Im Angesicht des Engels

Wolf-Ulrich Klünker

Zwischen dem Engel und mir besteht heute eine ständig nahe Berührungsgrenze. Aber ich kann ihn auch nicht bemerken. Dann scheint er mich ebenfalls nicht zu bemerken, dann ist er kaum in der Lage, auf mich zu wirken. Die Ursache unserer Beziehung ist auf mich übergegangen – das war nicht immer so. In früheren Menschheitsepochen lagen der Ausgangspunkt und die Aktivität beim Engel.

Grenze I: Bewusstsein und Konstitution

Der Berührungspunkt liegt in mir: wo mein Bewusstsein, das aus meinem Selbstbewusstsein und meinem Bewusstsein von der Welt besteht, auf mein weniger bewusstes Ich trifft, auf meinen Leib und meine Konstitution. In beiden Bereichen bin ich individuelles Ich: in meinem geistig-seelischen Bewusstsein, und in dem, was ich leiblich-konstitutionell bin. Beide Seiten dieser Berührungsgrenze sind individuell, unverwechselbar.

In meiner biografischen Entwicklung entferne ich mich von meinem konstitutionellen Herkommen, emanzipiere mich hin zum Selbstbewusstsein und zum eigenständigen Bewusstsein von der Welt. Aber meine leiblich-konstitutionelle An- und Einbindung bleibt.

Meine Bewusstseinsentwicklung kann mir ermöglichen, als Erwachsener oder älterer Mensch mein konstitutionelles Herkommen besser zu verstehen: zu begreifen, warum ich leiblich bin, wie ich bin; inwiefern ich zu der Familie gehöre, aus der ich stamme und die ich mir scheinbar nicht ausgesucht habe; welche Folgen und Bedeutung es hat, dass ich unter diesen »genetischen« Bedingungen aufgewachsen und älter geworden bin. Ich kann dann vielleicht begreifen, warum ich unter meiner konstitutionellen Ausstattung unter Umständen leiden musste; warum die Beziehung zu meinen Eltern und meine kindliche Lebenssituation so schwierig waren; welche positiven und erfreulichen Entwicklungsimpulse diese Lebensvoraussetzungen gaben.

Ich kann dann vielleicht sogar spüren, dass im späteren Leben mein bewusstes Ich auf das konstitutionelle Ich korrigierend und gesundend zurückwirken kann.

Krankheitsursachen liegen heute oftmals darin, dass der leibliche Organismus und die mitgebrachte Konstitution nicht aus dem bewusst erlebten Ich und der eigenen geistig-seelischen Entwicklung heraus die Erneuerungsimpulse erhalten haben, die sie eigentlich gebraucht hätten – Erneuerungs- und Lebenskräfte, die früher der Engel bereitstellen konnte. Heute begegnet mir ein unerkannter Engel an meiner individuellen Grenze von Bewusstseins- und Lebensprozess, an dem Berührungspunkt meiner geistig-seelischen Entwicklung einerseits und meinem konstitutionellen Herkommen in Geburt und Lebensumgebung andererseits.

Ein Bewusstsein dieser inneren Berührung wurde früher als »Schutzengel« erlebt. Heute kann leise spürbar werden, dass in meinem Erleben dieser inneren Berührung eine weitreichende Kraft wirkt. Diese Kraft ist mir sehr nahe; sie erscheint als mein höheres Selbst.

Grenze II: Empfindung und Natur

Ich sehe die Wolke am Himmel ziehen und spüre den Wind, der sie bewegt. Ich sehe die Blume und empfinde die Farbe, beispielsweise das Rot der Rose. Das Denken und auch teilweise mein Erleben sagen mir mit einer gewissen konventionellen Selbstverständlichkeit: Die Wolke zieht weit von mir entfernt am Himmel, der Wind bläst außerhalb von mir; die Rose steht vor mir, ebenfalls außerhalb, und ihre Farbe gehört zu ihr; ich nehme die Farbe lediglich wahr. – Aber es gibt auch eine Empfindungsschicht, in der ich die Bewegung der Wolke in mir fühlen kann, indem ich so etwas wie einen Lufthauch in mir spüre. Und auch das Rot der Rose existiert nicht nur draußen, sondern bildet eine Wirklichkeit in mir. In gewisser Hinsicht kann ich sogar empfinden, dass mir die Wolke und der Wind nur etwas sagen, weil ich ihre Wirklichkeit auch innen kenne; dass mich das Rot der Rose nur deswegen seelisch anspricht, weil es auf eine ebenso wirkliche Innenerfahrung in mir trifft.

