Eine zwiespältige Angelegenheit

Andreas Laudert

Es liegt im Wesen des Konflikts, dass man ihn will und nicht will. Wird es ungemütlich, leidet der Mensch unter der Stimmung, die er selbst erzeugt hat. Dies führt zu einer inneren Spaltung zwischen einem Konsensbedürfnis und dem Beharren auf der eigenen Sicht. Manchmal gefällt man sich in der Erbitterung, denn wer für eine gute Sache unbeirrbar eintritt, erhält Anerkennung. Daher wird Versöhnung gesellschaftlich gern inszeniert. Politische Kontrahenten scherzen öffentlich, wenn sich im Privaten Gemeinsamkeiten finden. Auch in Kollegien müssen die Fronten schon sehr verhärtet sein, wenn man nicht beim Essen nach der Konferenz doch wieder aufeinander zugeht. Anders liegen die Dinge beim Verzeihen. Den »Unverzeihlichen« gibt es nicht. Das Wort verzeihen bezieht sich nur auf Taten und kommt nicht als Modus einer Gesinnung oder menschlichen Eigenschaft vor wie versöhnlich sein. Beim Verzeihen geht die Widersprüchlichkeit tiefer. Nachhaltiger spaltet es uns, wenn wir im Zorn persönlich verletzen. Man musste den einen Vorwurf aussprechen, hatte sich zu einer brüskierenden Tat hinreißen lassen – jetzt quälen uns die Folgen. Der davon Getroffene wiederum fürchtet die erneute Verletzung. Sein Vertrauen hat Schaden genommen. Einerseits wollen wir dann verzeihen, aber können es nicht wirklich oder tun es nicht von Herzen. Und umgekehrt: Wir könnten eigentlich verzeihen, aber wollen nicht, weil wir in den Schmerz, in die Opferrolle verbissen sind und unsere Wunde lecken. Verzeihen muss echt sein, aus der seelischen Tiefe kommen. Es bedarf einer höheren Kraft, die hilft, die Gespaltenheit zu überwinden, die uns versöhnt mit unserer Unversöhnlichkeit, die uns unser Nichtverzeihen verzeiht und die uns vergibt, wenn wir vergeblich versuchen, großherzig zu sein.

Verzeihen muss jeder allein

Jene Kraft der Versöhnung, die weiter reicht als die nur sentimentale oder strategische Inszenierung, hat mit dem Wesen der Zeit zu tun. Zeit heißt Verwandlung. Die moralische Empörung bezieht sich auf gerade Geschehenes: Das Internet etwa ist ein Marktplatz spontaner Affekte. Jede substanzielle Besinnung oder Neubewertung bedarf eigener innerer Aktivität über den Anlass hinaus. Deshalb wiegt Verzeihen schwerer, es ist mehr als nur ein »Entschuldigen« oder Verbessern der Stimmung. Versöhnen scheint allgemeiner, als beträfe es die Menschheit im Ganzen. Versöhnung lebt eher in Gruppen, zwischen Gemeinschaften. Verzeihen kann nur der Einzelne. Es ist eine initiale Tat, die über das Ego – auch das Gruppen-Ego – hinausweist und das Geistige berührt und dafür braucht. Ich versöhne mich, heißt es zwar – mit jemandem. Doch ich verzeihe dir – oder mir. Beim Versöhnen kann ich auch Vermittler sein – ich kann andere versöhnen. Aber kann ich an jemanden appellieren, zu verzeihen, oder es gar stellvertretend tun?

Das Verzeihen setzt in einer vielschichtigen Weise am Geheimnis der Vergänglichkeit, ja des Vergessens an – womit kein Spruchgut gemeint ist wie »Die Zeit heilt alle Wunden« oder »Schwamm drüber«. Es gibt auch das gesunde, natürliche Vergessen, das uns am Morgen erquickt und neu schöpferisch macht. Nicht nur physisch werden Wunden verbunden, um zu heilen. In einem geistigen Kontext verbindet eine Wunde auch die jeweiligen Menschen – damit deren Beziehung heilen kann und sich wandelt. Manche Verstrickung legt ein schon bestehendes gemeinsames Schicksal frei, ein belastetes »karmisches« Verhältnis.

