Veränderte Kindheit – andere Pädagogik?

Armin Krenz

Die Fakten

Gesellschaftliche Veränderungen:

Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland in einer zunehmend alternden Gesellschaft, überwiegend mit einem Geschwisterkind auf. Sie leben in wechselnden Familientypen, häufiger als früher in »alternativen Familienformen« und sind immer öfter mit Trennung und Scheidung ihrer Eltern konfrontiert. Etwa zwei Drittel der Zehn- bis Fünfzehnjährigen werden schon früh in biographisch relevante Entscheidungen einbezogen.

Einkommenssituation:

Die mütterliche Erwerbstätigkeit ist kontinuierlich gestiegen, fast 25 Prozent der aktiv erwerbstätigen Mütter in den jungen Bundesländern haben ein Kind unter drei Jahren.

Fast 40 Prozent der Frauen mit unter vierzehnjährigen Kindern arbeiten in den Abendstunden und am Samstag, mehr als ein Viertel am Sonntag und 16 Prozent nachts.

Alleinerziehende sind einem deutlich höheren Armutsrisiko ausgesetzt als Paare mit Kindern. Die Armut der Kinder und Jugendlichen zeigt ab den 1990er Jahren einen konstanten Anstieg. Eltern geben heute bis zur Hälfte ihres monatlichen Haushaltsnettoeinkommens für die Kinder aus.

Veränderte Lebensräume:

Der Alltag wird weitgehend institutionell strukturiert – durch Betreuungsangebote, die Verlängerung der Schulzeit und eine Fülle von Freizeitangeboten im Bildungs- und Kulturbereich. Die speziellen Lebensräume trennen Kinder und Jugendliche immer mehr von den Lebenswelten der Erwachsenen, gleichzeitig differenzieren sich die »Welten« der Heranwachsenden im Tages- und Biographieverlauf immer mehr aus.

Kinder und Jugendliche, die in innenstadtnahen oder inner­städtischen verkehrsreichen Wohngebieten auf­wachsen, müssen in ihren Erfahrungs- und Entwicklungsmöglich­keiten im häuslichen Wohnumfeld starke Ein­schränkungen hinnehmen.

Verlagerte Bildungsprozesse:

Bildungsprozesse verlagern sich zunehmend in die schulfreie Zeit. Durch die unterschiedliche ökonomische Ausgangssituation der Eltern können deutliche Ungleichheiten im Bildungsniveau der Kinder und Jugendlichen entstehen.

Gleichaltrigenkommunikation, Cliquen-Leben, Fernsehen sowie Video-, PC-Spiele und gemeinsames Chatten gehören zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Medien gehören für viele zum alltäglichen Erfahrungsfeld. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liegen Kinder in Deutschland, was die medientechnische Ausstattung betrifft, an der Spitze.

Andere Sozialisationsbedingungen führen zu anderen Kindheiten

In früheren Zeiten konnten Kinder eher in einem größeren Familienverbund mit mehreren Geschwistern und im Zusammenleben mit ihren Großeltern bei gleichzeitiger Pflege von Verwandtschaftsbeziehungen aufwachsen. Heute gibt es vermehrt »Schlüsselkinder«, die in einer eher technisierten, medial und konsumorientiert geprägten Umwelt groß werden. In ihren Bewegungs- und Handlungsräumen sind sie eher eingeschränkt und außergewöhnlich vielen akustischen und optischen Eindrücken ausgesetzt.

Durch die berufliche Mobilität sind Eltern einen großen Teil des Tages entweder abwesend oder bestehende Beziehungen müssen abgebrochen werden. Die zunehmende Armut vieler Familien und die Sorgen um den Erhalt von Arbeitsplätzen bringen zusätzliche Verunsicherungen.

Bedingt durch die öffentlich geführte »Bildungsdiskussion« setzt die Zukunftsplanung für Kinder und Jugendliche immer früher ein. Die »freie Zeitgestaltung« wird immer mehr eingeschränkt. Auf der anderen Seite setzen bildungsferne Eltern wenig oder gar keine Bildungs­impulse für Kinder. Dagegen nimmt der Einfluss der Gleichaltrigen auf das Erleben und Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu.

Die materiellen Bedürfnisse werden erfüllt, aber nicht die seelischen

All dies macht deutlich, dass es nicht mehr möglich ist, von einer unbelasteten Kindheit in Deutschland zu sprechen, weil es diese als zeitlich gesonderte, altersgemäß mehr oder weniger abgeschlossene, eigenständige Lebensphase kaum noch gibt.

Zwar ist es vielen Kindern heute leichter und eher möglich, kognitive Entwicklungsangebote zu nutzen, aber es wird ihnen auch schwerer gemacht, sich emotional stabil und räumlich-körperlich zu entfalten. Stabile Beziehungsverhältnisse werden zu eher punktuellen »Erziehungsverhältnissen«, in denen Kinder und Jugendliche verstärkten Verhaltenserwartungen ausgesetzt sind. Die Entfaltungs­chancen, die ungleich höher sind als bei vergangenen Generationen, sind stets auch mit neuen Belastungen verbunden, überfordern manche Kinder und Jugendliche. Daraus sind auch viele Verhaltensirritationen zu verstehen.

