Das Urteil unter der Grasnarbe

Claus-Peter Röh

Ein »problematischer« Junge 

Es fanden Gespräche statt, trotzdem hielten die Klagen der Klasse an. Unmerklich wurde aus den einzelnen Vorfällen ein Bild, dass sich festsetzte: »Ja, ja, die Vierte!« Als sich dann noch ein Schüler der Dritten beim nächsten Streit mit einem Viertklässler verletzte, wurden die Urteile deutlich schärfer: Die Aversion gegen jene Klasse drohte auszuufern. Vor allem aber wurde der am Streit beteiligte Viertklässler als »der Schlimmste von allen« wiederholt zornig angeklagt. Als mich schließlich auch noch Eltern meiner Klasse auf das »Verhalten dieses Jungen« ansprachen, reagierte ich zwar mit wohlmeinenden Erklärungen über die Umbrüche in der Zeit des »Rubikon« und von der Notwendigkeit, mit jedem einzelnen Kind Geduld zu haben. Innerlich aber, unter der Grasnarbe des Alltags, begann ich jedoch selbst, mich über die Rauhbeinigkeit dieses Jungen zu ärgern. Als kurz danach in der Pause ein Handwagen des Hausmeisters umkippte und jener sogleich auf die vierte Klasse schimpfte, hörte ich eben diesen Jungen solch ausfallende Worte auf den guten Mann schleudern, dass ich die Urteile meiner Drittklässler bestätigt sah und dachte: »Es stimmt, er ist maßlos unverschämt und wie Sprengstoff für die Gemeinschaft.« Kurz darauf begegnete ich der Lehrerin der Vierten und schilderte ihr das Erlebte. Sie sagte: »Ja, wir sollten einmal ausführlicher über ihn sprechen. Aber ich schaffe das erst nach der Monatsfeier. Du bist auch nicht der Erste, der mich auf ihn anspricht.« Durch ihre Worte fühlte ich mich in meinem Urteil noch einmal bestätigt und der Keim unter der Grasnarbe begann sich zu entfalten.

Eine denkwürdige Monatsfeier

Wenige Tage später strömten alle Klassen freudig über den Hof zum großen Saal. Bald hatten sich die Reihen bis zur Oberstufe hin gefüllt und ich hörte einen Jungen der Dritten sagen: »Wie gut, dass die Vierte nicht gerade hinter uns sitzt!« Sein Nachbar stimmte ihm zu und im Stillen war auch ich froh, jenes Pausenstreitfeld jetzt nicht um uns zu haben. Das Orchester stimmte an und die Feier nahm ihren Lauf. Auch die 4. Klasse betrat schließlich die Bühne: Mit kleinen Versen und Szenen zum Erntedankfest wanderte sie durch das vergangene reiche Jahr.

Ich blickte auf die Gesichter der Drittklässler. Auch wir würden im kommenden Frühjahr pflügen und säen: Teils waren sie aufgeschlossen, voll kindlicher Neugier und Sympathie. Teils waren sie aber auch deutlich abwartend, sogar verschlossen. Die Antipathie gegen »diese Vierte« überwog.

Zwischen den Spielszenen der kostümierten Viertklässler spielte eine Gruppe der Klasse seitlich von der Bühne ein schwungvolles Erntelied als Übergang. Gerade trat ein Musikant mit seiner Geige vor, strich kräftig den Ton an … und da geschah es: Mit einem kleinen Knacks löste sich ein Wirbel und das Instrument verstummte. Schon ließ der Spieler sichtlich erschrocken seine Arme sinken, da reichte ein im Hintergrund stehender Zimmermann ihm seine Geige hin als Ersatz. Doch er schüttelte entschieden den Kopf und bedeutete jenem, nun nach vorne zu treten. Der Zimmermann zögerte. Und erst, als er einen verlegenen Schritt weiter ins Licht machte, die Geige ansetzte und vor dem schweigend gebannten Saal den Ton des Liedes anstimmte, war er zu erkennen. – Die Schüler der Dritten, ebenso wie ihr Lehrer, waren nicht nur verblüfft, – sie staunten mit offenen Mündern und konnten es einfach nicht fassen: »Der Schlimmste von allen« stand da vorne und spielte das Erntelied! Als der Saal den Zimmermann und die Begleiter mit einem spontanen Applaus belohnte, stimmten wir alle kräftig ein.

