Klassenzimmer

Das Bild in der Pädagogik

Christof Wiechert
Deckenmalerei aus dem Goetheanum: die Erschaffung von Auge und Ohr

Polar steht das gesprochene Wort dem Bild gegenüber. Bild und Wort stehen für Raum und Zeit – die zwei Dimensionen, in denen wir Menschen unser bewusstes Leben führen. Das gilt auch für die Erziehung. Auch sie benutzt Raum und Zeit, Bild und Wort, Plastisches und Musikalisches. Der ganze Lehrplan der Waldorf­schulen ist ein Gleichgewichtsakt zwischen diesen zwei Dimensionen, sie kommen konzentriert zum Ausdruck in der überragenden Bedeutung von Auge und Ohr (siehe dazu die Abbildung der Deckenmalerei aus dem Goetheanum: die Erschaffung von Auge und Ohr auf S. 10). Unterrichten wir Mathematik, sind wir im bildarmen Raum, unterrichten wir Geschichte, sind wir im bildreichen Raum. In beiden leben zu können, in beiden sich zu Hause fühlen, sich in beiden ausdrücken können, ist eine der Aufgaben der Pädagog:innen. Singt oder musiziert eine Klasse, befindet sie sich im Strom der Zeit. Ist aber eine Klasse dabei, zu plastizieren oder zu malen, bewegt sie sich hauptsächlich im Bildhaften. Für jedes Fach kann bestimmt werden, welche der zwei Dimensionen gerade die dominante ist. Im Chemieunterricht zum Beispiel sind wir auf das Bild der Experimente hingewiesen, sie haben aber einen starken Prozesscharakter, spielen sich also in der Zeit ab. Schaut man einer Handwerkstunde zu, sind die Kinder hauptsächlich gestaltend, formend unterwegs, wie auch in der Geometrie. Es ist ein wesentliches Merkmal der Waldorfpädagogik, diese Dimensionen in ihren Wirkungen zu erkennen und zu gebrauchen. Ein anderes ist der Übergang zwischen den beiden Dimensionen. Was geschieht zum Beispiel, wenn Kinder eine Geschichte erzählt bekommen? Wenn das Wort richtig verwendet wird, wenn zum Beispiel ein gutes Märchen wortgetreu ohne Ausschmückung erzählt wird, dann findet in den Kindern etwas Besonderes statt: im Zuhören bilden sie sich innere Bilder, Vorstellungsbilder der Erzählung. Dieser Vorgang der Vorstellungsbildung «mental images» ist im hohen Grade ein zwar unsichtbarer, aber kreativer, aktiver innerer Vorgang. Und wir stehen vor dem großen Wunder: das bildlose Wort erzeugt Bilder durch das Zuhören. Hierin liegt die Tragik des Fernsehens: eine Geschichte wird schon in Bildern erzählt, wodurch dieser kreative, aktive innere Vorgang nicht stattfindet. Das Gehirn bleibt inaktiv, so dass die Gehirnwellen nach einer gewissen Zeit den Zustand der Vorphase des Schlafes annehmen. Und: Alle kennen die Erfahrung, dass ein verfilmtes, vorher gelesenes Buch die eigenen inneren Bilder in Konflikt mit den Kino-Bildern bringt. Eine Tatsache, die zeigt, wie real die inneren Bilder sind.

Ein sehr prägnantes Fach des Überganges ist die Eurythmie, sie ist gleichermaßen durch Sprache oder Musik im Raum wie in der Zeit unterwegs. Das aber vielleicht am meisten Prägende ist Rudolf Steiners oft wiederholte Bitte an die Lehrkräfte, man möge sich üben im bildhaften Sprechen als Gegenentwurf zum abstrakten Reden. Der Sinn der Bitte ist leicht einzusehen. Wer einen abstrakten, trockenen Vortrag hört, hat es schwer, dabei zu bleiben, ist abgelenkt oder geht anderen Gedanken nach. Bei Kindern wirkt es im buchstäblichen Sinne beunruhigend und ermüdend. Das Dargestellte kommt nicht an und auch die Lehrkraft bemerkt, dass der Stoff nicht zu den Schüler:innen durchdringt. Die Fähigkeit des Sprechens in Bildern, der Gebrauch von Metapher, Symbol und Analogie will geübt sein. «Wir besteigen einen steilen Berg, es ist in Teilen mühsam, aber die Aussicht wird immer grösser und mächtiger» scheint demnach viel besser als: «Wir müssen jetzt viel lernen, und das ist nicht immer leicht, oder gar nicht leicht, aber zum Schluss könnt ihr vieles.» «Mir ist ein Licht aufgegangen» ist viel netter als: «jetzt weiß ich es». Die zweite Klasse ist laut – «es ist hier wie im Hühnerstall», statt «seid mal still!» Und «es ist eine Herkulesaufgabe, aber Kinder, wir schaffen das, uns geht keine See zu hoch» statt «wir müssen jetzt was Schweres lernen». Es wirkt entängstigend.

