Die Lebensprozesse von Organisationen

Malte Lindner

Michael Birnthaler sieht ebenfalls in der Hinwendung zu situativ-beweglichen Hierarchien, zur sogenannten Holokratie, eine zeitgemäße Antwort auf den in hierarchisch organisierten Unternehmen oft festgestellten Identitätsverlust. Aber wie lässt sich eine Organisation nachhaltig und frei entwickeln, sodass alles möglich ist und es gleichzeitig ein Grundgerüst zur Orientierung gibt?

Zentral ist das Verständnis von Organisationen als lebendige Systeme. Schon Rudolf Steiner entwickelt dazu eine Art Lebensprozesstheorie. In seinem posthum veröffentlichen Werk Anthroposophie. Ein Fragment (2002) und in einer Reihe von Vorträgen formulierte er den Gedanken, dass allem Lebenden sieben Prozesse zugrunde liegen: Atmung, Wärmung, Ernährung, Absonderung, Erhaltung, Wachstum und Hervorbringung. Steiner bezieht sich dabei zwar auf den individuellen Menschen, war sich jedoch ebenso bewusst, dass Waldorfschulen  lebendigen sozialen Organismen gleichen (Steiner, 1992, 2002)

Lassen sich die menschlichen Lebensprozesse tatsächlich auf Organisationen anwenden und als Grundlage einer ganzheitlichen Organisationsentwicklung nutzen?

Ende der 1990er Jahre veröffentlichte Arie de Geus sein Buch »The Living Company«, in dem er der Frage nachgeht, warum die Mehrheit der Unternehmen nach einer gewissen Zeit stirbt und warum nur einige wenige es schaffen, länger als einhundert Jahre zu existieren. Durch seine Nachforschungen stellte er vier Gemeinsamkeiten unter letzteren fest:

  • eine hohe Sensibilität gegenüber der Umwelt
  • ein ausgeprägtes Bewusstsein der eigenen Identität
  • eine hohe Toleranz neuen Ideen gegenüber
  • und konservatives, finanzielles Handeln.

Mit Bezug auf die  Führungsprinzipien, die dafür nötig sind, schrieb er 1997 in der Harvard Business Review: »[A] manager must let people grow within a community that is held together by clearly stated values. The manager, therefore, must place commitment to people before assets, respect for innovation before devotion to policy, the messiness of learning before orderly procedures, and the perpetuation of the community before all other concerns«.

Hohe Sensibilität gegenüber der Umwelt ist ein Zeichen eines gut funktionierenden Atmungsprozesses, das Identitätsbewusstsein Ausdruck der funktionierenden Wärmung und die Toleranz gegenüber neuen Ideen ein Anzeichen für ein intaktes Verdauungssystem. Im konservativen finanziellen Handeln findet der Erhaltungsprozess seinen Ausdruck, indem Ressourcen aufgebaut werden, um auf Unvorhergesehes reagieren zu können. Risikominimierung ist Erhaltung oder eine der möglichen Ausdrucksformen des Erhaltungsprozesses. Eine geringe Mitarbeiterfluktation und festgelegte, jedoch flexible Abläufe wären andere Beispiele. Durch den Aufbau finanzieller Ressourcen wird  die Grundlage geschaffen, investieren zu können, wenn die Zeit reif ist, mit dem Resultat Wachstum, Innovation und die Hervorbringung neuer Produkte zu fördern. De Geusʼ Erkenntnisse bezüglich der notwendigen Führungsprinzipien wiederum sind Beispiele eines funktionierenden Absonderungsprozesses, der in Verbindung mit den anderen Prozessen wirkt und deren Funktion unterstützt. Je nach Kontext der Organisation sind die Strukturen, Abläufe, Aufgaben und die Gründe der Unternehmensexistenz, der Sinn, unterschiedlich. Die sieben Lebensprozesse wirken jedoch in allen Organisationen.

