Über 600 Menschen mit besonderen Bedürfnissen und Talenten aus aller Welt haben den 6. Europäischen Kongress »In der Begegnung leben« geprägt. Nach drei Jahren Vorbereitungszeit trafen sie sich im Mai im »Bozar«, dem Jugendstilpalast der schönen Künste in Brüssel. Dieses Kulturzentrum unweit des Hauptbahnhofes bietet reichlich Kunst: Architektur, Malerei, Theater, Plastik, Tanz und Musik sind allgegenwärtig. Der Kongress war vollständig in den allgemeinen Kunstbetrieb eingebettet. Bedeutende internationale Künstler treten hier in Erscheinung und nun eben auch Menschen mit Behinderungen unter dem Motto »Soziale Kunst schaffen«. Der Direktor des Bozar bezeichnete sie bei der Pressekonferenz als »Die anders Gesunden«! Während der vier Tage herrschte eine ganz außergewöhnliche Stimmung. Das konstante Erlebnis des »Ich bin Ich und dasselbe gilt für Dich« macht die Besonderheit dieser Kongressreihe aus.
Auch die Organisationsform war besonders: ehrenamtlich, aus freiem Entschluss dem Ziel dienend, diesen Kongress auch in Belgien zu ermöglichen. Eine Herausforderung, denn die Hauptakteure des belgischen Michaelis-Verbandes hatten vorher selbst noch keinen Kongress miterlebt. Auch ist die Sozialtherapie in ganz Belgien zahlenmäßig kleiner als beispielsweise in Berlin.
Vieles bei diesem Kongress war von einem künstlerischen Gesichtspunkt aus gestaltet, zum Beispiel der Programmablauf im wunderschönen großen Saal: erst die Musik durch das Eröffnungskonzert »Ogni Tanto« mit etwa 1.000 Zuhörern, dann die Malerei am nächsten Morgen. Hannes Weigert beschrieb anhand von projizierten Gemälden meisterhaft die künstlerischen Prozesse in seiner Malerwerkstatt in Norwegen. Abends fand dann das fulminante Theaterstück »Ceder« statt, das durch die moderne Inszenierungsweise und durch seine starken Themen und Bilder niemanden unberührt ließ. Ganz ohne Sprache auskommend bewegten sich die Protagonisten meist im Rollstuhl, mitunter aber auch auf Rollschuhen, in einer apokalyptisch anmutenden Ausweglosigkeit. Am nächsten Abend der »Boombal«, eine Erneuerung des Volkstanzes, im eigens angemieteten Nebengelass des Hauptbahnhofes. Die »Lautenbacher Blaskapelle« bot dabei ein Feuerwerk an sichtbarer Lebensfreude!
Bewegen konnte auch eine Delegation aus Russland, die des 70. Jahrestags des Kriegsendes gedachte und somit dem Kongress auch zu einer weltweiten Friedensbotschaft verhalf. Der Sozialminister der mittleren Uralregion war eigens angereist um mitzuteilen, dass Jekaterinburg 2017 den ersten Weltkongress für Menschen mit Behinderungen ausrichten wird.
In fast 30 Workshops konnten interessante Anregungen gegeben und neue Erfahrungen gemacht werden. Man stelle sich vor, die in einer Arbeitsgruppe erläuterten biologisch-dynamischen Präparate führten dazu die Brüsseler Bodenqualität zu verwandeln! Das hätte zweifellos Auswirkungen auf die Menschen, die Politiker und damit auf ganz Europa. Viele Ausflüge zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten konnten unternommen werden. Und immer standen Begegnung und Kunst im Vordergrund des Geschehens. Selbst in herausfordernden Momenten, die es natürlich auch gab. Was war das für eine Begegnungsqualität! Ob der 6. Kongress »In der Begegnung leben« ein soziales Kunstwerk geworden ist, können die Mitgestalter selbst beurteilen – die Sichtbaren und die Unsichtbaren. Dass »Mysterien im Hauptbahnhof stattfinden«, davon zeugte dieser Kongress. Die Andersgesunden haben sie uns eröffnet!
Zum Autor: Thomas Kraus ist Mitarbeiter der »Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V.« für den Bereich Heilpädagogik und Sozialtherapie und Initiator weltweiter Kongresse für Menschen mit Behinderungen.