Beobachter wundern sich dann, warum etwas ständig aufbricht – oder eine besondere Verbindung bildet sich im Zwist zum ersten Mal. Es hat mit verborgenen Dimensionen des Seelisch-Sozialen zu tun. Wenn ich diese Dimension (an)erkenne, wird aus der vom Gemüt naiv erhofften oder vom Verstand kühl kalkulierten Versöhnung eine Tat für sich, etwas, das aus tieferen Schichten kommt und ein deutlich weiteres Bewusstsein umspannt.

Religion heißt wieder verbinden

Religion erzieht zu Andacht, innerem Nachklang, aber auch zu Bewusstsein – weckt und vertieft es. Wirksam ist dabei durchaus die Kraft des Gemüts, die Sehnsucht nach einer Verbindung »trotz allem«, und nicht der Verweis auf Dogmen, das Spekulieren auf Lohn im Jenseits. Der Religiöse glaubt an das unmittelbar Zwischenmenschliche. Aus Verwurzelung im Ewigen interessiert ihn das Jetzt, nur dort aktualisiert und bewährt sich das Ewige. Religiös sein muss nicht heißen, einer Religion anzuhängen. Religionen oder Nationen mögen sich versöhnen können. Aber nur Menschen können einander, aus individueller Religiosität, verzeihen. Eine Religion, die sich anmaßte, einer anderen deren Sosein zu verzeihen, wäre hochmütig. Wie könnten vor diesem Hintergrund zwei Seiten aufeinander zugehen, die einander auf dem Feld des Weltanschaulichen verletzt haben? Nehmen wir einen Konflikt, der vor Jahren die Seelen bewegt hat: den Karikaturenstreit. Wie entstünde zwischen jenem dänischen Künstler – und der Redaktion, die ihn druckte – und einem Muslim, der sich damals von der parodistischen Darstellung des Propheten herabgesetzt gefühlt hatte, Verständnis? Innerhalb der herrschenden kulturell-religiösen Überzeugungen ist es nicht möglich – nur, wenn diese nicht mehr »herrschen« und gerade aus dem Gefühl der Ohnmacht, vom Nullpunkt, Neues erzeugt wird.

Reinkarnation: die Empathie des Kosmos

Ein anderer irdischer Kontext müsste geistig denkbar werden, in dem man mit Leib und Seele die Situation des anderen realisiert, den eigenen früheren Standpunkt vergisst und nun für sich etwas Niedagewesenes fühlt und verkörpert, eine Sicht auf Gott, auf Kunst, die stets fernlag. Weil man eben doch schon einmal »dagewesen« ist auf Erden und auch in Zukunft dem vermeintlich völlig Fremden jederzeit intim vertraut gegenüberstehen könnte. Wieder­verkörperung – denn davon ist hier die Rede – ist in der Zeit umgesetzte Empathie, ist »gestrecktes« Verzeihen. Reinkarnation ist die strukturelle Empathie des Kosmos. Nur: Religiös daran wäre nicht, den Glauben an diese Option als ein Muss oder als Erwartung zu formulieren. Religiös ist eher die innere Haltung, jedem in einem vergleichbaren Gestimmtsein zu begegnen, in einer grundsätzlichen Offenheit. Und sich bewusst zu machen: »Du bist von deiner Gemeinschaft geprägt, ich von meiner, deshalb streiten wir, sind fern voneinander und tun uns weh. Aber nur diese Prägung legt uns nahe, verletzt sein zu müssen, nur unser Selbstverständnis drängt uns zu Boshaftigkeiten! Steht unser Ich nicht darüber?« Dass man plötzlich zu verzeihen imstande ist, weil man des Anderen Handeln aus neuer Perspektive sieht, kann dabei als Gefühl auch überwältigen, es kann einen als Vermögen selbst überraschen.

