Zusammenhang stiften

Christof Wiechert

Dazu wird die Fähigkeit des Verzeihens gebraucht. Das Verzeihen gehört zum Leben, wenn das Leben nicht als solitär, sondern im Zusammenhang aufgefasst wird.

Das Problem der Vergrößerung

Fall 1: Eltern haben etwas am Schulverlauf zu beanstanden, schreiben dem Lehrer eine Mail und stellen ihre Kritik in die Klassen-App. Alle Eltern nehmen jetzt Teil an der Beanstandung. Die Antwort des Lehrers ruft in der Klassengemeinschaft fast so viele Reaktionen hervor, wie es Elternpaare gibt. Der Fall entgleist und ist kaum noch zu managen.

Fall 2: In einer Schule entsteht eine »progressive« Fraktion von Lehrern, die sich gegen die »konservativen« oder »alten« Lehrer wendet. Man müsse mit der Zeit gehen und den alten Hut ablegen, man könne nicht warten, denn die Schule drohe »rückständig« zu werden und den Anschluss zu verpassen. Es geht um Fraktionen, um Neigungen und Stimmungen. Die eigentlichen Protagonisten bleiben im Hintergrund.

Fall 3: In einer Waldorfschule in einem großen asiatischen Land erscheint vollkommen aus dem Nichts ein Artikel in der Tageszeitung, der Schulleiter habe sich an einem Schüler vergriffen. Der Schulleiter ist zu diesem Zeitpunkt im Ausland. Sofort wird die Meldung von anderen Zeitungen übernommen und andere Schulen werden regelrecht bedroht. Polizei und Staatsanwaltschaft untersuchen den Fall und es stellt sich heraus, dass nichts vorgefallen ist. Die Zeitung, die den Bericht brachte, beruft sich auf den Schutz der Informanten. Der Schaden ist immens.

Diese drei Beispiele zeigen, dass es neben den persönlichen Konflikten, eine zweite Art der Konflikte gibt. Diese zweite Art zeigt ein Konfliktfeld, worin die Akteure nicht mehr auftreten, sondern nur die Folgen wirken. Ein solches Feld hemmt die Arbeit und macht die Arbeit selber problematisch.

Mit dem Einzug der sozialen Medien entsteht das Problem der Vergrößerung, einer Vergrößerung, die sich der menschlichen Handhabung entzieht und ihren eigenen Gesetzen folgt. Konnten Konflikte einst an Menschen aus Fleisch und Blut festgemacht werden, vergrößern sie sich heute und entpersonifizieren sich. Und das geschieht in der Zeit der Individualisierung.

Der »heiße« Konflikt wird »kalt«, ungreifbarer, aber wie ein Schwelbrand langwieriger. Und er wirkt zersetzend. Das Verzeihen braucht eine andere Dimension. Durch diese Vergrößerung, die zugleich auch eine Anonymisierung sein kann, ist das Verzeihen nicht mehr an eine Person zu adressieren. Eine andere Form, eine andere Dimension ist gefragt. Da drängt sich dann die Frage auf, wie hängt das alles zusammen? Gibt es verborgene Ursachen die von einem ausgehen? Werden Wirkungen verursacht, denen man sich nicht bewusst ist? Schlussendlich stellt sich die Frage nach dem karmischen Feld.

Wie sieht dieses aus? Was sind bewusste Beziehungen, was liegt im Dunkeln? In welchem Geflecht der Beziehungen steht man?

Wie im dritten Beispiel aufgezeigt wurde, gibt es keine Person, der man verzeihen kann, denn sie ist nicht zu identifizieren. Was übrig bleibt, ist die Geste des Verzeihens, die sich an das karmische Feld richtet. Das bewusst zu vollziehen ist ein Akt, der viel Bewusstsein und innere Stärke verlangt: Das Verzeihen wird dem karmischen Felde übergeben, man lässt es ruhen, man will, obwohl es nicht »gelöst« ist, es als gelöst betrachten und weiterarbeiten und weiterleben.

