Die »Flüchtlingskrise« und die drei Könige

Wilbert Lambrechts

Beunruhigt ist vor allem die europäische Seite. Die Antwort von Europa auf diese immer intensiver werdende historische Begegnung von Islam und Europa kann nicht ausschließlich im Beschwören unserer europäischen »Werte und Normen« bestehen. Auch wenn diese schöne Namen haben wie Meinungsfreiheit, Gleichheit von Mann und Frau oder Religionsfreiheit. Schöne Ideen allein befriedigen und befrieden nicht. Sie werden keinen inneren und äußeren Frieden hervorbringen.

Die Beschränkung auf solche Werte führt zu einer vollkommen legalistischen Haltung, einer Mischung aus Erzwingen von Gesetzen – mit denen wir oft ein biss­chen scheinheilig umgehen – und Gleichgültigkeit, so dringlich gute Gesetze auch sein mögen. Wenn sie aber das einzige sind, was wir zu bieten haben, bedeuten sie nichts weniger als Backsteine. Können sie auf die Dauer – psychologisch und soziologisch betrachtet – mit etwas anderem als mit Terror beantwortet werden, wenn keine zusätzliche Brücke des Verständnisses gebaut wird? Auch die europäische Religion, das Christentum, bietet keinen Halt mehr. Gerade in Europa scheint sie, dem geliebten Papst zum Trotz, in ihren letzten Atemzügen zu liegen. – Wenigs­tens sieht es in Belgien so aus, dem Land im »Herzen Europas«, in dem ich lebe.

Warum Mitteleuropa?

Muslime aus dem mittleren Osten und Nordafrika fühlen sich aber vermutlich auch aus tieferen Gründen von Europa angezogen. Und vielleicht sogar besonders von Mitteleuropa. Warum?

Etwas muss es geben, das wirklich attraktiv ist für sie, auch geistig attraktiv. Äußer­lich gesehen suchen sie Arbeit, Einkommen, Wohnung, Frieden, ein besseres Leben, aber hinter dieser Suche liegt zweifelsohne auch eine tiefere Schicksalsfrage. Wer seid ihr? Auch die drei Könige suchten doch etwas. Der Osten will dem Westen begegnen. Wer sind wir und was kennzeichnet uns? Diese Frage kann auch nützlich für uns selber sein. Im Spiegel des Islam können wir uns selbst wiederent­-decken. Gutes Denken bringt uns selbst wieder in Bewegung. Glauben ist in Europa vorbei – oder darf es nur noch privat geben. Denken aber nicht. »Wer nicht denkt, fliegt raus«, sagte Joseph Beuys. Das Christentum als Religion ist vielleicht vorbei, das christliche oder menschliche Denken, das gut und wahrhaftig sein möchte für den Menschen und Mitmenschen, ganz und gar nicht. Es ist heute lebenswichtig. Ob Gott den Menschen geschaffen hat oder der Mensch Gott geschaffen hat,

können wir ruhig für den Moment dahingestellt sein lassen. Der europäische Gott ist oder war ein dreieiniger Gott. Warum? Weil der Mensch selbst ein dreieiniges Wesen ist. Der Mensch ist Kopf (Geist, Denken), Herz (Seele, Fühlen) und Hand (Leib, Wollen). Haben wir ihn also (auch?) nach unserem Bild und Gleichnis geschaffen? Das Christentum sah Gott trinitarisch, weil dieses Bild auf der Natur des Menschen beruht, also auf einer menschlichen Wahrheit, ganz unabhängig von der Frage, ob es einen Gott gibt oder nicht.

Und welche Gesellschaft wollen wir? Wohl diejenige die menschlich ist. Die sich am Bild und am Gleichnis des Menschen orientiert. Die dreieinige Gesellschaft. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Antwort auf die Frage nach den Wurzeln Europas könnte vielleicht, jenseits von Gemeinplätzen, im trinitarischen oder triadischen Denken liegen. Das ist nicht das Gleiche wie der Dreifaltigkeitsglaube des Christentums, auch wenn es mit ihm verwandt ist. Das trinitarische Denken ist auch nicht ausschließlich christlich und europäisch. Es entzieht sich dem, was im Koran als »Trinitätsglaube« verworfen wird und kann auch in der muslimischen Tradition wiedergefunden werden. Es ist kein Glaube, es ist eine Form des Denkens. Dieses Denken fokussiert die ganze Wirklichkeit, nicht nur die religiöse und ist im Prinzip jedem zugänglich. Sowohl dem Gläubigen, als auch dem Atheisten, sowohl dem Christen, als auch dem Juden und dem Muslim. Es ist zugänglich, insofern wir uns zum Denken entschließen. Nur aus diesem Denken heraus sind die sogenannten Werte und Normen Europas wirklich zu verstehen. An erster Stelle die sogenannte (dreieine) Gewaltenteilung (Montesquieu). Ohne das triadische Denken kann diese Teilung nur als willkürliches Dogma aufgefasst werden.

