Was soll es bedeuten? Feste erneuern – aus dem Verstehen heraus

Fabrizio Venturini

Viele Eltern, die ihre Kinder in eine Waldorfeinrichtung gegeben haben, wünschen, etwas von der dort gepflegten Festkultur, die sie an ihren Kindern als heilsam erleben, in die Gestaltung des eigenen Feierns herein zu nehmen. Sie fragen: Wie lassen sich Feste zu Hause erneuern?

Soll das gelingen, so muss als erstes verstanden werden, dass die Feste aus tieferen Schichten des Menschseins stammen, über lange Zeiten in der Gemeinschaft gepflegt und von ihr für selbstverständlich gehalten wurden. Heute wäre es zeitgemäß, dass sie zunehmend zu einer Willensaufgabe eines jeden Einzelnen werden, damit dieser sie »frei-willig« aus eigener Einsicht vollziehen kann. Doch muss man erst das Wesen der Feste erkennen, wenn man sie erneuern will. Das Wissen muss das Gefühls- und Willensleben ergreifen, dann kann man es nach und nach umsetzen. Nachhaltig erneuern kann nur, wer den Bedeutungsgehalt nicht nur versteht, sondern auch fühlt.

Sich vom Brauchtum emanzipieren

Wer die Feste emanzipiert vom Kirchenbrauch feiern will, kann nicht allein von historischen Ereignissen oder den sich wiederholenden Jahreszeiten ausgehen, er muss die Motive und Impulse der Kulturentwicklung einbeziehen. Als Spiegel der dynamischen Entwicklung in der Zeit gliedert sich dann das Jahr in sieben thematische Abschnitte. Diese haben Bezug zu dem, was Rudolf Steiner als »Kulturepochen der Menschheit« beschrieben hat. Der Reigen der Feste beginnt aus dieser Sicht mit der Sommersonnenwende, hat an Weihnachten seine Mitte und bleibt nach der fünften Stufe zu Pfingsten, das mit der jetzigen Epoche korrespondiert, unabgeschlossen, das heißt, zukunftsoffen. Zu einer späteren Zeit werden sich noch zwei neue Festthemen hinzugesellen, die den Jahreskreis zur Spirale werden lassen und das jetzige Johannifest überlagern. In fünf Haupt­festeszeiten lässt sich so das Jahr gegenwärtig einteilen:

Es gibt eine Zeit, die anklingt an den vorgeschichtlichen, »paradiesischen« Kindheitszustand der Menschheit (Hochsommer/Johanni).

Eine Zeit, in der der Mensch von sich aus sich zum Einsatz gegen bedrohliche Niedergangskräfte entschließt (Herbst/ Michaeli).

Eine Zeit, in der der Mensch weiß, dass er ohne eine Hilfe »von oben« nicht weiterkommt und in der er diese Hilfe vorbereitet (Winter/Advent und Weihnachten).

Eine Zeit, in der die Grundlage für die Erneuerung der Menschheit von innen heraus geschaffen wird (Frühling/ Epiphanie bis Ostern).

Eine Zeit, in der es gilt, diese Erneuerung, das »Mittelpunkts­geschehen« der Menschheitsentwicklung, in das eigene Herzdenken aufzunehmen und sich ideell zur Weltgemeinschaft zusammenzuschließen (Himmelfahrt und Pfingsten).

Hochsommer – Johanni

Im ersten Festzeitabschnitt wird es darum gehen, ansatzweise einem früheren nomadischen Dasein nachzuspüren, das uns mit den spirituellen Kräften der Natur wieder verbindet, also dem Erleben der Elemente Erde, Wasser, Luft und Wärme. Idealtypisch ist hier das Loslassen, Sich-treiben- Lassen, Sich-Anvertrauen an die äußere Natur. Sich ungeplant und entspannt vom jeweils Gegebenen überraschen zu lassen, kennzeichnet diese Festeszeit. Viele Menschen suchen solche Erlebnisse im Urlaub. Ein passendes Bild dazu wäre: mit erhobenen Händen von einer Düne an den Strand hinunterlaufen, vom warmen Wind getrieben, um sich in den weichen Sand fallen zu lassen.

Dieser Gestus taucht auch beim Spielen von Kleinkindern auf. Es kann unbeschwert erlebt und genossen werden. Man lebt »wie die Götter«, voller Spontaneität, Offenheit und Improvisation, luftig bekleidet, mit Blumen und Federn »wie im frühen Indien« geschmückt. Spiele und kleinere Unternehmungen voller Leichtigkeit und guter Laune charakterisieren die Festlichkeiten, die man in diesem »urzeitlichen« Abschnitt des Jahres am besten draußen im Garten unter Laubhütten oder in Zelten gestaltet. Hüpf- und Geländespiele sowie das Bestaunen von Naturobjekten gehören dazu. Wichtig sind die natürliche Ernährung (beispielsweise durch Beerensammeln) und der »Stoffwechsel« mit der Natur – zum Beispiel durch Wandern. Das Festliche findet ohne großen Aufwand in der Erfahrung durch die Sinne und in der Bewegung statt und ist eher eine Addition von Augenblicken.

