Die alte Dame

Hannah E. Chmela

Artur überlegte kurz, ob es auch wirklich Tabak war, was er da rauchte, und schaute dann wieder dorthin, wo die alte Dame gestanden hatte. Sie war weg. Eine Sirene ertönte, Einschluss auf der Station. Artur drückte die noch nicht fertig gerauchte Zigarette aus und steckte den Stummel in die linke Brusttasche seines Hemdes. Zigaretten waren wertvoll hier. In seiner Zelle konnte Artur an diesem Tag lange nicht einschlafen.

Das Bild der alten Dame auf dem Hof beschäftigte ihn. Sie kam ihm bekannt vor, er konnte sie jedoch beim besten Willen nicht einordnen. Sie schliefen in Einzelzellen. Die Häftlinge hatten keine Namen, nur Nummern. Seinen eigenen Namen zu nennen, getraute sich hier keiner. Artur war die Nummer 24601. Die Schließer hatten alle dasselbe Gesicht. Sie trugen allesamt Gesichtsmasken, warum wusste niemand.

Artur saß an einem Tisch draußen auf dem Hof. Die alte Dame hatte er schon fast vergessen, gute zwei Wochen waren seitdem vergangen. Jemand tippte ihm von hinten auf die Schulter. Artur fuhr herum. Und da stand sie vor ihm. Sie trug abgetragene, aber gut gepflegte, saubere Kleidung, hatte eine Handtasche bei sich und lächelte Artur an. »Wie sind sie hier hereingekommen?«, fragte Artur. »Ist das denn wichtig? Frag Dich lieber mal, wie Du hier raus kommst«, entgegnete die alte Dame ernst. »Wie viele Jahre hast Du noch?« Artur blickte auf seine Schuhe. »Weiß ich nicht«, murmelte er. »Seit wann bist du hier?« Artur starrte immer noch auf den Boden und dachte scharf nach. Er wusste es nicht. Das war ihm bisher noch nie aufgefallen. Er konnte sich weder erinnern, wann er hier angekommen war, noch, wie sein Leben vorher ausgesehen hatte. »Ich wette, Du weißt es nicht, hab ich recht? Du weißt auch nicht, warum du hier bist, oder warum die Anderen keine Namen, nur Nummern haben und die Schließer nur ein Gesicht, oder?« Artur blickte erschrocken hoch. Die alte Dame lächelte wieder. In Arturs Kopf entgleiste ein Gedankenzug nach dem anderen. Sie hatte recht. Sie hatte ja so recht. Aber woher wusste sie das alles? Und die Frage, wie sie hier hereingekommen war, war auch noch nicht geklärt.

Der Gesichtsausdruck der alten Dame wurde auf einmal ernst. »Du traust mir noch nicht. Du kannst noch nicht loslassen. Ich fürchte, wir müssen noch etwas warten, Du bist noch nicht bereit.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging. »Bereit für was?«, rief Artur ihr hinterher, doch die alte Dame war schon hinter einer Gruppe von Häftlingen verschwunden.

Die Worte der alten Dame ließen Artur nicht mehr los. Er begann, Fragen zu stellen, um die Leere, die durch den Besuch der alten Dame entstanden war, zu füllen. Antworten bekam er keine. Keiner seiner Mithäftlinge wusste etwas, und die Schließer zu fragen, traute er sich nicht. Je mehr Fragen Artur stellte, desto stiller wurde es um ihn herum, die anderen Häftlinge mieden ihn. Er begann, seine Anwesenheit an diesem Ort zu hinterfragen. Warum hier sein, wenn man nicht weiß, was man verbrochen hat? Wieso konnte er sich nicht erinnern? Eines Nachts, als Artur wieder wach auf seiner Pritsche lag, öffnete sich die Zellentür. Die alte Dame kam herein und setzte sich zu ihm. Artur war nicht sonderlich überrascht, sie zu sehen. Es war ihm zwar nicht ganz bewusst gewesen, aber insgeheim hatte er nur darauf gewartet, dass sie wieder auftauchen würde. »Na, was meinst Du? Bereit, hier auszubrechen?« Artur zögerte. Wenn sie erwischt würden, würde es böse für ihn ausgehen. Von dem, was die alte Dame zu erwarten hatte, ganz zu schweigen. Andererseits war sie schon dreimal hier hereingekommen, ohne dass jemand sie aufgehalten hätte. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte sich überhaupt niemand um ihre Anwesenheit geschert, gerade so, als ob er der Einzige gewesen wäre, der sie hatte sehen können. Die alte Dame schaute Artur fragend an. Artur blickte sie lange an und nickte schließlich. »Fein«, sagte die alte Dame, »es wird auch allerhöchste Zeit.« Sie verließen Arturs Zelle, überquerten den Innenraum, liefen durch Flure. Alle Türen öffneten sich, sobald sich die alte Dame ihnen näherte. Artur folgte ihr staunend. Ab und zu drehte sich die alte Dame zu ihm um und lächelte ihn verschmitzt an. Ansonsten schwieg sie.

Sie kamen schließlich zu einer großen, schweren Eisentür. Die alte Dame blieb stehen und schaute Artur ins Gesicht. »Hinter dieser Tür liegt die Freiheit. Ich kann sie nicht für Dich öffnen, das ist jetzt Deine Aufgabe.« Artur trat zu der Tür und fasste nach dem Griff. Er lag rau und kalt in seiner Hand. Er blickte zurück zur alten Dame, die ihm ermunternd zunickte, dann drückte er die Klinke herunter und stieß die Tür mit einem kräftigen Ruck auf.

Artur Jenkins erwachte am 17. Mai aus dem Koma. Seine Großmutter, die alle im Krankenhaus respektvoll nur »die alte Dame« nannten, und die die ganzen drei Wochen an seinem Bett gewacht hatte, lächelte, als er die Augen aufschlug.

Zur Autorin: Hannah E. Chmela ist ehemalige Waldorfschülerin und studiert Soziale Arbeit.