Der steinerne Horizont

Sibylla Hesse

»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.« Den Älteren unter uns ist die näselnde Stimme Ulbrichts aus einer Pressekonferenz knapp zwei Monate vor der Errichtung der Mauer im August 1961 noch im Ohr. Doch unsere heutigen Schülerinnen und Schüler haben den Eisernen Vorhang nicht mehr erlebt. Sie wussten vor diesem Projekt nicht, wo genau in Potsdam das menschenverachtende Grenzregime herrschte und was es für die Anwohner bedeutete.

Im Laufe ihrer Recherchen stellten die Jugendlichen aus den Klassen zehn bis zwölf überrascht fest, dass einige ihnen aus der Schule vertraute Menschen ihre eigene Geschichte mit der Mauer hatten. Einen Passierschein brauchte der Sportlehrer, wenn er seine Oma in Sacrow besuchen, die Hortnerin, wenn sie ihren Freund sehen wollte, weil der Zugang zur Sperrzone überwacht wurde.

Der Hausmeister erzählt von seiner Zeit in der Nationalen Volksarmee, in der er seine Kameraden bewachen musste, die die alten Grenzzäune durch neue ersetzten und mitunter versehentlich mit einem Bein in der Bundesrepublik standen. Sich im Grenzgebiet zu verlaufen, empfand die Westberliner Eurythmistin in ihrer Kindheit als gruselig. Die Mauer gab ihr aber auch Sicherheit, weil sie beim Hundespaziergang irgendwann auf sie stoßen musste und dann, an ihr entlang, leicht wieder nach Hause fand. Für eine damals 17-jährige Potsdamerin dagegen bedeutete es zwei Verhöre und eine Nacht im Gefängnis. Diese Zeit­zeugengespräche vermittelten den Nachgeborenen eine Heimatkunde besonderer Art. 

Mauerfluchten – drüber und drunter 

Alle Schüler und Schülerinnen recherchierten im Laufe des achtwöchigen Projekts einzelne Abschnitte des Grenzverlaufs und stießen dabei auf spannende Fluchtgeschichten. In Klein-Glienicke, einer verwinkelten Exklave der DDR, gruben zwei Familien im Sommer 1973 bei Niedrigwasser einen 19 Meter langen Tunnel nach Westberlin. Den Weg über die Mauer schafften 1971 zwei Dachdecker, die die dortige Kirche zu reparieren hatten, dank ihrer Leitern.

Um auch Jugendliche ohne Vorkenntnisse zu erreichen, verfassten die Schüler Off-Texte für den Film, die ein weiterer Schüler einsprach. Andere legten bei den Zeitzeugeninterviews einen Schwerpunkt oder interessierten sich für das filmische Handwerk. Alle mussten über ihre Arbeitsschritte und Ergebnisse ein Portfolio verfassen.

Unser Dokumentarfilm »Der steinerne Horizont. Wo in Potsdam die DDR endete« erzählt Mauergeschichten multi­perspektivisch. Dabei kommt der DDR-Alltag ebenso zur Sprache wie die weltgeschichtliche Rolle der Glienicker Brücke mit dem Agentenaustausch in den 1950er- bis 1980er-Jahren. Warum schüchterten die Grenzer Kinder ein? Warum durfte Frau Donner, unsere Hortnerin und Ur-Potsdamerin, ihren ausgereisten Vater nicht mehr sehen? Heutige Jugendliche schütteln hierüber nur den Kopf, zu Recht, und beginnen ihre Freizügigkeit bewusster zu schätzen. Der Alltag im Grenzgebiet mit Passierschein, Bespitzelung, Reglementierung und Angst rief viele Fragen hervor, die meist im Gespräch geklärt werden konnten – und einen Zugang zur Mentalitätsgeschichte öffneten. Die Zuschauer lernen Schicksale mit historischen Kollateralschäden und Propagandaeffekte (»Rotlichtbestrahlung« nannte sie die DDR-Bevölkerung) kennen, die vom Verschweigenmüssen einer gescheiterten Flucht ebenso berichten wie vom Mut eines jungen Mannes, der seinem Staat durch den Teltowkanal davonschwamm und einige Jahre später als Fluchthelfer wirkte. Wir konnten gar nicht alles aufgespürte Material in unseren Film aufnehmen, etwa fehlen die Haftstrafen für Grenzbeamte, die Flüchtende nicht gestellt oder erschossen hatten. 

Ein Film für das Hauptprogramm 

Ein ehemaliger Grenzer wollte seinen Bericht nur im Ton aufnehmen, sich aber nicht filmen lassen. Um nicht eine schwarze Leinwand zu zeigen, bedurfte es weiteren Bild­materials. Dabei waren Rechtefragen zu beachten. Um unsere historischen Erkenntnisse in einem knapp einstündigen Film zu erzählen, mussten wir neun Stunden Material in einen Spannungsbogen bändigen und uns mit Filmästhetik beschäftigen. Das erforderte Zusammenarbeit: Die Projektwerkstatt »Lindenstraße 54« half uns, Zeitzeugen zu finden und die Arbeit zu strukturieren. Unser Filme­macher mit Ausrüstung wurde von der »Bundesstiftung Aufarbeitung« gefördert. In einem der fünf historischen Institute der Stadt ließen wir uns die großen Linien von einem Professor der Zeitgeschichte differenziert erklären.

Die Schüler äußerten sich positiv über das Projekt. Fabian (11. Kl.) sagt, er habe »mehr über die Mauer aus der ›Ostsicht‹ erfahren«. Seine Eltern hätten ja nur »Geschichten von der Westseite erzählen können«. Oliver (10. Kl.) lernte, was für die Interviewvorbereitung nötig ist. Lilli (11. Kl.) fand, »das Schreiben von Texten, das Führen von Interviews und die verschiedenen Ausflüge umfassten viele Methoden und Arbeitsweisen und gestalteten das Projekt sehr vielfältig«. Die völlig überfüllte Premiere feierten wir im Filmmuseum Potsdam. Zwei Zehntklässler moderierten anschließend ein Filmgespräch mit Zeitzeugen und Schülern. Beim History-Award 2011, vergeben vom Geschichtssender »History Channel«, errangen wir den dritten Platz: »Ein Film, den man ohne Probleme auch im offiziellen Programm zeigen könnte«, lobte Jurymitglied Christian Hartmann vom In­stitut für Zeitgeschichte München-Berlin. 

Gedenkstätte für Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert
Schülerprojektwerkstatt »Lindenstraße 54«
Gedenkstättenlehrerin Catrin Eich
Lindenstraße 54, 14467 Potsdam
Tel./Fax: 03 31/2 01 57 14
E-Mail: projektwerkstatt-lindenstrasse@web.de
http://www.pw-gedenkstaette-potsdam.de.vu/

Hinweis: Der Film ist derzeit im Internet zu sehen unter http://www.history-award.de/history-award-2011/projekte/projekte-waldorfschule-potsdam.html. Oder auf DVD zum Selbstkostenpreis von EUR 5,–  (+ EUR 2,– Versand, bitte Vorkasse).

Er wird auf der diesjährigen Waldorf-Geschichtslehrer-Tagung besprochen, die vom 11. bis 12. November 2011 in Potsdam stattfindet.