Wie Internet und Computer das Verhalten ändern. Betrachtungen aus klinischer Perspektive

Klaus Wölfling

Spielen ist ein wesentlicher und natürlich gegebener Bestandteil menschlichen Handelns und zählt zu den grundlegenden Verhaltensmustern. Entwicklungspsychologisch gesehen wird der überwiegende Teil der kognitiven Fähigkeiten und der motorischen Fertigkeiten des Erwachsenen maßgeblich durch Spielen befördert und entwickelt. Die Suche nach Neuem, Spannendem, das euphorische Gefühl beim Erleben eines »Flow-Effektes« und das schier endlose Informations-, Wissens- und Unterhaltungsangebot des Internets kommt dem Spiel- und Forschungsdrang junger Menschen entgegen.

Die negativen Auswirkungen dieser Anwendungsmöglichkeiten, die Onlinesucht, wird derzeit als eine neue psychische Störung diskutiert. Die Computerspielsucht gilt als eine Unterart des weiter gefassten Begriffs der Internetsucht. Internetsucht ist jedoch noch nicht als eigenständiges Störungsbild in den gängigen klinischen Klassifikationssystemen psychischer Störungen gelistet. Aus der praktisch-klinischen Arbeit in der »Ambulanz für Spielsucht« der Universitätsmedizin Mainz lässt sich jedoch eine Zunahme an Betroffenen, die Symptome einer Computerspielsucht aufweisen, ablesen. Ebenso häufen sich zunehmend Fallberichte aus der stationären und ambulanten allgemeinpsychiatrischen Versorgung, aus Sucht- und Erziehungsberatungsstellen sowie aus der allgemeinmedizinischen Praxis über einen exzessiven Gebrauch elektronischer Medien – vor allem das suchtartige Computerspielverhalten bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Grundsätzlich herrscht in der internationalen Forschungsliteratur bisher noch keine Einigkeit darüber, inwieweit der Begriff Internetsucht (Onlinesucht), der verschiedene interaktive Handlungen, wie z.B. exzessives Chatten, Pornographie, Surfen oder Informationssuche einschließt, sinnvoll zusammenfasst. Bislang gibt es im deutschen Sprachraum auch noch wenig empirische wissenschaftliche Belege, in wieweit moderne interaktive Medien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kompetent beziehungsweise dysfunktional genutzt werden. Gerade Online-Rollenspiele, die so genannten MMORPGs (Massive Multiplayer Online Role Playing Games) scheinen ein hohes Suchtpotenzial in sich zu bergen; empirische Untersuchungen weisen darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit der psychopathologisch auffälligen Spieler diese Spielform nutzen. Betrachtet man die vielfältigen psychischen Wirkungen von  MMORPGs, so fällt auf, dass die hohe Spielanbindung der Nutzer dadurch erreicht wird, dass die virtuelle Welt ständig und pausenlos verfügbar ist, dass mit enormen zeitlichen Einsatz soziales Prestige erlangt wird, die sozialen Bindungen verstärkt und Verpflichtungen innerhalb der Spielergemeinschaften (Gilden) eingegangen werden. Besonders Letzteres führt aufgrund des Spieldesigns der meisten Online-Rollenspiele dazu, dass Versäumnisängste gegenüber den virtuellen Kontakten bei den Nutzern entstehen, da zahlreiche für das Spiel notwendige Aufgaben nur im sozialen Gruppengefüge lösbar sind. Die Möglichkeit, in diesen virtuellen Welten unkompliziert unzählige nicht-reale Beziehungen einzugehen, der Verlust des realen Zeiterlebens während der Spielhandlung und der Orientierung im virtuellen Raum (der sogenannte »Tunnelblick«) sowie die Chance, seinen sozialen Status unabhängig von materiellen oder persönlichen Voraussetzungen zu steigern, scheinen einer exzessiven  und suchtartigen Nutzung dieser Spiele Vorschub zu leisten. So zeigt sich, dass je mehr die virtuelle Welt für den Computerspieler im Verlauf an Attraktivität zunimmt (bei gleichzeitiger Selbstwertsteigerung) es umso schwieriger für die exzessiven Nutzer wird, sich mit den alltäglichen Problemen der realen Welt auseinanderzusetzen. Die reale Welt verliert im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung mehr und mehr an Attraktivität gegenüber dem virtuellen Universum. Als Folgen dieses exzessiv ausgeführten Verhaltens werden vor allem der Kontrollverlust über die Spielzeit, merkliche Leistungseinbußen im schulischen oder beruflichen Bereich und vegetative Symptome bei Verhinderung des Computerspielens (Nervosität, Unruhe, Mangel- oder Fehlernährung) von Betroffenen oder Angehörigen berichtet. Einhergehend sind häufig Tendenzen von Vereinsamung und Ängsten in »realen« sozialen Beziehungen im Verlauf der Zunahme der Spielzeiten sowie eruptive aggressive Spannungsabfuhr bei Reduktion oder Verhinderung des Computerspielens feststellbar. Gleichzeitig ist bei betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen häufig die Einsicht in die Bedutung des Problems und dessen Folgen herabgesetzt. Das Spielverhalten rückt mit großem Abstand zu alternativen Beschäftigungen in den Mittelpunkt des Verhaltensspektrums der Betroffenen.  Typischerweise wird, ähnlich wie bei den substanzbezogenen Süchten, von erlaubniserteilenden Selbstrechtfertigungen berichtet, die das Spielverhalten in seiner gesteigerten Frequenz und Dauer – sogar entgegen aufkommenden Einsichtsprozessen ­­– »genehmigen«. Das Computerspielverhalten wird somit mehr und mehr zu einer unter dem Druck des Verlangens nach dem Spiel ausgeführten Tätigkeit. Patienten berichten häufig, dass der anfänglich als positiv und befreiend erlebte Unterhaltungseffekt im Verlauf exzessiver Spielzeiten einem Druck oder Zwang spielen zu müssen weicht. Grundsätzlich entwickeln sich im Verlauf für den Betroffenen spürbare psycho-soziale:

Psychische, gesundheitliche und soziale Folgen der Computerspielsucht:

  • Einengung des Verhaltensmusters: durch die herausragende Bedeutung wird das Computerspielen zur wichtigsten Aktivität im Leben des Betroffenen und dominiert sein Denken (andauernde gedankliche Beschäftigung, auch verzerrte Wahrnehmung und Gedanken in Bezug auf das Computerspielen), seine Gefühle (unstillbares und unwiderstehliches Verlangen, das Computerspiel wird automatisiert oder bewusst zur Gefühlsregulation eingesetzt) und sein Verhalten
  • Regulation von negativen Gefühlszuständen (Affekten): durch die beim Computerspielen verspürte Erregung (Kick- oder Flow-Erlebnisse) oder Entspannung („Abtauchen“) werden negative affektive Zustände im Sinne einer vermeidenden Stressbewältigungsstrategie verdrängt
  • Toleranzentwicklung: Die gewünschte Wirkung durch das Computerspielen kann nur durch zunehmend häufigere oder längere Computerspielzeiten (möglicherweise auch durch immer extremere Spielinhalte) erzielt werden, bei gleichbleibenden Spielzeiten bleibt der gewünschte affektregulierende Nutzen vom Computerspielen aus
  • anklingende Entzugserscheinungen: bei verhindertem oder reduziertem Computerspielen treten diese in Form von Nervosität, Unruhe und/oder vegetativer Symptomatik (Zittern, Schwitzen etc.) auf
  • Kontrollverlust: Das Computerspielverhalten kann in Bezug auf zeitliche Begrenzung und Umfang nicht mehr kontrolliert werden
  • Rückfall: Nach Zeiten der Abstinenz oder Phasen kontrollierten Computerspielverhaltens kommt es beim Betroffenen zu einer Wiederaufnahme des unkontrollierten, exzessiven Computerspielen
  • Durch eindeutig schädliche Konsequenzen für Beruf, soziale Kontakte und Hobbys aufgrund des exzessiven Computerspielens kommt es zu zwischenmenschlichen Konflikten zwischen Betroffenem und der sozialen Umwelt beziehungsweise innerpsychischen Problemen beim Betroffenen selbst.

Zum weiter gefassten Begriff des Störungsbildes Internetsucht liegen aktuell noch sehr wenige gesicherte Erkenntnisse über die Verbreitung in der deutschen Bevölkerung vor. Erste Schätzwerte für »Internetsucht« in der deutschen Gesamtbevölkerung werden mit 2,7% in Deutschland (2001) und mit 1% (bei zusätzlich 5,2% problematischer Nutzung) in Norwegen (2009) angegeben. Die Autoren betonen, dass die Auftretenshäufigkeiten stark alters- und geschlechtsabhängig sind. So zeigen sich bei 1000 Befragten im Alter von 16-74 Jahren die höchsten Werte bei jungen Männern. Aktuelle Ergebnisse verschiedener nationaler wie internationaler Studien zeigen, dass ca. 2–7 % der regelmäßigen Internetnutzer einen problematischen Umgang bis hin zu internetsüchtigem Verhalten zeigen. Diese Tendenz lässt sich ebenso anhand von Fallzahlen aus dem Suchthilfesystem untermauern. Aus Fallschilderungen zum Syndrom wird deutlich, dass überwiegend männliche Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene betroffen sind. In einer aktuellen Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen wurden 44.610 Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse mittels eines strukturierten Interviews befragt. 3% der männlichen und 0,3% der weiblichen Schüler erfüllten die Kriterien einer Computerabhängigkeit. Aufgrund der großen inhaltlichen Heterogenität von exzessiver Computer- und Internetnutzung erscheint es notwendig, den Ausprägungsgrad und die Pathologie der einzelnen Handlungen im Internet (Computerspiel, Kaufen, Informationssuche, Sex, Glücksspiel) getrennt voneinander zu erfassen und dabei missbräuchliches und abhängiges Nutzungsverhalten diagnostisch zu differenzieren. Unter Berücksichtigung der Klassifikationskriterien für stoffgebundene Störungen, wurde ein klinisch-diagnostisches Instrument entwickelt, mit welchem eine Klassifikation des gezeigten internetbezogenen Verhaltens möglich ist. An der Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Mainz werden internet- und computerspielsüchtige Patienten in einem Modellprojekt in einer verhaltenstherapeutischen Gruppentherapie behandelt.

Literatur: A. Hahn, M. Jerusalem: Internetsucht: Jugendliche gefangen im Netz. In: Raithel, J. (Hrsg.): Risikoverhaltensweisen Jugendlicher. Erklärungen, Formen und Prävention, Opladen 2001

F. Rehbein, M. Kleimann. T. Mößle: Computerspielabhängigkeit im Kindes- und Jugendalter. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. Forschungsbericht Nr. 108, Hannover 2009

K. Wölfling: Ambulante Gruppenpsychotherapie bei Computerspielsucht. In: J. Hardt, U. Cramer-Düncher, M. Ochs (Hrsg.): Verloren in virtuellen Welten – Computerspielsucht im Spannungsfeld von Psychotherapie und Pädagogik, Göttingen 2009