Ein im Beratungsgeschäft viel zitiertes Beispiel für wirtschaftlichen Misserfolg ist Nokia, das sich vom Weltmarktführer innerhalb kürzester Zeit in einen unternehmerischen Pflegefall verwandelte. Dieser Firma fehlte die Sensibilität gegenüber der Umwelt und sie hat die sich anbahnende Zäsur durch Smartphones in ihrem Kerngeschäft verschlafen. Aus der Perspektive der Lebensprozesse führten Probleme im Atmungsprozess zu Problemen im Erhaltungsprozess und der Hervorbringung neuer Ideen. Ein positives von de Geus zitiertes Beispiel hingegen ist die schwedische Firma Stora, die seit dem Erscheinen seines Buches in dem Konzern Stora Enso aufgegangen ist, und deren Wurzeln bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Trotz der vielen massiven politischen, gesellschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Veränderungen in ihrer Geschichte, hat Stora sich erfolgreich in der Welt behauptet, sich notwendigerweise dabei verändert, adaptiert und immer wieder expandiert. Im Laufe der Zeit hat Stora sich von einer Kupferabbaugesellschaft in der schwedischen Provinz zu einem zunächst national, dann nur in Skandinavien und schließlich global agierenden Unternehmen entwickelt, das sich heute nicht mehr im Bergbau engagiert, aber zu einem der größten Holz-, Papier- und Chemieproduzenten aufgestiegen ist und u.a. Heizpellets produziert. Während die Sensibilität gegenüber Umweltveränderungen ein wichtiger Faktor in der Weiterentwicklung und Neuformierung des Unternehmens war, sieht de Geus gleichzeitig eine starke Identität und Toleranz neuen Ideen gegenüber, die es ermöglicht hat, neue Geschäftsfelder zu erschließen und neue Technologien zu nutzen. Die Kombination dieser drei Elemente weist auf eine gute Funktion der Lebensprozesse hin. Stora ist ein Beispiel für eine langlebige, lebendige Organisation.

Was kann das Verständnis der sieben Lebensprozesse zur Organisationstheorie und der Organisationsentwicklung beitragen? Folgt man der Annahme, dass es sich bei Organisationen um autopoietische, lebendige Systeme (Simon 2018) handelt, könnten die Lebensprozesse einen ganzheitlichen Rahmen bieten, Organisationen zu gestalten und zu führen. Die Dynamiken, denen alles Lebendige unterliegt, können helfen, eine ganzheitliche Perspektive einzunehmen und Orientierung zu geben.

Die Umwelt, in der sich Waldorfschulen und andere anthroposophische Einrichtungen befinden und behaupten müssen, ändert sich immer rasanter. Damit ändern sich die Aufgaben und die Anforderungen an Personen und Strukturen. Digitalisierung, Lehrermangel, die Individualisierung der Gesellschaft, Generationswechsel im Kollegium, Globalisierung und Klimaschutz sind nur einige wichtige Themen, mit denen sich Waldorfschulen befassen müssen. Um zu bestehen, sind eine Weiterentwicklung und immer wieder stattfindende Erneuerungen notwendig. Ist es beispielsweise notwendig, den Lehrplan im Zuge der Digitalisierung zu verändern? Medienkunde hält in einigen Schulen bereits Einzug. Welche Fähigkeiten müssen Kinder entwickeln, um in einer digitalen Welt zu bestehen? Ebenso stellt sich die Frage, welchen Raum Klimaschutz und Nachhaltigkeit einnehmen sollten. Ganz gleich, ob sich eine Schule in die Richtung einer Holokratie entwickelt oder überlegt, Schulleiterstellen zu schaffen, wie es an einigen Orten geschieht – der Lebensprozess-Ansatz kann helfen, individuelle Lösungen für individuelle Umstände zu finden. Die sieben Lebensprozesse können den Weg weisen zu langlebigen, lebendigen Organisationen, die auch in hundert Jahren noch ihren Sinn und Zweck erfüllen und sich immer wieder aufs Neue erfinden.

Zum Autor: Malte Lindner ist Organisationsentwickler und arbeitete in leitender Position in einer anthroposophischen Einrichtung in Schottland. E-Mail: kontakt@livingorganisations.de

Literatur:

A. De Geus: The Living Company, Boston 1997, hbr.org/1997/03/the-living-company [abgerufen: 12.10.2019] | F. Laloux: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2015 | F.B. Simon: Einführung in die systemische Organisationstheorie, Heidelberg 2018 | R. Steiner: Anthroposophie. Ein Fragment, Dornach 2002 | Ders.: Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte, Dornach 1992