Die Lust am Unterrichten

Christof Wiechert

Wir beginnen besser mit einigen Geschichten: Es war vor fast vierzig Jahren, da kam ein junger Mann zu uns ins Klassenzimmer, er wollte sich die Schule mal aus der Nähe ansehen. Er trat etwas steif und formell auf, aber mit freundlichem Blick. Er war Schiffsoffizier der Radiotelegraphie und ahnte, dass sein Beruf nicht mehr lange existieren würde. Er entschloss sich zur Umschulung und wurde Waldorflehrer. Seit vielen Jahren schon ist er nun eine tragende Kraft in einer Waldorfschule, beliebt bei Schülern, Eltern und Kollegen.

Vor ungefähr dreißig Jahren meldete sich eine etwas ältere Dame bei unserer Schule: Sie möchte ihre Laufbahn an einer Waldorfschule fortsetzen, ob wir sie wohl nehmen würden, ob wir es mit ihr wagen wollten? Sie hatte ein Berufsleben lang im öffentlichen Schuldienst gestanden, war aber zugleich eine begabte Zeichnerin und Malerin; sie zeigte uns zum Beispiel Lesehefte, die sie für ihre Schüler selber gestaltet hatte, mit Text und Bildern. Sie bekam eine erste Klasse und ihre Klassenführung war ein einziges Fest der Pädagogik. Auch sie war beliebt bei Schülern, Eltern und Kollegen weit über ihren Ruhestand hinaus, indem sie zum Beispiel Kindern dabei half, das Lernen noch zu lernen.

Ungefähr zur selben Zeit kam ein ebenfalls etwas älterer Herr, auch er hatte viele Jahre im öffentlichen Schuldienst gestanden, und wollte jetzt, da er seit Jahren Mitglied in einem anthroposophischen Zweig in einer großen Stadt war, seine berufliche Laufbahn mit der Tätigkeit an einer Waldorfschule krönen. Er war ein lieber Mensch, eine Art Opa der Schule, aber es gelang nicht. Seine festen Gewohnheiten gaben keine Beweglichkeit mehr her, Sachen anders zu tun, und vor allem anders zu sprechen.

Und dann stehe ich eines Tages vor einem Lehrerkollegium einer großen Oberstufe im Osten des Landes, tausend Schüler, hundert Lehrer. Die Mehrheit der Lehrer: jung, begeistert, wenig bis keine Ahnung von Waldorfschule und ihren Grundlagen, aber offen, von ihnen zu hören und sie anzuwenden. Sie sind fröhlich, machen einen energischen Eindruck. Es ist deutlich, der Beruf bedrückt sie nicht. Sie wollen Lehrer sein und wollen Waldorf.

Es kommen auch junge Leute in die Lehrerbildung, denen sieht man förmlich an, dass sie nur eines wollen: diesen Beruf! Manchen dauert die Ausbildung zu lange, sie wissen längst, was sie wollen und können, oder auch: Sie wissen, was sie können und nun wollen sie es.

Wenn man in der Sprache der Geisteswissenschaft sprechen will, dann kann man bei solchen meist jungen Leuten den vorgeburtlichen Entschluss mit Händen greifen. Sie sind stark, zielstrebig, Könner in Entwicklung, und wollen in diesem Leben der Erziehungskunst dienen. Es sind die ersten Repräsentanten der vierten Waldorflehrer-Generation.

Der Unterricht ist ein großer Strom

Solche Kollegen gab es auch an meiner Schule, als ich noch Schüler war, sie waren die Gründerpersönlichkeiten der Schule. Wenige hatten noch Rudolf Steiner gekannt, einige waren seine Schüler. Sie besaßen große seelische Kräfte, die hin und wieder ihre physischen Kräfte überstiegen. Alle aber trugen den Waldorfgeist in sich. Wie offenbarte der sich?

