Die Kleinsten im Kindergarten: Spielball der Politik?

Von Wolfgang Saßmannshausen, Juli 2012

Rebekka ist zweieinhalb Jahre alt. Seit kurzem gibt es jeden Morgen beim Frühstück denselben Kampf: sie will ihr Brot nicht essen. Natürlich will sie es essen, denn sie hat Hunger. Aber das Ritual des Kampfes gehört momentan einfach dazu.

Überfordert von der Politik: die Kleinsten. Foto: Charlotte Fischer

Im Grunde darf ich mich als Vater glücklich schätzen, diesen Kampf immer wieder ausfechten zu dürfen. Drückt er doch aus: »Dir gegenüber habe ich Vertrauen. Im Verhältnis zu Dir lasse ich mich auf neues Terrain ein; bei Dir fühle ich mich sicher.« Wie viele Eltern kennen den klassischen Schwiegermutter-Satz: »Bei mir tut er das aber nicht«. Ja, bei ihr tut er es nicht, aber bei Mama, die Garantin für Sicherheit, Verlässlichkeit und Zugewandtheit ist. In dieser durch und durch vertrauten Beziehung kann das kleine Kind sich erleben und im Trotz sein Selbst-Bewusstsein aufbauen. Das Instrument, das hilft, den Kampf zu bestehen, ist Humor. Das Kind will nicht erleben, dass der Erwachsene seiner »Forderung« nachgibt, es will aber auch nicht, dass er seine Forderung bricht. Ein spielerischer Umgang mit der kindlichen Provokation ist die passende Antwort. Nun sind die entwicklungspsychologischen und pädagogischen Gedanken zur ersten Trotzphase der Kinder nicht neu. Auch ist die Beobachtung und Erkenntnis überhaupt nicht neu, dass das Kind in diesem Alter es liebt, in einer länger anhaltenden Kommunikation mit einer Person zu stehen, um dieses »Spiel« auszutragen.

Entwicklungspsychologisch sprechen wir von einer dualen Beziehungsmodalität des Kindes. Das heißt, dass das Kind (noch) nicht in der Lage ist, eine solche Beziehung aufzubauen, in der es sich mehr als einem Menschen gegenüber in einen Begegnungsprozess stellt. Immer ist der Bezug eine Person. Diese mag eventuell schnell durch eine andere abgelöst werden, aber es wird keine Gruppenbeziehung, es bleibt stets die Zweierbeziehung, in der das Kind lebt. Können beispielsweise fünfjährige Kinder zu dritt oder viert in ein gemeinsames Spiel eintauchen, muss das zweijährige Geschwisterchen, das in diesen Prozess mit eintreten will, zum Störfaktor werden, da es immer einen Menschen in Beschlag nehmen will.

Wenn auch einiges in der kindlichen Entwicklung sich verändert, beschleunigt, ist die Tatsache, dass das Kind in den ersten Lebensjahren in dieser dualen Beziehungsweise im Leben steht und in der Regel erst im vierten Lebensjahr fähig wird, Gruppenbeziehungen einzugehen, nach wie vor gültig und real. Eins hat sich jedoch merklich in den letzten Jahren verändert. Hinterfragt man, ob es denn wirklich im Sinne der Kinder sei, sie in Krippen zu schicken oder mit ihnen mit zwei Jahren in Spielgruppen zu gehen, aus denen sich langsam und immer mehr die Mütter oder Väter herauslösen, zeigen die Reaktionen der meisten Mütter und Spielgruppenleiterinnen oder Erzieherinnen, für wie »gestrig« sie schon eine solche Frage halten.

Die institutionelle Erziehung und Begleitung der Kleinsten gilt heute als Ausdruck moderner Achtung vor unseren Kindern, um ihnen alle Bildungschancen zu gewährleisten und sie nicht schon am Anfang zu benachteiligen. Natürlich gibt es pädagogisch, entwicklungspsychologisch, menschenkundlich, methodisch und didaktisch begründete und erforschte Ansätze, wie sich die Erwachsenen vorbereiten können und auch müssen, dass sie überhaupt in der Lage sind, mit den Kleinen vor der Kindergartenzeit angemessen umzugehen. Genannt seien hier die Impulse Emmi Piklers, die in ihrem Institut in Ungarn segensreich gewirkt hat. Aber auch die Waldorfkindergarten-Bewegung, in der eine besondere Qualifizierung der Erwachsenen Bedingung ist, dass die Arbeit mit den kleinen Kindern im Sinne der Waldorfpädagogik anerkannt wird.