Herbst – Michaeli

Ganz anders dagegen ist die herbstliche Stufe des Feierns. Man sitzt zusammen am Tisch und erzählt von Erlebtem, während man Speisen und Getränke genießt, die durch menschliche Arbeit entstanden sind. Oder man genießt Bewegungsattraktionen, die der menschliche Erfindungsgeist hervorgebracht hat. »Hocketse« und »Kirmes« sind hier die Muster. Es geht um den Austausch über gemeinsame Angelegenheiten und um Mutproben in der Begegnung mit Gegenmächten und Finsterniskräften, mit dem Tod und den Toten.

Im Mittelpunkt steht der Mensch als Individuum und als Gruppenwesen. Sich mit anderen im Wettkampf bei Tisch- und Gesellschaftsspielen messen und etwas wagen, was man noch nicht ganz erfüllt, gehört zu dieser Festeszeit. Man sucht die Herausforderung, stellt sich dem Dunkeln und Angstmachenden entgegen. Man entzündet – wie bei der Laterne – ein inneres Licht, das noch von einer transparenten Hülle geschützt werden muss, und trägt es vor sich her, ergreift kämpferisch Partei für die Erhellung, gegen die Kälte und Verhärtung, die man mit Zug- und Wendekraft »umpflügt«. Bei selbstorganisierten Haus-, Hof- und Bürgerfesten, zu denen man Fremde einlädt, kann man das modern umsetzen. Man begründet eine neue Kultur »wie in Urpersien«, rüstet sich zu innerer Bildung auf. »Ich will ein Streiter werden für das Gute in der Zukunft«, so lautet der innere Entschluss. Man lässt sich aufs Lernen ein, fordert und übt Gedankenfreiheit, wie zum Beispiel Friedrich Schiller, dessen Bild vom »herausgeschlagenen Götterfunken« den Gestus trifft.

Winter – Advent – Weihenacht

Der dritte Entwicklungsabschnitt hat mit der Einsicht zu tun, dass man auf Hilfe der geistigen Mächte angewiesen ist. Das Irdische allein hilft nicht weiter, es bedarf einer Gabe von oben. Das Wesentliche am Nikolausfest ist zum Beispiel, dass wirklich etwas Überirdisches diese Welt berührt, jemand, der »wie eine Person im Sternen- oder Hoheitsmantel« kommt, der mein Innerstes kennt und zum Guten bestärkt. Menschheitsgeschichtlich entspricht das der Zeit, als man im Zweistromland die Himmelsschrift las und in Schriftzeichen festhielt, als der Pharao in Ägypten durch die Pyramiden zur Hellsichtigkeit »geschult«, das heißt, »eingeweiht« wurde und die Hebräer das Kommen des Erlösers vorbereiteten.

Hinter all dem steckt das Geheimnisvolle, das man mit dem Herzen verstehen und einsehen kann, das wichtigste Kennzeichen der Advents- und Weihnachtszeit. Gabe und Geheimnis müssen alle Versuche enthalten, diese Feste neu zu gestalten. Der Weihnachtsbaum, der erst in der Neuzeit in die Wohnzimmer Einzug gehalten hat, ist ein Symbol: das aufgerichtete Dreieck als das Bild der »inneren Sonne«, die jetzt auf die Erde gekommen ist, um das soziale Leben mit Wärme, Licht und Gerechtigkeit zu erfüllen. Das Irdische Schritt für Schritt zunehmend zu erhellen, liegt dem relativ neuen Adventskranzbrauch zugrunde und die – nicht nur auf den Familienkreis beschränkte – Gesinnung der Liebe dem Wichteln. Man könnte das weiter ausbauen. Schenken, ohne viel Aufhebens darum zu machen, und selbstergriffene Selbstlosigkeit sind Merkmale, die auf der Gabe fußen, die der Vatergott uns mit dem Weihnachtsmysterium in die Seelenmitte »wie ein Kind in der Krippe« gesendet hat. Das Geistkind der Liebe im Innern zu bemerken und zu pflegen, stellt sich als Aufgabe.