Er zeigte sich dadurch, dass diese Kollegen fast alle einen ausgeprägten gesunden Menschenverstand besaßen und dazu auch eine gute Portion Geistesgegenwart. Stellte man ihnen Fragen, waren die Antworten einfach, nie theoretisch. Manchmal so einfach, dass man als Jungspund dachte, ist das alles? Die Verständigung untereinander war schnell, sie hatten dieselbe Tonart, dasselbe Herz für die Erziehung. Ihre Unterrichte hatten etwas Einheitliches. Das heißt, es waren nicht zufällige Abläufe, die sich zwischen Lehrer und Schülern abspielten, sondern ihre Stunden hatten Gestalt, das waren Kompositionen, wie außerhalb der Zeit. Aber immer einfach, als ob das alles ganz normal wäre.

Dann waren auch Lehrer dabei, die wir Schüler in der Oberstufe einfach als genial bezeichneten, nicht wegen ihrer Unterrichtsmethode, sondern wegen des für uns unfassbaren Reichtums an Inhalten, die sie vermittelten. Inhalten, von denen wir spürten, sie sind nicht angelesen, sondern durchlebtes Können.

Solche Lehrer musste man einfach bewundern und lieben, ja wir glühten für sie! Im Rückblick erlebt man bis heute die aufrichtende Kraft, die von solchen Begegnungen im Unterricht ausging. Und manchmal beschleicht mich die bange Frage, was wohl aus mir geworden wäre ohne sie? – Was für ein unsägliches Glück, solche Lehrer gehabt zu haben, ihre seelischen Gestalten be­gleiten einen ein Leben lang.

In der Zeit der Unterstufe erlebte man hauptsächlich an diesen Lehrern der ersten Stunde, dass sie da waren. Immer. Verlässlich. Der Hauptunterricht war wie das Leben selber; es strömt dahin wie ein breiter Fluss. In diesem Leben fühlte man sich zu Hause. Sie hatten Güte und Strenge in einem und wir wussten, sie sehen alles! Lernen war Lernen um seiner selbst willen und das empfanden wir Kinder als ganz richtig und gerecht. Wir liebten diese Lehrer nicht mit der Kraft der Begeisterung, wie in der Oberstufe, sondern wir liebten sie, wie man den Tag liebt, das Sonnenlicht, wir liebten ihr Dasein und wenn sie mal einen Witz machten, erzitterten wir in freudiger Erregung: Sie sind auch Menschen!

Der Unterricht war wie der Strom, der breit dahinfließt, sie aber sorgten dafür, dass das Flussbett gut bestellt war; schließlich ging es ums Lernen und um Fortschritt. Überflüssiges fand nicht statt und natürlich probten wir die Klassenspiele außerhalb der Schulzeit, am Nachmittag.

Im Rückblick erscheinen auch die Jahreszeiten als Farben des Alltags in der Schule und Bilder aus dieser Zeit ziehen am inneren Auge vorbei, wie gelebte Erwartung – ein Glück, über Jahre den Tag so gestaltet zu bekommen. Nie kam auch nur im entferntesten die Frage auf, ob die Lehrer wohl genug wissen, kompetent waren. Diese Frage existierte nicht. Und wenn Lehrer oder Lehrerin einen Fehler machten, war das für uns ein Fest und wir beeilten uns, den Fehler zu beheben. Das Schulleben war inklusiv; das heißt, alles war möglich und gehörte dazu.

Es mag sein, dass durch den zeitlichen Abstand manches ein wenig verklärt erscheint. Trotzdem, die Bilder, die Empfindungen, die Erinnerungen an das, was gelernt wurde, sie sind innerlich als Reichtum vorhanden und er gibt Kraft. Ich hege den Verdacht, dass ich dieser Zeit meine starke Konstitution verdanke.

Nicht die Kinder sind anders, sondern die Lebensumstände

Was diese Episoden darstellen, sind drei Generationen von Lehrern – die Gründer, die Schüler der Gründer und die Schüler der Schüler. Und jetzt ist eine neue Generation am Zug, die vierte. Sie haben dieselben Kräfte wie die Gründer, aber nun aus sich selbst. Das aber ist ein großer Unterschied.

