Die Geburt der Lüge

Marica Bodrožić

In diesem Jahr, in dem der mentale Vulkanismus eines ganzen Kontinents die Herrschenden endgültig zu verunsichern begann, beschloss mein Vater mit uns Kindern gleich nach Neujahr in die Stadt zu fahren und Reisepässe für unsere Ausreise zu beantragen. Im sozialistischen Jugoslawien war das keine große Sache, wir durften ausreisen und mussten lediglich einen bürokratischen Akt über uns ergehen lassen. An diese dennoch wohl mühsamen Umstände erinnere ich mich heute nur noch vage, aber etwas anderes blieb in mich umso genauer und bis zum heutigen Tag eingeschrieben. Es ist das Jahr, in dem ich zum ersten Mal gelogen habe. Ich wiederholte eine Lüge meines Vaters und gab sie somit als meine eigene Sache aus. Noch immer beschäftigt es mich, dieses erste bewusste Abrücken von der eigenen inneren Wahrheit. Ohne rot zu werden und ohne auch nur die Andeutung irgendeiner Scheu, sagte ich meinem Großvater, bei dem ich bis zu diesem Augenblick gelebt hatte, dass wir in diesem Januar zum Zahnarzt gehen müssen und zwar fortwährend. Ich sehe mich noch immer dort vor ihm stehen. Ich sage das einfach so dahin, wiederhole, was Vater gesagt hat. Ich wusste das zwar damals noch nicht, aber ich habe mich in diesem Augenblick selbst verloren. In der Folge kehrt eine Ruppigkeit in meine Stimme ein, die bisher, das spüre ich sofort, nicht da war. Ich höre genau den Widerstand, den sie im lauten Sagen überwinden muss, um das Unwahre aussprechbar zu machen. Ich schlucke. Aber lasse die Lüge walten. Das geht nur mit dieser brüsken Schnelligkeit. Großvater scheint es zu spüren, er ist etwas überrascht, nimmt es aber hin, was ich ihm so an Sätzen hinwerfe. Es tut weh, daran erinnere ich mich auch, dass er keine Fragen stellt. Die Lüge und der Schmerz schreiben sich zeitgleich in mich ein, sie sind von nun an eine erkennbare Einheit für mich. Sie brennen von innen. Großvater wendet sich ab. Ich erhalte keine Gelegenheit, mich zu korrigieren. Wir sind nicht mehr eine Einheit in Herzensdingen. Die Lüge ist nun in der Welt und wird Welt. Ich bin jetzt allein. Großvater atmet einen anderen Atem. Anders als ich bleibt sich meine Stimme aber treu, sie lügt nicht, vielleicht weil der Mensch an sich nicht mit der Stimme lügen kann. Die Stimme ist, das beginne ich damals zu ahnen, ohne es je in der Kindheit in Sprache zu fassen, ein Organ der Wahrheit. Die Ruppigkeit, die mich beim Sprechen leitet, sagt mir, dass sie verstanden hat, wozu ich sie gezwungen habe. Denn wir gehen gar nicht zum Zahnarzt, sondern zum Amt, um unsere ersten Pässe für die Ausreise zu beantragen und mit ihnen für immer nach Hessen umzuziehen, auf dem Weg zu einer anderen ethnographischen Rarität als derjenigen, die einst der für mich so wichtige Schriftsteller Danilo Kiš für sich in Anspruch nahm. Da aber weiß ich noch lange nicht, dass auch ich, genauso wie er, jüdische Vorfahren habe, die in uns allen mitgehen und weggehen und von Großvater fortgehen, so, wie es die iberischen Vorfahren tun, die herzegowinischen und die dalmatinischen, denn sie alle gehen in uns mit und sprechen zu uns. Und doch wird auch aus mir nur in kürzester Zeit eine wortlos gemachte, der Sprache beraubte kleine ethnographische Rarität, die ihr neues Leben in einem neuen Land mit einer weitreichenden Lüge beginnt und sich in Sekundenschnelle grundlos der väterlichen Autorität fügt. Nie werde ich das trauernde Gesicht meines Großvaters vergessen, nie den Augenblick in mir auslöschen können, in dem mir klar wurde, dass die Lüge unnötig war, so wie jede Lüge unnötig ist und ich mit ihr die zwischen uns stets so sanft flimmernde Wärmelinie der Nähe und des Vertrauens verraten hatte. Ich bin zehn Jahre alt und alles ist für immer anders geworden. Ein neues Leben beginnt also für mich im kalten Januar des Jahres 1983 mit dieser weitreichenden Lüge. Für mich legt sie den Grundstein für alle in der Zukunft meiner Wahrheit harrenden Augenblicke. Und sie ist die Einkehr der Lüge in mein Denken. Die ersten Lügen im Leben eines Menschen sind ein Einfallstor für alle späteren Verführungen, diese schnell sich ins Spiel bringende Möglichkeit, sich akribisch vor der Wahrheit zu drücken und sich in der Lüge zu verstecken. Vor der Wahrheit im Kleinen, vor den ungeschützten Momenten, in denen es mir viel leichter erscheint, Unterschlupf in der Lüge als eine Verankerung in der Wahrheit zu finden. Die Geburt der Lüge, diese Verführung zur scheinbaren Leichtigkeit, ging sehr schnell. Ich erinnere mich aber an ein kleines Zögern. Dieser winzige Augenblick macht den Menschen zum Menschen. Der Wahrheitsfunke war da und hatte also sehr deutlich gesprochen. Es gab diesen inneren Moment, der sich mir als Frage zeigte. Aber warum sagen wir Großvater nicht einfach die Wahrheit? Früher oder später müssen wir es doch ohnehin offenlegen, dass wir alle das Land und ihn, diese Küche, diesen Hof, diesen Feigenbaum verlassen werden. Aber mein Vater hatte diesen anderen Plan. Die Leichtigkeit, mit der wir später wochenlang logen, begriff ich Jahre danach, war eine zusätzliche Last, die fortan immer in mir mitging. So leicht also hatte die Lüge ihr schweres Gewicht in mir ablegen können. Es sollten ganze drei Jahrzehnte vergehen, bis ich in der Lage war, zu begreifen, was diese verführerische Leichtigkeit aus mir gemacht hatte, die meinem Großvater einen Schmerz auf Raten vermeiden lassen sollte, ihm aber im Moment des tatsächlichen Abschieds eine vergiftete Lanze ins Herz stach – sie zog eine Wunde nach sich, an der er zeitlebens litt und die mich in ihrem dunklen Wirkungsbereich wie in eine schäbige, gefahrenvolle nachtschwarze Gasse zog, der ich nicht so schnell entkommen konnte, wenn es wiederum darum ging, meinen oder den Schmerz eines anderen Menschen zu fühlen und beim Erlebten zu bleiben. 