Jeder ist anders verletzlich

Verzeihen im herkömmlichen »kleinen« Sinn lebt in jeder Gemeinschaft. Jemand hat eine Dummheit begangen und ich verzeihe ihm gerne (denn mir hätte das auch passieren können). Jemand spricht ein verletzendes Wort mir gegenüber. Bin ich verletzlich, oder hab ich die Kraft einzusehen, dass das Gegenüber vielleicht recht hat und ich etwas daraus lernen kann? Oder bin ich in der Lage festzustellen, dass er es so nicht meinte, nur ungeschickt war? Spielarten des täglichen Miteinanders. Hier bekommt das Verzeihen eine andere Bedeutung.

Was ist »Verletzlichkeit«? Es gibt Kollegen, die sind sehr verletzlich, man muss aufpassen. Andere sind robuster, die vertragen einiges, stecken es weg oder bemerken es kaum. Es ist eine Angelegenheit des Temperaments und auch der seelischen Konstitution. Wenn man zum Beispiel liest, wie Rudolf Steiner Caroline von Heydebrand angeht wegen ihrer Stimme und der Tatsache, dass sie sich im Kollegium wenig Freunde hat machen können, der kann an der Episode ermessen, welche Dimensionen Verletzlichkeit annehmen kann oder eben nicht. Caroline von Heydebrand steckt es weg und versucht daraus zu lernen, das heißt, sich zu ändern. Andere waren viel empfindlicher und wollten ihren Abschied von der Schule nehmen, weil sie meinten, Steiner würde sie nicht genügend beachten.

Tritt aber die Situation ein, dass ich verletzt worden bin oder mir meiner Meinung nach Unrecht geschehen ist, kann ich verzeihen? Wo und wie finde ich die Kraft dazu?

Selbsterziehung ist heute unser täglich Brot

In dem Selbsterziehungsbuch für Erwachsene »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« steht eine merkwürdige Passage. Die Rede ist von »Bedingungen zur Geheimschulung«. Zur Zeit Steiners war Selbsterziehung eine esoterische Angelegenheit. Hundert Jahre später würden wir vielleicht sagen: »Bedingungen zur Selbsterziehung«, denn das Esoterische ist längst öffentlich geworden.

Nun erleben wir heute als Schwäche der allgemeinen westlichen Konstitution, dass die Lebensführung selbst zur Aufgabe wird und ihre selbstverständliche Basis verloren hat. Diese selbstverständliche Basis wird durch viele Faktoren bestimmt. Eine ist die Erziehung. Erziehung soll diese Basis solide machen, wir nennen sie dann Lebenskunst. Geht man nun den Bedingungen nach, die Steiner beschreibt, stellt man fest: Es werden Hilfestellungen geboten, die Kraft des Verzeihens zu aktivieren:

Die erste Bedingung: »Man richte sein Augenmerk darauf, die körperliche und geistige Gesundheit zu fördern.« Eine wunderbare Darstellung der Lebenskunst folgt, zwischen Verantwortung und Entspannung, Genuss und Arbeit. Sie gibt dem Menschen die sensible Robustheit, die er im »Lebenskampf« braucht. Die zweite Bedingung ist, »sich als ein Glied des ganzen Lebens zu fühlen. In der Erfüllung dieser Bedingung ist viel eingeschlossen«. Wenn man sich selbst als Glied das ganzen Lebens auffasst und nicht als isolierte Individualität, erhält alles im Leben Bedeutung, denn ich bin Teil dieses Lebens. Das heißt, wenn ich Teil bin und nicht außen vor stehe, wird Verzeihen zu einer Kraft, die den Zusammenhang aufrecht erhält.

Diese Tatsache verdient es, ins Bewusstsein gerückt zu werden. Wo man auch ist auf Erden, was man auch tut, es ist immer Zusammenhang da. Dieser Zusammenhang kann gepflegt oder auch verletzt werden. Viele Verwerfungen im sozialen Leben haben ihren Ursprung in der Empfindung »es geht um meine Person, um mich« und schon ist ein Absetzen, eine Isolierung da.

Wird das Grundgefühl des Lebens im Zusammenhang zur Lebenssicherheit, kann man den Zusammenhang auch erahnen, wenn er vorerst nicht verständlich ist. Auch wenn die Faktoren, die den Zusammenhang zu zerreißen drohen, uns unbegreiflich sind, ist es gerade dieses Bewusstsein, das deutlich macht: Man ist darin eingesponnen, es hat mit mir zu tun, auch wenn man nicht involviert scheint.