Natürlich sind die schulischen Bedingungen heute ganz andere und dadurch auch die Anforderungen an den Lehrerberuf. Was ist anders geworden?

Die Kinder und Schüler sind dem Wesen nach dieselben wie vor 100 Jahren. Man sieht es daran, dass man immer noch wunderbare Kinder vor sich hat, wenn die Bedingungen in der häuslichen und schulischen Erziehung einigermaßen stimmen.

Die Lebensumstände aber haben sich sehr geändert. Einerseits ist die ganze Lebenswelt der Kinder heute durchsetzt von Technik. Naiv wäre es zu denken, dass das keinen Einfluss hat. Kinder (und Eltern und Lehrer) benutzen Gedankenformen, die vom technischen Denken geprägt sind. Es sind zweck­-­rationale, abstrakte Gedankenformen. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Herbert Marcuse schon darauf hingewiesen: Die Technik wird den eindimensionalen Menschen hervorbringen, einen Menschen, der wie eine Maschine denkt – und handelt. Steiner sprach schon sechzig Jahre vor Marcuse vom schrittweisen Verlust eines integralen Menschenbildes. Im Mittelalter, so Steiner, sei der Geist verloren gegangen, in der Neuzeit die Seele. Übrig blieb der eindimensionale Mensch, der angeblich nur aus dem Leib besteht. Manchmal hat man heute den Eindruck, er besteht nur noch aus dem Gehirn.

Wenn Erziehung aus einer solchen Auffassung hervorgeht, kann sie keine Kunst mehr sein. In der Kinderheilkunde spricht man seit Jahren von neuen Epidemien (new epidemics), die durch den Lebensstil bedingt sind. Dieser macht Kinder konstitutionell krank oder behindert massiv ihre Lernfähigkeiten. Es ist unrichtig, von »neuen Kindern« zu sprechen! Wir haben es mit Veränderungen des Verhaltens zu tun, die durch unsere kulturellen Gewohnheiten, unser eindimensionales Denken und Handeln bedingt sind. Nicht ohne Grund sprach Steiner mit Nachdruck von Erziehungskunst und nicht von Erziehungswissenschaft!

Lust am Unterrichten

Das erste, was demnach ein Lehrer heute braucht, ist ein Organ für Seele und Geist der ihm anvertrauten Kinder. Künftige Lehrerbildungen müssen darauf ausgerichtet sein, dieses Organ zu schulen. Auch wenn der werdende Lehrer dadurch durch Phasen der Unsicherheit geht – denn Erziehungskunst ist nicht »Mainstream«, sondern Gegenstrom. Diese beiden Ströme muss man in sich vertragen lernen.

Daher benötigt ein werdender Erziehungskünstler als zweites den Mut, gegen den Strom der herrschenden Denkformen anzuschwimmen.

Und als drittes: innere und äußere Beweg­lichkeit. Beweglichkeit im Denken, im Fühlen und im Wollen. Beweglichkeit nicht im Sinne von Unruhe, sondern von Geistesgegenwart, von Intuitionsfähigkeit, der Fähigkeit also, auf Un­­erwartetes, Unvorhersehbares spontan und doch weisheitsvoll einzugehen. Die besten Lehrer für diese Geistes­gegenwart sind die Kinder mit ihrem Interesse an allem, was ihnen entgegenkommt.

All das aber wäre nichts nütze, wenn der Erziehungskünstler nicht über eine vierte, die wichtigste Eigenschaft verfügte: die gute Laune, die Lust am Unterrichten.

Zum Autor: Christof Wiechert war langjähriger Leiter der Pädagogischen Sektion am
Goetheanum. Zuletzt sind seine Bücher Du sollst sein Rätsel lösen (2012) und Die Waldorfschule (2014) im Verlag am Goetheanum erschienen.