In der Gasse gab es kein Licht und es gab keine Aussicht auf eine andere Straße, keinen anderen Weg, der aus ihr herausführte, es gab nur diese Gasse, nur das dunkle Terrain ihrer belastenden Verfänglichkeit. Ich konnte ihr nicht mehr entkommen, denn ich hatte vergessen, dass ich eine Wahl hatte. Und: ich packte schnell die Koffer, nur kurz ließ ich den Abschied zu, bloß eigentlich nur als Wort, nie als Gefühl, ging fort von dem gerade noch nahen Menschen, aber ohne mich innerlich umzudrehen. Und selbst wenn ich zurücksah, gelang es mir, das Messer im Herzen soweit zu drehen, dass ein schnelles Fortgehen immer noch möglich und besser für mich war als das Bleiben. Drei Jahrzehnte später also begriff ich, dass die Lüge einen Menschen aus mir gemacht hatte, an dem ich selbst am meisten litt. Ein ängstliches Wesen war an die Stelle jenes sorglosen und leichtfüßig-vagabundisch fröhlichen Kindes in mich eingezogen, wie ein Fremdkörper, der alles daransetzte, mich im Vergessen leben zu lassen. Liebend war ich vorher, mit Worten, mit Augen, mit Händen, offen und mit den Wundern des wärmenden Südens befreundet und verbündet, auch mit der Weite der Landschaft, in der ich aufwuchs, elternlos, aber verwandt mit jedem Menschen, mit jedem Grashalm, mit den wachen Augen der Tiere, mit den großen wissenden Köpfen der Pferde und der Klarheit und Sauberkeit der eifrigen, so hingebungsvoll gottesfürchtigen Kirchenhelferinnen.

Über die ersten Lügen und die Maßstäbe, die sie fortan an mich anlegten, habe ich weder mit meinem Vater noch mit irgendeinem anderen Menschen gesprochen. Es ist ein großes Glück, dass ich aber den Verlust der Unschuld als einen eisigen Einschnitt und als schmerzliches Unglück erlebt und den Januar 1983 auch aus diesem Grunde nie vergessen habe. So blieb am Ende die Sprache des Funkens, der ersten Eingebung und das Bedürfnis nach Wahrheit immer in mir bestehen. Der Funke wollte einfach nicht sterben. Doch der Weg zurück zur Unschuld ist lang und beschwerlich. Das seelische Gebirge, das zu überwinden man nicht vermeiden kann, gewinnt mit den Jahren an Höhe. Es bedarf einer neuen und zweiten Geburt, um wieder von ihr aufgenommen zu werden. Sterben lernen, in diesem Sinne, ist ein Kapitel für sich. Eine neue Sprache, ein neues Land haben das vielleicht bei mir möglich gemacht. Es war ein notwendiger Tod. Er hatte viele Facetten und Etappen. Aber am Ende ist es das Land des Gewissens, das uns erzieht und auf den helleren Weg bringt. Von dort werde ich immer angefunkt. Meine kleine Radiostation der Seele lässt nicht an Lautstärke nach. Sie mutet mir viel zu. Gibt es beim Lügen denn Ausnahmen?, lässt sie mich fragen. Ja. Es gibt eine Form der frommen Lüge, die einem anderen Menschen hilfreich ist oder ihn rettet, wenn es die gegebenen Umstände verlangen. Alle anderen Lügenarten sind Gewichten unterworfen, deren Schwere wir erst erkennen, wenn die Wege, die wir gehen, keinerlei Geburtsurkunde mehr kennen, uns also vom Anfang, der wir sind, abgeschnitten haben. Nur ein Zusammenbruch kann dann neue Wege möglich machen. Das Unvollkommene, Kleine wird wieder greifbar, wir staunen es an – wie die verletzten winzigen Flügel eines Insekts oder das Innenleben einer Blume: Blütenstaub, unversehens. Nur so kann man wieder Anfänger seiner selbst werden – in den Versprenkelungen der eigenen Unvollkommenheit, in der Ungerichtetheit unserer Handlungen. In einem Atem, der kein Ziel, kein Interesse hat, sondern schon das Ziel ist, ein Leben aus Freiwilligkeit. Offen. Ergebnislos. Von allen Seiten der frischen Luft der Wahrheit ausgesetzt.

Zur Autorin: Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die sich immer in einem Resonanzraum zwischen Ethik und Ästhetik bewegen. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis der Konrad Adenauer-Stiftung und den Ricarda Huch-Preis. Marica Bodrožić lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. In diesem Jahr erschien von ihr »Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe«.