Diese Gewaltenteilung kann aber aus dem Denken heraus noch weiter entwickelt werden. Eine Gesellschaft braucht Wirtschaft (zur Befriedigung der Bedürfnisse), Recht (um Konflikte zu verhindern oder zu lösen), Kultur (zur Entfaltung aller

Talente). Welche Formen wollen wir entwickeln, um diese drei verschiedenen, ebenso wichtigen wie heiligen Bereiche der einen Gesellschaft aufblühen zu lassen? Selbstverständlich mit Respekt vor der eigenen Logik jedes Bereichs!

Auch das ist Dreieinheit – im Gestalten der Gesellschaft.

Triadisches Denken stiftet Zusammenhang

Mit Gott können wir die Muslime nicht erreichen (den glauben sie besser zu kennen als wir), auch nicht mit Christus (obwohl Jesus oft im Koran vorkommt) oder der »Heiligen Dreifaltigkeit« (nach muslimischer Auffassung Götzen). Gilt das Gleiche für ein auf Wahrnehmung und Denken gegründetes, dreigegliedertes oder triadisches Denken?

Dieses Denken sucht Polaritäten, um Begriffe klar zu unterscheiden und sie dann in der Mitte zu steigern, so wie Goethe das gemacht hat: Polarität und Steigerung. Dieses Denken betrachtet die menschliche Form als ein Zusammenwirken von Kopf (Sinne, Gehirn) und Gliedmaßen (Stoffwechsel, Muskulatur, Fortpflanzung). Der Kopf ist Stützpunkt des Denkens, die Gliedmaßen Werkzeuge für das Arbeiten und Wollen. Die atmende Brust, das klopfende Herz, bilden zusammen eine Wiege des ausgleichenden Fühlens in der Mitte. Die Mitte scheidet die Pole – und verbindet sie zu einer höheren Einheit.

Diese Dreiheit kann eine gesunde Grundlage für die Erziehung und eine human orientierte Bildung abgeben, auf die jedes Kind ein Recht hat. Eine Bildung, die Kopf, Herz und Gliedmaßen gleichermaßen berücksichtigt, unabhängig von jeder Konfession (während sie selber re-ligio ist, also das Getrennte wiederverbindet). Sie ermöglicht eine Schule, die körperliche, seelische und geistige Fähigkeiten durch die Ausbildung von Denken, Fühlen und Wollen anstrebt. Bewusstsein für das Reale und Mögliche, auf guten Gründen beruhende intuitive Sicherheit, Inspiration für das Handeln. Man sieht, wir braven Europäer können selbst noch viel vom triadischen Denken lernen. Es liegen auch in uns noch viele Möglichkeiten. Sieht es nicht aus, als ob wir der Begegnung mit den Menschen des Ostens und Südens besser gewachsen wären, wenn wir die drei Schichten unseres einen Wesens wirklich kennenlernen und endlich ernst nehmen würden?

Triadisches Denken ist kein Ersatz für analytisches Denken. Im Gegenteil, jede Information, jede Tatsache ist im Lichte dieses Denkens nur um so wertvoller. Nichts darf unberücksichtigt bleiben. Aber Information und Tatsachen alleine führen ins Uferlose und in den Nihilismus, der nichts mehr unternimmt. Greifbar und damit begreifbar werden Tatsachen erst, wenn sie im Zusammenhang sich gegenseitig befruchtender Polaritäten betrachtet werden können. Dann werden sie lebendig und sind zugänglich für Verständnis und Miterleben. Auf diese Weise erhalten sie einen Rahmen, der fruchtbares Handeln ermöglicht. Polaritäten sind keine Dualität wie zum Beispiel Gut und Böse, Licht und Finsternis, Theorie und Praxis.

Polaritäten schaffen ein Spannungsfeld zwischen Extremen, die eine fruchtbare Vermittlung benötigen, eine bewusste Mitte als künstlerisch-wissenschaftliche Schöpfung. So entsteht allmählich ein lebendiges, atmendes, drittes Element. Polaritäten rufen nach einem dritten Faktor, oder besser, einem Aktor oder auctor. Ihn zu suchen, ist eine Form des schöpferischen Denkens und eine Form der Ich-Werdung.

Wenn wir diese Suche unterlassen, werden die Gegensätze so stark, dass sie uns zerreiben und die Chance des vernünftigen Handelns zerstören. In gewalttätigen Konstellationen herrschen immer exklusive Dualitäten.

Diese Konstellation könnte zwischen Europa und dem Islam entstehen, wenn wir das triadische Denken, das in Europa verwurzelt und aus einem religiösen Boden hervorgewachsen, diesem aber schon seit einigen Jahrhunderten entwachsen ist, wiederentdecken.

Zum Autor: Wilbert Lambrechts ist Literaturwissenschaftler, Waldorflehrer, Sprachgestalter und unterrichtete Deutsch, Niederländisch, Literatur und Theater an der Waldorfschule Hibernia in Antwerpen.

Literatur: M. et H. Dassa: Corps – Âme – Esprit par une Musulmane et un Musulman, Grenoble 2004