Viele Eltern erfüllen häufiger als früher die materiellen Wünsche ihrer Kinder, vernachlässigen aber in zunehmendem Maße ihre seelischen Grundbedürfnisse, indem sie beispielsweise mit ihnen gemeinsam Zeit erleben und ihnen funktionslose Zeiträume schenken, ihre Entwicklung in Ruhe begleiten, ihre Annahme die Kinder spüren lassen, ihnen Handlungs(spiel)räume für eigene Erfahrungen zugestehen oder Orientierungswerte vorleben.

Bildungsaktive Erwachsene behindern die Selbstkompetenz

Kinder und Jugendliche sind häufig eingebunden in die »Erwartungswelt« der Kinderkrippe, des Kindergartens, der Schule, ihrer Eltern, ihres Wohnbereichs und ihrer Freundesclique. Ihnen fehlt der Freiraum, um zu sich selbst zu finden und mit sich selbst kompetent umgehen zu lernen. Sah man Kinder früher als unfertige, un[ter]entwickelte Wesen, so werden sie heute von »bildungsaktiven Erwachsenen« als Persönlichkeiten mit »förderungsnotwendigen Potenzialen« betrachtet. Sie werden wie ernstzunehmende Akteure eingestuft, befinden sich aber gleichzeitig in einer abhängigen, erwartungszentrierten Position. Insoweit tragen Erwachsene täglich dazu bei, Kindheit mit Widersprüchen zu befrachten. Entsprechend widerspruchsvoll entwerfen sie ihr »Bild vom Kind« und gestalten dessen Alltag auch häufig uneinheitlich, was zur weiteren Irritation bei dem Kind führt.

Klaus Peter Brinkhoff hat das Thema »Kindheiten in der heutigen Zeit« in seinem Beitrag »Kindsein ist kein Kinderspiel« treffend auf den Punkt gebracht. Dabei bringt er bestimmte Kindheitsbegriffe ins Spiel:

»Airbag-Kindheit«. Die meisten Kinder sind heute  gut bis außergewöhnlich gut materiell ausgestattet und werden von einem überwiegend funktionierenden (sozial)pädagogischen »Airbag-System« auf- und abgefangen.

Konsumkindheit. Ging es in vergangenen Generationen noch darum, genügend Essen für die ganze Familie zu beschaffen, so steht heute ein »gnadenloser Konsum von industriellen Massenspielgütern« im Vordergrund.

Medienkindheit. Die materielle Medienausstattung der

Kinderzimmer und der Umfang der Mediennutzung ist so hoch wie in keiner Generation zuvor. Kinder werden als Konsumenten umworben und beeinflusst.

»Erste-Reihe«-Kindheit. Kinder erleben und erfahren in immer jüngerem Alter Geschehnisse, von denen sie früher ausgeschlossen waren. Kriegshandlungen in der Welt oder Naturkatastrophen kommen per Fernsehbilder ins Elternhaus, die Sexualität wird offen thematisiert und die »weite Welt« mit immer jüngerem Alter durch Fernreisen erlebt.

Karrierekindheit. In der familiären und auch der institutionellen Pädagogik steht für viele Erwachsene »Bildung der Kinder von Anfang an« an erster Stelle. Möglichst viele Kinder sollen schon möglichst früh einen »komfortablen Platz im Bildungskarussell« ergattern.

Inselkindheit. Die Wohn- und Lebenssituation von Familien findet überwiegend in »vorstrukturierten Sozialräumen« statt. Freizeiteinrichtungen, Arbeitsstätten der Eltern, Einkaufsparks, Mittelpunktschulen, Spielflächen, Bewegungsräume und aushäusige Erholungsmöglichkeiten sind immer stärker voneinander getrennt; Kinder werden häufig von den Eltern zu Freunden und Verabredungsorten gefahren und kontinuierliche Sozialkontakte werden damit immer stärker eingeschränkt. 

Entsinnlichte Kindheit. Aufgrund der eingeschränkten Handlungsfelder und eingegrenzten Lebensräume greifen Kinder immer häufiger zu einer medial aufbereiteten »Wirklichkeits-Software« und einer »Second-Hand Erfahrung«. Statt dem Rauschen der Bäume zu lauschen, gibt es Natur-CDs, statt selbst im Garten oder im Wald eine Baumhütte zu bauen, greifen Kinder übers Internet zum entsprechenden interaktiven Bauspiel.

Gefährdete Kindheit. Der Preis für die sich ständig weiter­entwickelnde Kommerzialisierung, Modernisierung, Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung ist hoch. Gewalt und Aggression unter Kindern und Jugendlichen, die Zunahme der psychosomatischen Beschwerden, der Anstieg an Alkohol-, Tabletten- und Drogen­missbrauch, der hohe Anteil an Fehlernährung, die Unfallhäufigkeiten im Straßenverkehr, die Zunahme der chronischen Krankheiten sowie die versuchten und vollzogenen Selbstmorde legen offen, dass Kinder und Jugendliche vermehrt in psycho-sozialen Spannungssituationen gefangen sind.

