Die Digitalisierung fordert die Waldorfpädagogik als Ganzes heraus«

Erziehungskunst | Seit längerem engagieren Sie sich für die Medienpädagogik der Waldorfschulen. Zuerst gab es den »Struwwelpeter 2.0«, das war eine allgemeine Informationsbroschüre über Medienerziehung, dann folgte »Struwwelpeter 2.1«, ein »Leitfaden für Eltern durch den Medien-Dschungel«. Darin vertreten Sie die ungewöhnliche These der Medienabstinenz als beste Voraussetzung für Medienkompetenz. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Edwin Hübner | Das ist kein Widerspruch, wenn ich die Entwicklung des Menschen in Betracht ziehe. Ich muss doch zuerst kompetent sein in Bezug auf mich selbst, bevor ich kompetent sein kann in Bezug auf etwas Anderes. Wenn man die Entwicklung des Menschen betrachtet, dann ist die erste Aufgabe des Kindes die Beherrschung seines eigenen Leibes: also Aufrechtgehen, Grobmotorik, Feinmotorik; dann Sprechen, zugleich die Entwicklung der Sinne, denn durch sie tritt es in Beziehung zur Welt. Schließlich muss es phantasievoll denken lernen. Das Kind muss schlichtweg seinen ganzen Leib und damit auch sein Gehirn ausbilden. Wenn das Kind das alles erst einmal geleistet und sich dadurch in der realen Welt verankert hat, dann kann es darauf aufbauend die analogen Technologien und danach auch die virtuelle Welt beherrschen lernen. Aber wenn ich es zu früh mit der Virtualität konfrontiere, ist es weder in der physisch-realen, noch in der virtuellen Welt zu Hause.

EK | Das heißt also, zu früher Medienkonsum behindert die Ausbildung der Grundlagen?

EH | Die in der frühen Kindheit gebildeten Strukturen des Gehirns lassen sich in späteren Lebensaltern – wenn überhaupt – nur durch sehr starke Anstrengungen verändern. Die frühkindlichen Erfahrungen und vor allem die Art und Weise der Aktivitäten sind für das ganze spätere Leben entscheidend. Prägnant formuliert: Am körperlichen »Greifen« entwickelt das Kind die leibliche Basis seines späteren intellektuellen »Be-greifens«, also des Begriffsvermögens.

Wenn Kinder zu viel mit Tablets umgehen, dann fehlt ihnen die Zeit und vor allem die Herausforderung, ihre Feinmotorik genügend zu entwickeln. Smartphones und Tablets sind ja derart einfach zu bedienen, dass sogar Kleinkinder damit nicht überfordert sind. Das wird dann oft so interpretiert, als wären die Kinder besonders klug. In Wahrheit sind die Geräte einfach nur ungeheuer leicht zu benutzen, sie beeinträchtigen aber durch ihre Einfachheit die Entwicklung der Feinmotorik.

Die Kinder werden dann zwar geschickt im Bedienen eines Gerätes, aber ungeschickt für Aufgaben des realen Lebens. Es gibt bereits Berichte, dass Kinder in den ersten Klassen sitzen, die aufgrund mangelhaft ausgebildeter Feinmotorik nicht fähig sind, einen Stift richtig zu halten. Da müssen sie dann zu Beginn der Schulzeit eine versäumte frühkindliche Entwicklung mühsam nachholen, bevor sie damit beginnen können, das Schreiben zu lernen.

EK | Die Waldorf-Kindergartenbewegung startete mit namhaften Vertretern aus der Medizin und Pädagogik die Kampagne »Digital-Kita? – Nein!« Die Petition drang ins öffentliche Bewusstsein, man hat bis heute knapp 70.000 Unterschriften sammeln können. Dann kam im November letzten Jahres eine Tagung in Brüssel zum Thema »Auf dem Weg zu einem gesunden digitalen Ökosystem«, bei der auch die Direktorin der Europäischen Kommission für Bildung und Kultur vertreten war. Werden diese Aktivitäten die öffentliche Diskussion beeinflussen?

EH | Ich glaube, dass die öffentliche Diskussion ambivalent ist. Wir haben sozusagen eine offizielle, die durch das Marketing der großen IT-Unternehmen beherrscht wird, aber unterschwellig, im persönlichen Gespräch, bringt eine solche Initiative sicher eine ganze Menge.

Es ist ja 2018 durch die Europäische Allianz von Initiativen Angewandter Anthroposophie (ELIANT) noch eine weitere Petition auf den Weg gebracht worden: »Für ein Recht auf bildschirmfreie Kitas, Kindergärten und Grundschulen«. Inzwischen ist die Petition in alle europäische Sprachen übersetzt worden und wir hoffen, dass wir innerhalb eines Jahres eine Million Stimmen zusammenbekommen. Diese Petition wird auch vom »Bündnis für humane Bildung« mitgetragen.