Die kleinen Kinder sind überfordert

Einige Kolleginnen, die nach entsprechender Fortbildung für die Kleinkindarbeit im Sinne der Waldorfpädagogik qualifiziert und anerkannt sind und Erfahrungen in der Arbeit mit den Kindern unter drei Jahren gesammelt haben, äußern unmissverständlich, dass sie ihre eigenen und eventuell zukünftigen Kinder nicht in eine solche Betreuung geben, erleben sie letztlich doch täglich die Überforderung der Kinder. Diese Aussagen werden in der öffentlichen Diskussion zurückgehalten, sind aber im kleinen und geschützten Kollegenkreis zunehmend zu hören. Laut darf so etwas nicht geäußert werden, ist es doch kontraproduktiv dem Unternehmen Kindergarten gegenüber. Die Finanzierung eines Kindergartens, auch eines Waldorfkindergartens, durch die öffentliche Hand ist am höchsten bei Kindern unter drei Jahren. Außerdem ist es in vielen Regionen heute schwierig, Kinder für den Kindergarten zu rekrutieren, wenn diese drei oder vier Jahre alt sein sollen, da sehr viele Eltern sich schon im Krippenalter der Kinder an eine Einrichtung gebunden haben. So ist der Druck seitens der Vereinsvorstände (unternehmerisch) verständlich, darauf zu drängen, möglichst viele Kinder bereits unter drei Jahren in die Einrichtung aufzunehmen. Deckt sich dieser Tatbestand noch mit der Grundaussage Rudolf Steiners: »Was gelehrt und erzogen werden soll, das soll nur aus der Erkenntnis des werdenden Menschen und seiner individuellen Anlagen entnommen sein. Wahrhaftige Anthropologie soll die Grundlage der Erziehung … sein.«?

Die Krippenoffensive der Wirtschaftslobby

In seinem Aufsatz »Die dunkle Seite der Kindheit« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.4.2012 schreibt Rainer Böhm, Kinder- und Jugendarzt, Leiter des Sozial­pädiatrischen Zentrums Bielefeld-Bethel, über die immense Ausweitung der institutionellen Kleinkindbetreuung: »Die deutsche Krippenoffensive geht wesentlich auf die massive politische und publizistische Lobbyarbeit von Wirtschaftsverbänden zurück, die angesichts der demographischen Entwicklung versuchen, Arbeitskraftreserven auch unter jungen Eltern zu mobilisieren.« Der ökonomische Gewinn der Betreuungsbranche und der »Zuliefererbetriebe« wie z.B. Verlagsanstalten, die Teilhabe an der Ausschüttung öffentlicher Gelder haben, bestimmen den Weg der Meinungsbildung. 

Begriffe wie »Effizienz« und »Humankapital« – im Zusammenhang von Bildung und Erziehung recht neu – lassen die Herkunftsorte der neuen politischen und manchmal auch »wissenschaftlichen« Erkenntnisse deutlich werden. In dieser Prozedur wird wie selbstverständlich behauptet, dass die moderne Familie nur denkbar ist, wenn alle Elternteile beruflich einer Erwerbsarbeit nachgehen, zumal dies nahezu alle wollen.

Die werdende oder gerade gewordene junge Mutter erlebt sich als völlig »überholt«, wenn sie nicht auch so denkt und handelt. Kommt man hierüber mit jungen Eltern ins Gespräch, wird jedoch deutlich, dass viele eigentlich anders und zwar mit ihren kleinen Kindern in deren ersten Jahren über den Tag leben wollen, bevor sie diese in eine Institution schicken. Wenn demnächst – wie in so manchem anderen Land inzwischen üblicher Alltag – große Supermarktketten an sieben Tagen 24 Stunden geöffnet haben und es arbeitsmarktpolitisch sinnvoll ist, Kinder auch nachts institutionalisiert zu betreuen, werden Eltern dahingehend »informiert«, dass es für die Entwicklung der Kinder fortschrittlich ist, diese »nächtlichen« Erfahrungen machen zu »dürfen«. Jegliche Sozial- und Bildungspolitik entbehrt des Blickes auf die eigentliche Klientel, die Kinder!

Die Leidtragenden sind letztlich also immer die Kinder. Böhm verweist auf Langzeitstudien aus dem U.S.-amerikanischen Raum, die das Gefahrenpotenzial der frühkind­lichen institutionellen Betreuung deutlich machen.