Frühling – Epiphanie – Ostern

Die innere Neugeburt und das Erscheinen des Geheimnisses der Liebe umschreibt den Beginn der vierten Festeszeit (Epiphanie). Dazu muss Altes entrümpelt und Leibgewordenes geopfert werden (Fastenzeit). Dem kindlich Reinen in jedem Menschen werden wir zum dienenden König, wie es in der wahren Wissenschaft, in der Kunst und im echt Religiösen eigentlich angestrebt wird. Das Mysterium der Verwandlung soll auch äußerlich erscheinen. Im »Ätherischen«, also der Sphäre der künstlerischen Bildekräfte und der sinnlichkeitsfreien Gedanken, scheint der erneuerte Mensch zuerst auf. Das ist der wahre Frühling: Ostern. Die Auferstehung des als Mensch durch den Opfertod gegangenen Sohnesgottes bildet den zentralen Wendepunkt der Menschheitsgeschichte. Dieses Geschehen, das bezeichnenderweise in römischer Zeit stattfand und in griechischer Sprache festgehalten wurde, gibt uns die Grundlage für eine substanzielle Veränderung und dient uns als Vorbild.

Mit Verstand und Gemüt soll das zunächst aufgenommen werden. Als individuellen Brauch kann man zum Beispiel den Verzicht üben – nicht bloß jenen auf den Überfluss an Essen, sondern vielleicht auch den auf übermäßigen Konsum, das Autofahren und den Handygebrauch – und dadurch eine Persönlichkeit werden, sein eigener König werden. Das kann einhergehen mit dem Verzicht auf Machtentfaltung. Dass es möglich ist, aus dem Geistwillen heraus neu zu werden, kann auch als Suche nach einer neuen Farbigkeit umschrieben werden, und damit erhellt sich der wahre Sinn vieler Osterbräuche. Sie erschließen sich dann überkonfessionell.

Himmelfahrt und Pfingsten

Mit der fünften Festeszeit treten wir vollends in die Gegenwart ein. Es soll eine Zeit der individuellen Geistesgegenwart werden, eine Zeit des Erfassens der heilenden Impulse aus dem wandlungsbereiten Ich heraus, das sich weltverbunden und für die anderen Menschen und alle Geschöpfe mitverantwortlich fühlt. Jeder einzelne Mensch kann sich auf seine ganz eigene Art begeistern lassen von diesem heilbringenden Geist. Mit der Renaissance beginnt dieser Zustand eigentlich erst, er ist der Ausdruck des neuzeitlichen Humanitätsverständnisses. Das Pfingstgeschehen ist nicht etwas Gewesenes, sondern es ereignet sich aktuell – wenn wir Menschen es aufnehmen wollen, wenn wir ideell zusammenkommen, um eine Weltgemeinschaft zu bilden und in dieser Gemeinschaft das je Individuelle voll zur Geltung kommen lassen. Friedenstauben sammeln sich dann um eine solche Bildung herum und sind ihr Erkennungszeichen. Innerlich spürt man eine Verjüngung.

Die zukünftige Entwicklung, die in zwei weiteren Schritten geschieht, wird schon ahnbar: Es geht um die Schaffung einer neuen Sozialität, um das Leben in freier Selbstverantwortung und Wahrheit. Das wird den Kreislauf des Werdens auf eine neue Ebene heben. Dann wird die Erde ganz von der Liebe durchleuchtet sein.

Zusammengefasst lassen sich fünf Stufen erkennen:

der natürliche Mensch (mit Naturehrfurcht und gesunden Sinnen),

der sich zu kämpferischer, arbeitender Haltung entschließende Mensch (mit Selbstinitiative und Sinn),

der sich von oben beschenken lassende und sich dafür vorbereitende Mensch (mit Empfindung für die innere Werdekraft),

der opfernde, die frohe Botschaft begreifende Mensch (mit Verstand und Gemüt für die Wandlung),

der Mensch, der diese Botschaft eigenständig und frei zum Ausdruck bringt (mit Bewusstsein des Geistes).

Das sind die fünf Etappen, aus denen sich die Grundlinien zur Erneuerung der Feste ergeben. Das beinhaltet auch den Kampf gegen falsche Gegenbilder: Wenn Mutproben zum Klamauk werden, wenn der blaue Nikolaus zum roten Coca-Cola-Mann mutiert, wenn Kitsch und Mode den Weihnachtsschmuck bestimmen oder wenn die drei Könige zu Spendensammlern werden, die gegen Bezahlung das Heil ins private Haus bringen sollen. Die korrigierende Verlebendigung der Feste aus dem Verstehen heraus ist eine wichtige Aufgabe für uns alle.

Zum Autor: Fabrizio Venturini, langjährige Tätigkeit als Dozent am Waldorfkindergartenseminar Stuttgart.

Literatur: Rudolf Steiner: Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien, GA 117, Dornach 1986; Rudolf Steiner: Das Künstlerische in seiner Weltmission, GA 276, Dornach 1982; Michael Maurer: Festkulturen im Vergleich, Köln 2010