Diese Monatsfeier veränderte eine Welt. Mit jedem Geigenton des Zimmermanns begann sich das alte Bild vom »Sprengstoff« zu entschärfen. Alles vorher Erlebte bis hin zu unserem festen Urteil stand nun wie unter einem anderen Stern. Es gab durchaus weitere Auseinandersetzungen und Rivalitäten zwischen den beiden Klassen auf dem Hof. Aber im ehrlichen Umgang damit herrschte nun ein anderer Ton gegenüber jenem Jungen. Fiel sein Name in einem Gespräch der 3. Klasse, so war der »Zimmermann« noch über Wochen in der Erinnerung der Kinder anwesend: Das hatte zur Folge, dass die Ereignisse und sein Dazutun geschildert wurden, aber keine übertreibenden Schuldzu­weisungen mehr erfolgten. Es schien, als hätten auch wir Kollegen (erst) mit dieser Monatsfeier erkannt, was eigentlich in ihm werden wollte. Der Impuls zur Lösung und Wandlung kam sozusagen aus der Zukunft. Diese Atmosphäre der fragenden Verwunderung und Achtung wurde von dem Jungen selbst wiederum deutlich wahrgenommen: Bevor sich eine Situation wirklich zuspitzte, schien es ihm nun leichter möglich, aus neuem innerem Vertrauen einer anderen, weniger brenzligen Lösung zuzustimmen.

Im Sog von Sympathie und Antipathie

In der Nachbesinnung auf jene Erlebnisse stellte sich die drängende Frage, wie sich überhaupt jenes allzufrühe, allzufeste erste Urteil hatte bilden können. Sicherlich waren die empörten Schülerbeschwerden mit zu großer Grundsympathie zur »eigenen« Klasse in meine Urteilsbildung eingeflossen. Doch es stellte sich der schmerzliche Gedanke ein, dass die einseitig antipathische, im Grunde kollektive Verurteilung des Jungen ihn in Wahrheit in eine Ecke getrieben hatte, die ihm kaum eine Chance mehr zur Wandlung ließ.

Sympathie und Antipathie stehen sich als polare Kräftefelder im Seelischen gegenüber. Sie umfassen unzählige Nuancen zwischen dem Erleben von vollkommener sympathischer Hingabe und vollkommener antipathischer Distanz. Offensichtlich braucht die Entwicklung eines gesunden, für die Zukunft tragenden Urteils eine Ausgewogenheit von sympathischem und antipathischem Erleben. Vom Standpunkt einer selbsterrungenen, bewussten Ausgewogenheit können sympathische oder antipathische Erlebnisse wichtige Bausteine der Wahrnehmung sein. Ein klares, reifes Urteil kann aber erst im Abwägen mehrerer Wahrnehmungen beider Pole entstehen. Je vielseitiger die Wahrnehmung ist, desto weiter kann das abwägende Urteil sich der Wahrheit nähern.

Es braucht »prophetische Gabe«

Noch über lange Zeit klang die Frage nach, wie jenes äußerlich kurze Erlebnis so Vieles hatte verändern können. Der kurze, aber um so nachhaltiger wirkende Blick aus der Perspektive der Zukunft hatte das Bild eines jungen Menschen in ein neues Licht gerückt. Das Vermögen, durch das äußere Verhalten hindurch auf die von innen impulsierende Kraft im heranwachsenden Menschen zu blicken, beschrieb Rudolf Steiner schon in einem Vortrag in Dornach, am 8. Oktober 1917, zwei Jahre vor der Gründung der ersten Waldorfschule, als entscheidende Fähigkeit des Lehrers: »Das Kind ist vielfach heute schon etwas ganz anderes, als es äußerlich zum Ausdruck bringt. Man hat sogar schon extreme Fälle. Kinder können äußerlich aussehen wie die ungezogensten Rangen, und in ihnen kann ein so guter Kern stecken, dass sie die wertvollsten Menschen später werden, während man zahlreiche brave Kinder finden kann (...), die aber halt keine ›brauchbaren‹ Menschen werden. Das aber bedingt, dass man zukünftig die Pädagogen, die Erzieher nicht so bestimmt, wie man sie jetzt bestimmt, sondern nach ganz anderen Grundsätzen. Denn das Hineinsehen in ein Inneres, das sich nicht im Äußeren ausdrückt, erfordert ja etwas prophetische Gabe.«

Offenbar gibt es Augenblicke im Erleben des Heranwachsenden, in denen jene innerste Triebfeder der Individualität durch die Oberfläche hindurch wahrnehmbar wird. Allerdings eröffnen sich solche in die Zukunft weisenden Aus­blicke nicht am Schreibtisch, sondern mitten im Geschehen, während der Begegnung. Gelingt es uns, solche unmittel­baren, ureigenen Resonanzerlebnisse wahrzunehmen, haben wir als Erzieher eine Möglichkeit, unsere Bilder und Urteile zu erfrischen und zu  erneuern – auch jene, die sich unbewusst unter der Grasnarbe des Alltags verfestigt haben.

Zum Autor: Claus-Peter Röh war 28 Jahre Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule Flensburg; heute leitet er zusammen mit Florian Osswald die Pädagogische Sektion am Goetheanum in Dornach.