt der Mensch als »Schöpfung«. Der Plan hinter dieser musste ergründet werden. Erst heute haben wir die Freiheit, auch einen anderen Ansatz zu wählen. Über Jahrhunderte hinweg ist aus dem »Sinn des Lebens« eine Phrase geworden, die an die Erwartung gekoppelt ist, der Sinn müsse etwas Großes und Bedeutsames sein. Doch wie so oft im Leben sind es die kleinen Dinge, die in ihrer Gesamtheit wirken und die Welt bewegen. Folgt man der evolutionären Vorstellung der menschlichen Entwicklung, so ist der Mensch ohne einen bestimmten Grund entstanden und es liegt in seiner Verantwortung, seinem Leben einen Sinn zu geben oder diesen zu erkennen. Der Mensch fragt: »Was ist der Sinn des Lebens?« Der Sinn antwortet: »Was ist der Mensch?«
Meine abschließende Überlegung befasst sich mit einem erweiterten Sinn, der für eine Gesellschaft Gültigkeit besitzen kann. Dieser entsteht, wenn sich Individuen mit ähnlichen Definitionen und Zielen zusammenfinden und ihrem Glauben oder Wissen entsprechend handeln und soziozentrisch den von ihnen definierten Sinn erfüllen, beispielsweise im Engagement für Klima- und Umweltschutz. Diese Überlegungen bieten ein großes Diskussionspotenzial und sollen ein Anstoß sein, sich Gedanken zu machen.
Meine Befragung ergab, dass sich Personen mit gefundenem Lebenssinn gegenüber der Vergleichsgruppe als bedeutend glücklicher einschätzten. Nehmen Sie sich in unserer schnelllebigen Zeit einen Moment und rufen Sie sich Ihre Definition des Lebenssinns in Erinnerung oder benennen Sie ihn. Meine Definition ist zu kurzlebig, als dass ich sie hier darstellen könnte. Sie entwickelt sich stetig weiter. Aber ich habe eine Vorstellung davon, wie ich mein Leben gestalten möchte und was wir als Gemeinschaft erreichen und verändern können.
Zum Autor: Michel Eckert ist Schüler in der 13. Klasse an der Freien Waldorfschule Elmshorn