Die dritte Bedingung liest sich wie eine Grammatik des Verzeihens: »Gedanken und Gefühle haben für die Welt ebenso Bedeutung wie Handlungen.« Das Verzeihen ist eine Tat im Denken und Empfinden (Fühlen). Tatsächlich kann man sich dahin entwickeln, dass dieses Feld der unsichtbaren Wirkungen immer sichtbarer und sichtbarer wird. Das Bedürfnis entsteht, Denken und Fühlen in den Griff zu bekommen. Das Feld der Seele beginnt sichtbar zu werden. Es ist das Feld der Verletzlichkeiten, wo das Verzeihen wie Heilung wirkt.

Die vierte Bedingung ist die Fortsetzung der dritten: Des Menschen eigentliche Wesenheit liegt nicht im Äußeren, sondern im Inneren. Es ist die Gelegenheit, »Wesentliches vom Unwesentlichen unterscheiden« zu lernen – die Hüllen, die »Verpackungen« kann man verletzen, nicht die eigentliche Wesenheit. Aber auch das Umgekehrte ist wahr: Bin ich mir dessen bewusst, entsteht Stärke der Nichtverletzlichkeit.

Die fünfte Bedingung ist wie das Ruder am Schiff: Halte die Lebensrichtung fest oder die »Standhaftigkeit in der Befolgung eines einmal gefassten Entschlusses«. Des Menschen Wesenheit wird dadurch sichtbar, denn sie lebt in der Kohärenz der Taten. Der Mensch wird sichtbar verständlich.

Die sechste Bedingung hat eine große Wirkung auf die Kraft des Verzeihens. Sie lautet, »Dankbarkeit gegenüber allem, was dem Menschen zukommt«. Man erfasst die Reichweite dieser Haltung, wenn man sie anwendet auf die Geschehnisse im Leben, für die man normalerweise nicht dankbar ist. Es zeigt sich, dass diese Erfahrungen auch dazugehören, Kräfte des Verzeihens im Menschen werden frei und es eröffnet sich die Perspektive, das Leben als ein von mir und dem Schicksal gewolltes aufzufassen.

Die siebte und letzte Bedingung ist in diesem speziellen Kontext leicht verständlich und heißt: »…das Leben unablässig in dem Sinne aufzufassen, wie es die Bedingungen fordern«.

Sind wir schlecht erzogen, dass solche Übungen nötig sind? Erziehen und Selbsterziehung haben eine Eigenschaft: Sie sind nie fertig. Es ist wie bei einem Haus: Zum Erhalt braucht es Pflege. Die Farbe blättert nach einigen Jahren, nach einem schweren Sturm muss das Dach ausgebessert werden. Die Wohnungstür, soll sie im Lot bleiben, braucht dann und wann einen Tropfen Öl in den Scharnieren.

Mit der Selbsterziehung und dem Selbsterhalt ist es nicht anders. Die Akzente der Selbsterziehung werden verschieden sein, je nach Charakter und Temperament. Der eine braucht nur regelmäßig die Fenster zu putzen, ein anderer braucht eine schon etwas gründlichere Dachreparatur.

Das Bild vom Haus darf noch ein wenig bleiben, denn das Haus, das wir bewohnen, ist die Grundlage, von der aus wir arbeiten, agieren und wirken. Es ist noch nicht die Biographie selber. Es sind die Bedingungen. Bedingungen die, wenn sie gepflegt werden, die eigentliche Aufgabe erst ermöglichen. Das so effizient als möglich zu gestalten, nennen wir Lebenskunst, sie erleichtert alle anderen »Künste«, die das Gesamtleben ausmachen.

Lebenskunst ist die Grundlage für die Verwirklichung meiner Lebensziele. Kunst kommt bekanntlich von Können. Sie kann in der Anwendung geübt werden.

Es sind nicht meditative Vorgänge, sondern Haltungen, die an den Erfahrungen des Tages erstarken. Sie weisen uns auch den Weg zur Kraft des Verzeihens als Teil unserer seelischen Existenz.

Zum Autor: Christof Wiechert war langjähriger Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum. Zuletzt ist sein Buch »Lust aufs Lehrersein« im Verlag am Goetheanum erschienen.

Literatur: Die Mitteilungen über Caroline von Hydebrand entstammen den Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart, GA 300c, Dornach 1975.

Die Zitate aus Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? stammen aus dem Kapitel »Die Bedingungen zur Geheimschulung«, GA 10, Dornach 1982