Meine Wahrnehmung der Natur und der Welt bliebe ohne Empfindung, wenn nicht durch eine entsprechende Innenwirklichkeit meine Empfindungsresonanz ausgelöst würde. Hier besteht eine feine Verbindung zwischen Innen und Außen. Der Punkt, an dem sich beide Seiten berühren, ist subjektiv und objektiv zugleich. Das Innere hat eine Außenwirklichkeit. Mein inneres Erleben der Bewegung und der belebenden Luft erkenne ich in der Wolkenbewegung und dem Wind draußen wieder; meine innere Beziehung zur Farbe und zur Form der Rose erscheint mir draußen in dieser Rose, die ich gerade sehe.

Die Rose und die Wolke würden unbemerkt bleiben, wenn sie nicht auf meine innere Erfahrung treffen würden. Durch mein Erleben erhalten sie ein Bewusstsein. Und ihre »äußere« Existenz ermöglicht mir, die entsprechenden inneren Erlebnisschichten zu bemerken, freizulegen und zu entwickeln. An dieser Berührungsgrenze findet eine Vertiefung statt. Mein innerer Erfahrungsraum wird intensiver, und je feinfüh­liger ich die Natur und die Welt um mich herum bemerken kann, desto deutlicher wird sie zur Erscheinung kommen. Die Wolke und die Rose besäßen keine Realität, wenn sie nicht bemerkt würden.

An der Grenze von Innen und Außen, von gleichsam subjektiver Natur in mir und gleichsam objektiver Innerlichkeit in der Natur draußen, existiert eine höhere Kraft, die Innen und Außen, mich und die Natur verbindet. Es besteht eine innere Lebensbeziehung zwischen dem Subjektiven in mir und dem Objektiven draußen – bestünde dieser Zusammenhang nicht, so wäre die Natur unbewusst und ungefühlt, und ich selber hätte nur die Subjektivität eines Fühlens, das selbst keine Realität besitzt. Wir schenken uns also gegenseitig die Wirklichkeit. Dies zu bemerken, kann dazu führen, die Kraft gewahr zu werden, die in mir Innen und Außen verbindet. Wenn ich diese Wirklichkeit bildende Kraft empfinde, strahlt von mir ein Bewusstsein aus, das im Hintergrund das Angesicht des Engels beleuchtet, so dass es auf mich zurückstrahlen kann: ein leises, sehr persön­liches Krafterleben meiner Beziehung zur Welt. Ich könnte, muss es aber nicht als Berührung des Engels bezeichnen.

Grenze III: Bemerken und Zukunft

Wenn ich näher mit einem Kind zu tun habe, entwickle ich allmählich ein Empfinden für seine Individualität; auch wenn das Kind vielleicht noch sehr jung ist und viele seiner späteren »Eigenschaften« noch nicht ausgebildet hat. Aus meiner Empfindung für die Individualität des Kindes heraus kann ich etwas bemerken. Ich kann als Erwachsener einen Zusammenhang erkennen und zugleich bilden, der für das Kind eine Zukunft erschließt. Würde ich diesen Zusammenhang nicht bilden, wäre dem Kind die Zukunft verschlossen. Denn was ich da bemerke, bezieht sich nicht auf das, was bereits ist, sondern auf etwas, das noch nicht ist. Und das, was noch nicht ist, muss in individueller Weise mit dem Kind verbunden sein, sonst könnte es nicht in seine Zukunft führen.

Ich kann dann ahnen, dass hier nicht allein bedeutend ist, was aus der Vergangenheit dazu geführt hat, dass das Kind so ist, wie es ist; dass immer wichtiger wird, was aus seiner gegenwärtigen Situation in der Zukunft wird. Ich kann darüber hinaus sogar bemerken, dass in manchen Bereichen das Ursachendenken nahezu umgedreht werden muss. Dass dann in den Hintergrund tritt, warum etwas aus der Vergangenheit so geworden ist, wie es ist; dass vielmehr für ein Verständnis der Situation und ihre weitere Entwicklung wichtiger ist, gewissermaßen aus der Zukunft heraus zu bemerken, worauf es hinauslaufen soll. Das menschliche Erleben und auch das pädagogische Denken von der Zielursache her, wird gerade für die Entwicklung des Kindes immer entscheidender, weil das Kind umfassend zukunftsoffen ist. In meinem Bemerken, was für seine Zukunft wichtig ist, erschließt sich dem Kind dieser Entwicklungsraum.

