Die erste Erstklasslehrerin Leonie von Mirbach

Tomás Zdrazil

Offensichtlich hatte Steiner die für alle Anwesenden existenziell bedeutende Frage der Besetzung der »Klassenlehrer-Posten« – außer mit Hahn und Stockmeyer – mit niemandem vor- oder abgesprochen. Selbst Emil Molt kalkulierte rasch und verlegen, wie schnell das Budget bei zwölf Lehrergehältern ausgeschöpft sein würde.

Die Aufgabe, die ersten Waldorf-Erstklässler zu unterrichten, fiel der jungen Leonie von Mirbach zu. Als Kind hatte sie ein bewegtes Schicksal. Ihr Vater Ernst entstammte einem rheinischen Adelsgeschlecht, ihre Mutter Lida war Lettin und kam aus ärmlichen Verhältnissen. Eine Ehe dieser Art entsprach nicht den Vorstellungen der damaligen Zeit. Deswegen siedelten sie nach Ägypten um, wo er als Kaufmann tätig wurde. Dort kamen Leonie und ihre drei Schwestern zur Welt. Ihr Vater verlor jedoch sein gesamtes Vermögen und starb an Typhus, als sie zwei Jahre alt war. Die Familie zog daraufhin nach Lettland um, wo sie acht Jahre in Armut verbrachte. Ab 1901 wurde Leonie von der Großmutter und der Tante von Mirbach angenommen, genoss in Tübingen eine gute Schulbildung und legte das Abitur ab, war aber immer kränklich. Bereits in der Tübinger Zeit gab es Kontakte der Familie mit der Anthroposophie. In Halle studierte Leonie die ungewöhn­-liche Fächerkombination Biologie und Philosophie, und setzte sich auch für die soziale Dreigliederung ein.

Sie bewarb sich um eine Stelle in der zu gründenden Waldorfschule in Stuttgart und wurde zum Vorbereitungskurs eingeladen. Steiner musste in Kauf nehmen, dass von Mirbach noch ihre Abschlussprüfungen ablegen musste. Die Vertretung übernahm Walter Johannes Stein, der als erster Waldorflehrer »die Grade« und »die Krumme« einführte. Auf Stein geht auch die Anregung zurück, nachdem am ersten Schultag die Gerade (I) und die Krumme (C) durchgenommen wurden, am nächsten Tag ein H folgen zu lassen: »ICH« als erstes Wort. Dann übernahm von Mirbach »ihre« 34 Erstklässler, deren Anzahl bis zum Ende des ersten Schuljahres auf 41 und am Anfang des zweiten Schuljahres sogar auf 53 Kinder anwuchs.

Die Konferenzgespräche zeugen von einer großen Zufriedenheit Steiners mit der Arbeit von Mirbachs. Ihre Gedicht- und Geschichtensammlung, die er als »eine Probe des Geistes, der in der Waldorfschule waltet« bezeichnete, wurde zur Grundlage des Lesebuchs Der Sonne Licht. Sowohl in der Sammlung wie auch in den Zeugnissprüchen, die sie für ihre Erstklässler verfasste, zeigte sich ihre Begabung auf sprachlichem Gebiet. So waren die Zeugnissprüche auch von ihr selbst verfasst.

Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich nach zwei Jahren Unterrichtstätigkeit derart, dass sie trotz der Unterstützung von Helene Grunelius, die ihr in der zweiten Klasse assistierte, die Klassenführung an Herbert Hahn abgeben musste. Obwohl sie nie wieder in Stuttgart als Waldorflehrerin gearbeitet hat, pflegte sie Kontakte zu Waldorfschulen und erreichte ein hohes Alter von 83 Jahren.