Dieses Bündnis ist im öffentlichen Raum bereits sehr markant aufgetreten, zum Beispiel durch Ralf Lankau, Professor an der Hochschule in Offenburg, der mit dem Buch: »Kein Mensch lernt digital« einen Akzent gesetzt hat. Lankau benennt die wirtschaftlichen Interessen. Seine Stimme wird auch auf politischer Ebene wahrgenommen.

Dazu gehört auch das Buch »Die Lüge der digitalen Bildung« von Ingo Leipner und Gerald Lembke. Das ist schon etwas Besonderes für diese beiden Autoren, wenn sie im Bundestag beschimpft werden: Die Leute, die von der »Lüge der digitalen Bildung« sprechen, die dürfen wir nicht ernst nehmen, die dürfen wir nicht anhören … – Und es wird doch gehört! – nämlich von den vielen Pädagogen und Eltern, die mit den Problemen in den Kindergärten und Schulen vor Ort zu tun haben und einfach die Lebensrealität kennen. Auch der durch seine streitbaren und klar verständlichen Schriften bekannte Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer ist Mitglied im Bündnis.

EK | Das heißt, Lobbyisten haben ihre Finger im Spiel, und es geht um ganz viel Geld.

EH | Ja, und dagegen wenden sich auch die öffentlichen Aktionen. Aber das ist für mich nur ein Aspekt der gegenwärtigen Fragen.

Wir bewegen uns derzeit in eine Kultur, die von künstlicher Intelligenz beherrscht sein wird, in der Maschinen »denken«, mit uns »sprechen«, in der die bezahlten Jobs zum großen Teil wegfallen werden, weil die Maschinen für uns »arbeiten«. Rudolf Steiner sprach schon vor hundert Jahren davon, dass 90 Prozent der Arbeit durch Maschinen übernommen werden wird. So weit sind die gegenwärtigen Wirtschaftsprognosen noch nicht, aber immerhin spricht man davon, dass mindestens die Hälfte der Arbeitsplätze in den nächsten zwanzig Jahren wegfallen wird.

Wir gehen auf eine große Umwälzung unserer Kultur zu. Die Kinder, die heute in die Schule kommen, treten in 20 Jahren ins Berufsleben – aber es wird kaum bezahlte Arbeitsplätze geben, weil intelligente Maschinen das meiste autonom erledigen können. Was machen diese jungen Menschen dann? Wir müssen heute schon fragen: Wie bilden wir Kinder für eine Kultur aus, in der Eigeninitiative eine entscheidende Fähigkeit sein wird? Wo man sich seinen Arbeitsplatz sozusagen selbst zu schaffen hat. Das heißt, wir müssen in der Pädagogik neu denken – nicht alles neu machen, aber manches intensiver als früher und anderes weniger. Da ist das gefordert, was ich als indirekte Medienpädagogik bezeichne: Die Kinder so allseitig zu befähigen, dass sie den weiteren Umbrüchen einer noch digitaler werdenden Gesellschaft gewachsen sein werden.

Dazu gehört auch, dass sie, nachdem sie analoge Techniken beherrschen, ab der sechsten Klasse auch die digitalen Techniken kennenlernen. Wir müssen den Kindern zeigen, wie man sich im Internet sinnvoll verhält, wie man IT-Technologie sinnvoll anwendet. Jugendliche gehen virtuos mit ihrem Smartphone um, wir müssen ihnen aber zeigen, wie man darüber hinaus genauso virtuos die vielfältigen Möglichkeiten eines Textverarbeitungsprogramms nutzt. Das Smartphone erklärt nicht von sich aus, wie es funktioniert, deshalb hat die Schule diese Aufgabe. Wenn die Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen, ist es wichtig, dass sie wissen, wie das Internet aufgebaut ist, wie Mobilfunk funktioniert, wie eine Suchmaschine konstruiert ist.

Zudem sollten sie eine Programmiersprache kennengelernt haben, erlebt haben, wie ein Film entsteht, wie ein Radio-Feature produziert wird, wie man Informationstechnologien zur Präsentation und zur eigenen Weiterbildung einsetzt. Das ist das ganze Feld der direkten Medienpädagogik.

EK | Sie haben den von Tessin-Lehrstuhl für Medienpädagogik an der Freien Hochschule in Stuttgart inne, finanziert von der Dr. Ingeborg von Tessin und Marion von Tessin Stiftung.

EH | Ja, im Frühjahr 2017 fanden Gespräche mit Vertretern der Stiftung statt. Unsere Ideen haben die Stiftungsverantwortlichen so überzeugt, dass sie für fünf Jahre eine Anschubfinanzierung für unsere Vorhaben gewähren.

EK | Befinden Sie sich noch in der Konzeptionsphase oder gibt es schon so eine Art Curriculum? An wen richtet sich dieses Programm?

EH | Das sind natürlich zuerst unsere Studierenden an der Freien Hochschule, für die wir im Rahmen der grundständigen und postgradualen Klassenlehrerausbildungen medienpädagogische Module eingerichtet haben. Darüber hinaus bieten wir seit 2018 – und das ist ein Novum im Rahmen der grundständigen Waldorflehrerausbildung – das Nebenfach Medienpädagogik an. Neben Englisch, Sport, Musik, Kunst und Handarbeit kann man jetzt an der Freien Hochschule Stuttgart Medienpädagogik als Nebenfach studieren.