Es gibt einen Umschlagspunkt in der Menschheitsentwicklung, von dem an die Bedeutung der Vergangenheit abnimmt, und die Bedeutung der Zukunft als Ursache zunimmt. So bin ich dauernd aufgerufen zu bemerken, was vielleicht nur ich bemerken kann – nicht nur beim Kind. Ich bin angehalten, Zusammenhänge zu bilden, die nur ich herstellen kann; ich bin also verantwortlich, in den Prozess der Zukunftsbildung einzugreifen, ihn mitzugestalten. Wenn ich dieses Bewusstsein als Sensibilität ausbilde, kann ich eine Kraft leise spüren, die meine Zukunftsintention realitätswirksam macht. Eine Kraft, die darauf wartet, durch mich Zukunftsimpulse zu erhalten, die es schrittweise verwirklichen kann. Eine Kraft, die beispielsweise auch mit der Individualität des Kindes verbunden ist – jederzeit bereit, in die Entwicklung des Kindes einzufügen, was der Erwachsene in der Umgebung des Kindes aus seiner empfindenden und erkennenden Beziehung heraus für das Kind als Zukunftsschritt erschließt. Damit ist nicht gemeint, dass Zukunftskonzepte oder feste »Entwicklungsziele« entstehen – sie schaden in aller Regel sogar. Sondern dass sensibel bemerkt wird, was im Sinne eines nächsten kleinen Schrittes für das Kind einen weiteren Lebenszusammenhang eröffnet. Das gilt auch für meinen Umgang mit erwachsenen Menschen, ja sogar für meine Beziehung zur Welt insgesamt.

Der Engel und höhere geistige Wesen »warten« gewissermaßen darauf, durch mich Zukunftsimpulse zu erhalten, die sie realitätsbildend aufnehmen und verstärken können. In dem Erspüren dieser geistigen Erwartung des Engels, der auch hier meist nicht mehr als »Engel« erscheint, kann sich erschließen, dass die Beziehung zu geistiger Wirklichkeit heute nicht mehr egoistisch sein kann. Weniger gilt die Frage, was der Engel für mich tun kann; vielmehr wird die Frage immer wichtiger: Welche sensiblen Zusammenhänge kann ich für die Zukunft bilden, damit der Engel wirksam werden kann? Interessant ist dabei, dass diese Frage in der Gegenwart eigentlich nicht mehr direkt auf den Engel zielt, sondern auf die Bedürfnisse und Entwicklungschancen des anderen Menschen und der Welt. Auch hier verschwindet das Antlitz des Engels gleichsam hinter der Kraft, die nun durch das menschliche Ich auf den Weg gebracht werden kann. Der Engel wartet unsichtbar an der Grenze zur Zukunft, um als Kraft in die Zukunft zu strahlen und zu verstärken, was ich ihm anfänglich vorgebe.

Grenze IV: Denken und Gefühl

Mein Denken über meine Beziehung zum »Engel« bestimmt mein Gefühl; aus dieser Empfindung heraus kann ich auf ihn aufmerksam werden. Es geht um eine Empfindung, die ihren Ursprung in meinem denkenden Bewusstsein hat, um dieses leise Gefühl, das nicht einfach »mitgebracht« in mir lebt, sondern das ich aus der geistigen Selbstaktivierung heraus hervorbringen konnte. Dadurch werden neue Wahrnehmungen möglich – nicht »übersinnlich« in einer früheren Weise, sondern als eine Intensivierung und Vertiefung des Empfindungsbereichs.

Die Wahrnehmung ist dann nicht mehr nur Abbild einer gegebenen Wirklichkeit; die Empfindung wird zum Wahrheitsorgan; das Denken wird gefühlsbildend. Es wird spürbar, dass die Realität, auch diejenige der Sinneswahrnehmung, zunehmend darauf angewiesen ist, von einem wachen und sensiblen Empfindungsbewusstsein im Ich begleitet zu werden. So ist mir der Engel nah, und wir können uns wechselseitig beleuchten und sichtbar machen – wenn ich die Empfindung ausbilde, dass ich immer mehr aus meiner geistigen und seelischen Selbstaktivierung heraus lebe: aus meinem neuen Denken über mich und die Welt. Diese Erfahrung kann existenziell vertieft werden, als neues Selbstgefühl. Dann wird spürbar, dass ich aus der Wahrheitsempfindung heraus meinem Leben Kräfte zuführe, die es zunehmend benötigt, auch im Organismus; darin bin ich dem Engel verbunden.

Zum Autor: Wolf-Ulrich Klünker ist Leiter der Delos-Forschungsstelle für Psychologie in Berlin und Professor für Anthroposophie an der Alanus-Hochschule, Alfter

Literatur: Wolf-Ulrich Klünker: Die Erwartung der Engel. Der Mensch als neue Hierarchie, Stuttgart 32010; ders.: Die Empfindung des Schicksals. Biografie und Karma im 21. Jahrhundert, Stuttgart 2011