Multikulturelle Kindheit. Durch die zurückliegenden Auf­lösungsprozesse in Ost-Europa, die Einwanderungsbewegungen und Grenzöffnungen hat sich Deutschland zu einem immer ausgeprägteren multikulturellen Staat entwickelt. Damit sind wichtige Entwicklungschancen entstanden, aber kulturelle Vielfalt birgt auch Risiken, wie zum Beispiel grenzübergreifende Kriminalität, Menschenhandel, zunehmende religiöse Radikalität.

Individualisierte Kindheit. Dadurch, dass sich auch die Wertmaßstäbe sehr stark verändert haben, kommt es immer stärker zu einer »Vereinzelung in der Masse Gleicher«.

Traditionelle Wertorientierungen verlieren zunehmend an Bedeutung, so dass es für Kinder, Jugendliche und Erwachsene immer notwendiger wird, einen »neuen, festen Boden unter den Füßen« zu finden.

Ungewisse Kindheit. Trotz vieler Entwicklungen im Bereich der Technik oder der Medizin sind Kinder und Jugendliche mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Sei es die Frage der späteren Berufstätigkeit oder des künftigen Arbeitsplatzes, sei es die gesamte Entwicklung des Welt­klimas oder soziale Fragen wie Renten- und Pensions­versorgung, Generationsgerechtigkeit oder Gesundheitswesen.

Was fehlt, ist Entwicklungssicherheit

Eines wird durch diese Aufzählung deutlich: Kinder brauchen mehr denn je Entwicklungssicherheit, um eine stabile Identität aufzubauen. Wir benötigen zielgerichtete Beobachtungen darüber, wie es Kindern in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung geht und ortsspezifische Erkenntnisse über die tatsächliche Lebenssituation der Kinder und die entwicklungsbedeutsamen Einflüsse, um in Er­fahrung zu bringen, was Kinder für ihre individuellen Entwicklungsfortschritte brauchen und welche pädagogische Qualität oder Beziehung den Kindern hilft, ihre Entwicklungsressourcen zu entdecken und in wirksamen Alltagserfahrungen aus­zubauen.

Konsequenzen für eine gegenwartsorientierte Pädagogik

• Wir müssen verstärkt dafür sorgen, dass Kinder auch Kinder sein dürfen.

• Eine verantwortungsvolle Pädagogik muss sich der spezifischen Alterstufe der Kinder zuwenden und darf nicht darauf ausgerichtet sein, ihre Gegenwart der Zukunft zu opfern.

• Die Vorstellung von einem möglichst »frühzeitig perfekten Kind« muss aufgegeben werden, weil Kindheit darauf aufbaut, dass Fehler gemacht werden dürfen, aus denen gelernt werden kann.

• Kinder brauchen Vorbilder, an denen sie sich orientieren können.

• Sie brauchen statt einer verstärkten Konsumausrichtung »Seelenproviant«, der ihnen hilft, ein stabiles Persönlichkeitsfundament aufzubauen.

• Sie sind auf Erwachsene angewiesen, die immer wieder die Aufgabe an sich selbst stellen, sie in ihren vielfältigen Ausdrucksformen zu verstehen.

• Sie brauchen vor allem das Gefühl von Sicherheit.

• Sie brauchen feste Bindungen und zuverlässige Beziehungen, damit sie sich auch bei Rückschritten mit Zuversicht und Engagement den täglichen Herausforderungen stellen können.

• Sie benötigen keine künstlich arrangierten Lebenswelten, sondern umfassende und umfangreiche Handlungs(spiel)-räume, in denen sie reale, fassbare, Erfahrungen machen können.

• Sie brauchen zur Wahrnehmung, Festigung und Verarbeitung ihrer Erfahrungen ausreichend Zeit, um Sinnzusammenhänge und deren Konsequenzen zu verstehen.

• Sie sind auf ein stabiles Selbstbewusstsein angewiesen, um mit zunehmendem Alter selbstständig, handlungsaktiv, anstrengungsbereit und lernfreudig alltägliche Aufgaben übernehmen zu können.

• Sie brauchen Erwachsene, die mit Optimismus, Lebensfreude und Einsatzbereitschaft an einer Welt mitarbeiten, die sich für eine Wiederherstellung oder Bewahrung des eigenständigen Zeitraumes »Kindheit« aktiv und engagiert einsetzen.

Prüfen wir uns selbst, mit wie viel Engagement, Innovationsfreude, Mut, Lebensbejahung, Lebendigkeit und innerer Anteilnahme am Leben der Kinder wir auf die Wiederherstellung einer solchen lebenswerten Welt hinwirken.

Literatur: T. Betz: Ungleiche Kindheiten, Weinheim 2008 | Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): 13. Kinder- und Jugendbericht, Köln 2009 | DJI – Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Konsum und Umwelt im Jugend-alter, München 2009 | K. Hurrelmann: Lebensphase Jugend, Weinheim 2009 | A. Krenz: Was Kinder brauchen, Berlin 2010