Die Ausbildung ist so gedacht, dass die Absolventen anschließend fähig sind, an den Schulen in der Mittel- und Oberstufe den medienpädagogischen Bereich aufzubauen oder zu erweitern. Dieser Vollzeitkurs ist partiell auch für tätige Lehrer geöffnet, die einzelne Blöcke als Weiterbildung besuchen möchten. Die genauen Daten stehen auf der Homepage der Freien Hochschule.

Darüber hinaus haben wir im letzten Jahr damit begonnen, für aktive Pädagogen eine auf sie abgestimmte intensive medienpädagogische Fortbildung anzubieten.

EK | Wie läuft das konkret ab?

EH | Diese Fortbildung erstreckt sich über zwei große Module, die jeweils sieben Wochenenden umfassen. Im ersten Modul werden Grundlagen vermittelt. Das beginnt mit der Erklärung, wie das Internet und Suchmaschinen funktionieren, wie man dies mit Klassen besprechen kann und geht mit der Besprechung medienwissenschaftlicher Erkenntnisse weiter. Ein Jurist referiert zum Thema Rechtsverhältnisse im Internet. Ein ganzes Wochenende ist dem Thema Mobbing gewidmet. Das erste Modul vermittelt also Basiswissen, das man für Gespräche mit Schülern und Eltern braucht. Das zweite Modul vermittelt medienpraktische Kenntnisse, also wie man mit Jugendlichen einen Film dreht, ein Radio-Feature produziert, einen Beitrag bei Wikipedia verfasst.

Für die Teilnehmer, die sich auf die Beratungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Eltern spezialisieren wollen, bieten wir parallel dazu ein drittes Modul an, das zum pädagogisch-therapeutischen Medienberater fortbildet. Diese Fortbildung machen wir in Zusammenarbeit mit dem Lehrerseminar in Berlin.

EK | Wie viele Teilnehmer hat diese Fortbildung?

EH | Zur Zeit sind es etwa 15 Teilnehmer, sehr engagierte Menschen, sie kommen aus ganz Deutschland und der nächste Ausbildungsgang hat inzwischen auch begonnen.

EK | Paula Bleckmann an der Alanus-Hochschule verfolgt ja Ähnliches. Gibt es eine Kooperation? Dann gibt es ja auch Kontakte nach Dornach zur Pädagogischen Sektion. Wie sieht das Netzwerk aus?

EH | Wir sind gerade dabei, dieses Netzwerk auszubauen. Paula Bleckmann und ich waren ja früher auch im »Arbeitskreis Medien« beim Bund der Freien Waldorfschulen. Franz Glaw war mit dabei, ebenso Katinka Penert aus der Schweiz. Im November 2018 hatten wir in Dornach zu einem Treffen mit weiteren Persönlichkeiten eingeladen, um die Frage zu klären, wie wir uns besser vernetzen können.

EK | Laufen die Kontakte ausschließlich über die Hochschule Stuttgart?

EH | Nein. Die Hochschule Stuttgart ist natürlich ein sehr wichtiger Knoten des Netzes, da wir den Schwerpunkt auf Unterrichtspraxis legen. Das ist auch die Voraussetzung für die Förderung durch die Dr. Ingeborg von Tessin und Marion von Tessin-Stiftung, dass unmittelbar etwas für die Schulen gemacht wird. Deshalb sind jetzt aus unserer Arbeitsgruppe zwei Mitarbeiter damit beschäftigt, konkrete Projekte, die mit Schülern an verschiedenen Schulen bereits gemacht werden, zu dokumentieren und so zu beschreiben, dass sie einerseits für andere Lehrer eine konkrete Hilfe für ihren Unterricht sind und andererseits für die Schulen Anregungen bieten, was sie noch in ihr Unterrichtsangebot aufnehmen können. Das betrifft vor allem den Bereich Informatik sowie die Bereiche Hörfunk und Film. Wir streben an, dass wir in einem Jahr an die Redaktion von zwei größeren Veröffentlichungen gehen können, deren Inhalte wir auch online zur Verfügung stellen werden.

EK | Sie wollen also vor allem den Informatikunterricht an den Schulen erweitern und medienpädagogische Projekte in der Oberstufe einführen?

EH | Das ist richtig, aber es geht uns auch darum, die Schulen darauf aufmerksam zu machen, dass es sich nicht einfach nur um zusätzlichen Unterricht handelt, den man nun auch noch zu geben hätte. Die Digitalisierung des Lebens fordert die Waldorfpädagogik als Ganzes heraus. Die Medienpädagogik muss aus dem Leben der Schule herauswachsen. Die direkte Medienpädagogik muss in eine gute indirekte Medienpädagogik eingebettet sein. Dafür müssen wir von den spirituellen Grundlagen der Waldorfpädagogik her den Schulalltag bewusst gestalten. Dazu wollen wir einen Impuls setzen.