Liebe Gäste und Freunde, liebe Lehrer und Eltern, liebe Schüler und ganz besonders ihr, meine Lieben!
Vielleicht kennt ihr den Film »Was tun, wenn’s brennt«. In diesem Film geht es um sechs Punks im Westberlin der 1980er Jahre, welche die Gesellschaft verändern wollen. Sie legen eine Bombe in einer Grunewalder Villa. Als diese Bombe 13 Jahre später explodiert, müssen sich die sechs wieder zusammenfinden, da die Polizei gegen sie ermittelt.
Dieser Film behandelt auf humorvolle Weise ein ernstes Thema: Viele Menschen verlieren als Erwachsene die Ideale, die sie einmal hatten. Aus Jugendlichen mit Träumen von einer gerechten Welt, die sich ein menschlicheres Miteinander wünschten und die bereit waren, dafür zu kämpfen, werden angepasste Bürger. Wenn wir jetzt mit unserem Abitur die Schule verlassen und daran gehen, die Welt zu erobern, werden wir dabei von Idealen geleitet? Haben wir noch Sehnsüchte und Visionen? Und wenn ja, wie werden wir später darüber denken?
Ich wünsche uns den Mut, Träume zu haben. An Visionen zu glauben, kostet uns vielleicht mehr Mut als andere Generationen, weil wir die entmutigenden Beispiele der 68er vor Augen haben. Dazu kommt, dass wir in einer unsicheren, unberechenbaren Welt leben; unsere größte Sehnsucht ist nicht, einengende Mauern zu sprengen, sondern Schutzmauern zu errichten. Deshalb haben wir den Ruf einer sehr angepassten Generation; »Die Zeit« sprach einmal von der »Jugend ohne Charakter«. Im »Spiegel« las ich neulich über eine Umfrage, nach der die Mehrzahl der jungen Deutschen noch nie auf einer Demonstration war und nichts dagegen hat, als »unpolitisch« bezeichnet zu werden. Das könnte damit zusammenhängen, dass wir uns darauf beschränken, der Wirklichkeit nüchtern ins Auge zu blicken, und es nicht mehr wagen, von einer besseren Welt zu träumen.
Auf der anderen Seite habe ich euch in unserer gemeinsamen Schulzeit als aufmerksame Beobachter des Weltgeschehens erlebt, stets gut informiert und mit klaren Meinungen, gleichgültig, ob es um die Wahl des amerikanischen Präsidenten ging oder um die Finanzkrise. Wir waren uns immer darüber im Klaren, dass diese Welt verbessert werden muss. Und wer könnte die Impulse zur Veränderung besser geben, als wir, als unsere Generation? Jedem von uns sollte immer bewusst sein, dass er mit seinem Leben die Welt verändern kann.
Des Staubes Weisheit
Es gibt ein Zitat von Schiller, aus dem »Don Carlos«, das von der Jugend und ihren Idealen handelt:
Sagen Sie
Ihm, dass er für die Träume seiner Jugend
Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird,
Nicht öffnen soll dem tötenden Insekte
Gerühmter besserer Vernunft das Herz
Der zarten Götterblume – dass er nicht
Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit
Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.
Des »Staubes Weisheit« kennen wir alle: Es ist die nüchterne Vernunft, der viel gepriesene Realismus, die es lächerlich finden, dass wir die Welt verändern wollen, die uns empfehlen, uns lieber um einen guten Beruf zu kümmern, als uns Visionen hinzugeben. Ich möchte der Vernunft nicht ihren angemessenen Stellenwert nehmen. Unsere Vernunft brauchen wir, wenn wir in dieser Welt zurechtkommen wollen – schließlich müssen wir uns alle um Arbeit, ein anständiges Einkommen und eine gesicherte Existenz bemühen. Wir dürfen dieser Vernunft bloß nicht unsere Träume opfern. Sonst mag es uns gehen, wie jenem erfolgreichen Manager aus dem Film, der sich unversehens um eine Bombe kümmern muss, die er als junger Punk gelegt hat. Wenn wir nämlich unsere Träume vernachlässigen, mag es sein, dass sie uns irgendwann einholen und von uns Rechenschaft verlangen. Alle haben wir die 40-Jährigen vor Augen, die um die Mitte des Lebens aus ihrem Leben ausbrechen und alles verraten, was ihnen bisher Sicherheit geboten hat: Sie steigen aus ihrem Beruf aus, sie verlassen ihre Familien, sie tun Dinge, die sie nie für möglich gehalten hatten. Ihre verdrängten Träume und Sehnsüchte haben sie sozusagen hinterrücks überfallen.
Vorbild Weiße Rose
Jetzt könnte man einwenden, warum brauchen wir überhaupt Träume – wenn wir gar nicht erst träumen, können wir nicht enttäuscht werden und sie können uns auch nicht einholen. Warum genügt es nicht, wenn wir unser Leben anständig und angepasst, realistisch und im Einklang mit den Werten der Gesellschaft verleben?