Durch bildhaftes oder sinnbildhaftes Sprechen werden Schüler:innen angeregt. Das innere Vorstellen bekommt einen Impuls, das Bild wird wie gelesen und gedanklich umgesetzt. Das ist eine Vorstufe des lebendigen Vorstellens und stellt eine intelligente Kraft dar. Hierauf hat Steiner sehr großen Wert gelegt – als Gegenentwurf zum rationalen Intellektualismus, der nur die hard disc im Gehirn füllt, aber ein Wesensbild, das zur Wesensbegegnung werden kann, nicht zulässt. Heute ist dieser rationale Intellektualismus stärker als je zuvor. Das hängt auch mit der Geschwindigkeit zusammen, in der digitales Wissen zur Verfügung steht.

Dazu ein Beispiel. Im vierten Schuljahr wird meist die Epoche der Tierkunde behandelt. Steiners methodischer Hinweis dazu ist, man solle die Tiere so behandeln, dass aus der mündlichen Darstellung der Lehrkraft ein inneres Vorstellungsbild des Tieres entsteht. In der Praxis heißt das, man solle das Tier beschreiben, charakterisieren in seiner Gestalt, in seinem Verhalten, in seiner Lebensweise. Das heißt auch, man sieht sich nicht erst das Tier in der Wirklichkeit an. Aus dem Gehörten formen sich die Schüler ein Wesensbild des Tieres, das kann dann beschrieben oder, gemalt werden, man kann einen Zirkus machen, vieles ist möglich. Nun wird auch wohl die Aufgabe gegeben, ein Tier nach Wahl selbst in Eigenarbeit vor den Mitschüler:innen darzustellen. Natürlich greifen die Schüler:innen dann zu Wikipedia, wo zum Löwen folgendes steht: «Der Löwe ist mit dem Tiger die größte Art aus der Familie der Katzen. Lebenserwartung 15-16 Jahre für ein wild lebendes Weibchen; 8-10 Jahre für ein wild lebendes Männchen. Gewicht: Erwachsenes Männchen 190 kg, Weibchen 130 kg, etc.» Nichts, was den Löwen zum Löwen macht, wird mit diesen Fakten erlebbar. Mit diesem Wissen geht also das Kind in die Schule und erzählt über den Löwen. Die Bildarmut steigert sich zur Vorstellungsleere. Erlebnisarmut macht sich breit: Steine statt Brot. Es darf als ein sehr bedeutendes Merkmal der Waldorfschule betrachtet werden, dass das Lernen mit dem Faktischen immer auch das Wesenhafte in den Lernvorgang einbezieht. Und das geschieht immer unter Einbeziehung des Bildes, auch außerhalb seiner illustrativen Bedeutung. Für die Jahre davor empfiehlt Steiner für den Naturkundeunterricht eine beseelte Herangehensweise. Im zweiten Schuljahr zum Beispiel werden Bäume und Pflanzen wie lebendig sprechend vorgeführt, aber immer so, dass eine feine rätselhafte ungelöste Frage übrigbleibt:

Es ist Vorfrühling. Unter der großen dunklen Tanne kommen einige Schneeglöckchen zum Vorschein. Die Tanne sieht sie und spricht, ach ihr kleinen Dinger, euch ist wohl ein kurzes Leben beschoren. Seht mich an, ich stehe hier schon viele viele Jahre und werde immer stärker und größer. Sagt das Schneeglöckchen, das mag schon sein, aber an dir habe ich nie etwas blühen sehen, so alt wie du bist. Und so kurz wie wir leben, schaut wie wunderbar wir schon in der Kälte blühen.

So eine Erzählung wirkt sinnig, gerne wird sie wieder und wieder bewegt. Hin und wieder wird der Waldorf­pädagogik Schöngeistigkeit, ja intellektuelle Weichheit vorgeworfen. Solche Vorwürfe entstammen meist der Unkenntnis. Und tatsächlich, die Erziehungskunst zu verstehen, ist schon eine relativ umfangreiche Aufgabe. Kehren wir zurück in das vierte Schuljahr: Als Übung, nicht im Kontext einer Epoche oder eines Faches, empfiehlt Steiner, man könne den Kindern den pythagoräischen Lehrsatz erklären, und sie anleiten, selbst Lösungen für den Beweis dieses Satzes zu finden (es gibt davon bekanntlich viele). Im vierten Schuljahr! Das ist starker Tobak, aber er führt die Schüler:innen an das Formerleben. Das abstrakte bekommt Sinn, die Vorstellung bewegt sich. Denken als Bewegung wird erlebbar.

Eine sehr interessante Bemerkung macht Steiner, während er die Lehrer:innen durch seinen Menschenkundekurs einweist auf die kommende Aufgabe. Er sagt, die Anwendung der Phantasietätigkeit in der Präpubertät sei ganz besonders wichtig. Die unteren Klassen könnten gerne was Nüchternes haben, gegen das siebte, achte Schuljahr jedoch sei die Pflege der Phantasie von großer Bedeutung. Wir meinen das dahingehend zu verstehen, dass beim Erwachen der Intellektualität schon das bewegliche, vorstellende Denken neben der rationalen Denktätigkeit seinen Platz gefunden haben mag. Neben dem toten Denken ein lebendiges zu haben, gehört zur Mission der Erziehung heute.

Dann ziehen am Ende der Schulzeit durch die Weltliteratur ganz neue, gewaltige Bilder an den jugendlichen Seelen vorbei: Dostojewski, Tolstoi, Ibsen, Shakespeare, Dickens, Voltaire, Goethe, Laotse, Tagore. Bilder werden gelesen und wirken bis ins Alter hinein.

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