Besonders nachdenklich stimmt ein Ergebnis dieser breit angelegten Studien: Die aufgelisteten Störungen im Aufbau sozioemotionaler Kompetenzen finden sich bei allen Kindern, die anstelle einer frühkindlichen Elternbetreuung eine institutionalisierte erfahren haben, unabhängig von der Qualität der institutionellen pädagogischen Arbeit.

So wurde ersichtlich, dass »das Erziehungsverhalten der Eltern einen deutlich stärkeren Einfluss auf die Entwicklung ausübt als die Betreuungseinrichtungen.« Böhm wird noch deutlicher: Die häufige Realität »chronische(r) Stressbelastung ist im Kindesalter die biologische Signatur der Misshandlung. Kleinkinder dauerhaftem Stress auszusetzen, ist unethisch, verstößt gegen Menschenrecht, macht akut und chronisch krank.«

Viele Eltern kleiner Kinder sind heute durch ihre Lebensumstände darauf angewiesen, für ihre Kinder eine entsprechende Kleinkindbetreuung zu haben. Selbstverständlich haben wir die Aufgabe, für diese Lebensrealität den Eltern institutionelle Partnerschaft zu bieten. Der Qualitätsanspruch muss bei dieser Aufgabe auf höchstem Level angesiedelt sein. Aber eine in der jüngeren Gegenwart vernachlässigte Aufgabe darf nicht vergessen werden, auch nicht in der Waldorf-Bewegung: Wollen wir in den wichtigen und manchmal auf tragische Weise nachhaltig wirkenden ersten Lebensjahren den Kindern helfen, sich in ihrem Leben, in ihrem Schicksal, in ihrem Leib zu beheimaten, müssen wir eine neue Offensive starten, die den Eltern gilt. Der »Norm-Eltern-Typus« früherer Zeiten weicht immer mehr dem »Wahl-Eltern-Typus«. Dies bedeutet, dass immer weniger Erziehungsverhalten traditionell von der Großelterngeneration auf die junge Elterngeneration übertragen wird. Das Bedürfnis nach subjektiv begründeter Freiheit – bewusst oder unbewusst – bestimmt das Erziehungsverhalten zunehmend. Als überdeutliches Beispiel möge eine alleinerziehende junge Mutter genannt sein, die sich intensiv mit der Entwicklungssituation ihres zweijährigen Kindes auseinandergesetzt hat, alle gängige populäre Literatur zu diesem Thema gelesen hat und dennoch äußert, dass sie mit dem Kind in ein Fußballstadion zum Rockkonzert gehen wird, weil sie nicht verzichten will.

An der Entwicklung der kleinen Kinder sich angemessen zu freuen und darin die Chance der eigenen Bildung und Entwicklung zu sehen, muss heute von den Eltern bewusst gelernt werden. Diesen Lernprozess für die Willigen zu ermöglichen, ist eine wesentliche Aufgabe der Waldorf-Bewegung im dritten Jahrtausend.

Zurück zur kleinen Rebekka: Sie ist tief befriedigt, lässt sich einer – meistens Mutter oder Vater – auf das von Humor getragene Spiel um ihren Trotz ein. Ihr Wille wird nicht gebrochen, er verliert sich aber auch nicht in der widerstandslosen Leere. Es entsteht in der Begegnung das Lebens­qualität schaffende stressfreie Spiel – eine tiefgreifende Vorbereitung für das ganze Leben. Wie erfrischt und befriedigt können in einer solchen Situation die Spielpartner Mutter oder Vater sein, wenn sie sich freudig auf dieses »Trotz-Spiel« einlassen! Erziehung im Alltag kann so zu einem künstlerischen Vorgang werden, der nicht (nur) als Pflicht, sondern als Befreiung erlebt wird. Dies kann gelernt werden und steht als Aufgabe heute an.

Zum Autor: Dr. Wolfgang Saßmannshausen, 4 Kinder, Mitarbeiter der Vereinigung der Waldorfkindergärten vor allem in Fragen der Aus- und Fortbildung im In- und Ausland.

Literatur: Emmi Pikler: Friedliche Babys – Zufriedene Mütter, Freiburg-Basel-Wien 2008; Dieselbe: Lasst mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen, München 2001; Rudolf Steiner: Zur Dreigliederung des sozialen Organismus. Gesammelte Aufsätze 1919–1921, Stuttgart 1972

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