Um mich der Antwort auf diese Frage anzunähern, möchte ich euch an eine Geschichte erinnern: Im Juni 1942 machte eine junge Frau in unserem Alter genau das, was viele von uns bald tun werden: Sie ging an eine Universität. In ihrem Fall war es die Münchner Universität, wo bereits ihr Bruder studierte. Sie verspürte eine tiefe Abneigung gegen die NS-Diktatur, und als sie herausfand, dass ihr Bruder mit einigen Kommilitonen Flugblätter gegen Hitler verfasste, beteiligte sie sich sofort. Ich spreche natürlich von den Geschwistern Scholl und der Widerstandsgruppe »Die weiße Rose«. Sie folgten ihren Idealen unerschrocken und gingen für sie in den Tod.
Hätten sie bloß des »Staubes Weisheit« gehorcht, hätten sie sich nur »vernünftig« verhalten – wie das Millionen Deutsche damals taten, indem sie sich anpassten und hofften, ungeschoren davonzukommen – sie hätten nie solch ein leuchtendes Zeichen durch ihre Taten setzen können. Die Geschwister Scholl und ihre Mitstreiter scheiterten, sie konnten nichts gegen Hitlers Diktatur ausrichten – und dennoch wurde ihnen ein außerordentlich bedeutsamer Erfolg zuteil: Sie haben der Welt bewiesen, dass es auch andere Deutsche gab, als die große Masse der Hitleranhänger. Ohne tapfere Einzelkämpfer wie sie wäre unser Land nach 1945 moralisch gänzlich bankrott gewesen. Darüber hinaus gaben sie uns allen ein großes, ermutigendes Beispiel dafür, dass es menschenmöglich ist, seinen Idealen treu zu bleiben, auch unter widrigsten Bedingungen. Und nicht zuletzt diente ihr Handeln auch ihnen selbst: Indem sie ihren Idealen treu blieben, blieben sie sich selber treu, blieben sie im Einklang mit sich, vermochten sie sich selbst in die Augen zu blicken. Diese innere Aufrichtigkeit wird uns nur zuteil, wenn wir unseren Idealen folgen. An den genannten Beispielen sehen wir, wie unverzichtbar es ist, dass wir uns Träume und Ideale zugestehen. Diese können uns ein Kompass sein, auf welchen Gewässern wir auch segeln. Und diesen Kompass werden wir in unserem Leben dringend brauchen.
Schon jetzt stecken wir inmitten der größten Krisen seit Menschengedenken. Wir leben in einem widersinnigen Wirtschaftssystem, das auf unendliches Wachstum setzt, und das, obwohl unser kleiner Planet endlich und begrenzt ist. Wir beuten die Erde aus und richten sie zu Grunde. Zudem werden wir mit den Folgen der Klimakatastrophe zu kämpfen haben, deren Ausmaß nicht vorstellbar ist. Die bisher bekannt gewordenen Umweltkatastrophen sind nur Vorboten. Uns stehen gewaltige gesellschaftliche und politische Unruhen bevor.
Die Stunde kommt …
Das alles ist aber nur die eine Seite der Medaille. Wir dürfen nicht nur auf den zerstörenden Aspekt dieser Krisen blicken, sondern viel mehr auf die Möglichkeiten, die sie mit sich bringen. Wir müssen eine neue Welt erschaffen, mit einer gesunden Natur, mit einem gerechten ökonomischen System und mit einer Einstellung, welche Achtung vor der Würde eines jeden einzelnen Menschen hat. Und für diesen Weg brauchen wir unsere Ideale, niemand braucht sie mehr als wir! Es gibt ein Lied, welches sehr beliebt war in den Kreisen der »Weißen Rose«. Es stammt von dem jüdischen Dichter und Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf. Es lautet folgendermaßen:
Schließ Aug und Ohr für eine Weil
Vor dem Getös der Zeit,
Du heilst es nicht und hast kein Heil
Als wo dein Herz sich weiht.
Dein Amt ist hüten, harren, sehn
Im Tag die Ewigkeit.
Du bist schon so im Weltgeschehn
Befangen und befreit.
Die Stunde kommt, da man dich braucht.
Dann sei du ganz bereit
Und in das Feuer, das verraucht,
Wirf dich als letztes Scheit.
Wisst ihr, für jede und jeden von uns mag diese Stunde kommen, in der wir gebraucht werden. Wenn wir unseren Idealen treu bleiben, werden wir sie erkennen und werden uns als »letztes Scheit« in das verrauchende Feuer werfen können. Und das bedeutet nichts anderes, als dass wir mutig für das eintreten, woran wir glauben und wofür wir stehen.
Meine Lieben! Es war ein wunderschönes Jahr mit euch, ich habe jeden Tag genossen. Und ich glaube wirklich an jede und jeden von uns! Ich weiß, dass wir die Stunde, in der wir gebraucht werden, erkennen und nutzen und somit die Welt ein Stück besser machen werden.