Der Anspruch jedoch, religiös zu sein, und zugleich auf der Straße Hassparolen zu rufen, weil die eigenen religiösen Gefühle verletzt wurden, widerspricht sich selbst. Wer wirklich religiös ist, zieht nicht vor Gericht. Er zelebriert seine Religion nicht, er kultiviert sie in der Stille.

Vergeben als freie Tat

Zwietracht oder »Böses« zu genießen ist etwas anderes als sich aufgrund biografischer Narben zu Bösem getrieben zu fühlen. Wo wir gespalten sind, sind wir seelisch noch beteiligt und bleiben ahnungsfähig für eigene Schuld. Wo wir kein Gewissen, keine Zweifel mehr haben, sondern gedankenlos eins werden mit unseren Affekten oder der »heiligen« Sache – die dabei selbst zum Affekt wird –, da erst wird Vergebung schwer bis unmöglich.

Das Evangelium kennt die »Sünde wider den heiligen Geist« (Mt. 12, 31-32) – die einzige, die nicht vergeben wird, und zwar für alle Zeiten. Was ist das, die »Lästerung des Geistes«? Was ist mir heute so heilig, dass es mich, wenn es denunziert wird, im Innersten trifft? Es ist mein Ich. Wenn wir einander versagen, uns nach eigener Maßgabe in Freiheit entwickeln zu dürfen. Ich versündige mich am anderen, wenn ich ihn stigmatisiere und an Vergangenes kette – sei es seine Herkunft, seien es Taten oder Worte – und ihn darauf reduziere. Wenn ich ihm abspreche, anders zu sein, als ich ihn mir vorstelle oder haben will. Der gleichgültige Übergriff auf die innere Vielfalt meines Nächsten ist heute der eigentliche Verrat, der wahre Vertrauensbruch. Vertrauen bezieht sich nicht mehr auf Inhalte, es betrifft die ganze Person. Anvertraut ist uns das Mysterium des Mitmenschen, sein Suchen, sein Ideal. Zu behüten ist das Potenzielle, das Werdende, von dem noch niemand weiß. Ich muss auch auf der Hut sein vor der Verletzung meiner Seele, um nicht »aus Prinzip« eine Tat unverzeihlich zu nennen, ohne mich einzufühlen in die geistigen Intentionen und Gründe, die mit ihr verbunden sind. Vertrauen kommt – wie Verzeihen – aus der Zukunft.

Während im Versöhnen, zumal für den Christen, der Sohn steckt und im »Zeihen« der Vorwurf, verbirgt sich im Vergeben die Gabe: die Phantasie. Wo wir vergeben, erschaffen wir etwas. Ich vergebe nicht, weil ich soll oder weil es leicht ist, sondern weil ich will, dass es meine Tat ist. Ich vollbringe etwas, das unnatürlich ist – weil ich paradoxerweise darauf setze, dass sich just daraus Entscheidendes entwickelt. Es ist nicht naheliegend, zu vergeben, wenn man sich ohnmächtig fühlt und sehr verletzt; es ist das Allerfernste überhaupt. Doch nur wo wir das nicht Naheliegende tun, bewegen, ja rühren wir Gott – entzünden wir den göttlichen, heiligen Geist. Wir erwecken ihn, in unserem, zum Leben. Im Wort Advent steckt neben der Ankunft auch adventure: Verzeihen ist auch ein Abenteuer.

Zum Autor: Andreas Laudert studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin sowie Theologie an der Freien Hochschule der Christengemeinschaft. Heute arbeitet er als freier Autor und Dozent und unterrichtet Ethik an der Freien Waldorfschule Prenzlauer Berg.