Die Madonna der Kindergärten. Ist Raffaels Sixtina zeitgemäß?
Sie ist die Madonna der Kindergärten und Schulen. In nahezu jeder Waldorfeinrichtung findet man sie – die Sixtina. Raffaello Santi malte mit knapp 30 Jahren die Mutter Gottes 1512/13 im Auftrag von Papst Julius II. für den Hochaltar der Klosterkirche San Sisto in Piacenza. Hier befanden sich die Gebeine der Heiligen Barbara und von Papst Sixtus II. August III. holte die Sixtinische Madonna 1753/54 nach Dresden, wo sie noch heute in der Gemäldegalerie Alte Meister zu bewundern ist.
Die erste intensive Begegnung mit der Sixtinischen Madonna von Raffael kann schon verwirren. Wie manche Eltern, haderte ich mit der schönen Frau, dieser überweltlichen Mutter. Gilt es nicht ein neues Bild der Frau und ihrer Rolle zu zeigen? Zieht man die sittsame Anmut der heiligen Barbara mit in Betracht, die erst auf den zweiten Blick am rechten Bildrand ins Auge fällt, brodelt es im emanzipatorischen Frauenherz. Der am Boden kniende Papst Sixtus setzt der ungeübten Betrachtung die Krone auf. Einzig die lässigen Engellümmel vermögen spontan das Herz zu verzücken.
Was soll dieses Bild im Kindergarten?
Rudolf Steiner selbst hat die Sixtina in die Waldorfeinrichtungen gebracht. Und das aus gutem Grund. So schildert er ausführlich, wie das Bild auf jeden anders wirkt und was geschieht, wenn zwei Menschen, die dieses Bild betrachten, in einen Dialog treten: »Er [der zweite Betrachter] schildert nur, was in ihm wirkt, schildert nur das, was in ihm spricht, und hat der Zuhörende einmal in der Seele erfasst, wovon der andere spricht, und sieht er sich dann das Bild an, dann sieht er das andere in dem Bild, dann wirkt es so, dass er weiß: Es ist im Bild drinnen.«
Überall sind es die Augen
Mit diesem Warten öffnete sich mir dann ein viel tieferer Blick auf das Geschehen hinter dem Vorhang. »Dieses Bild zeigt eine neue, innovative Art, allen Menschen die geistige Welt zugänglich zu machen,« erzählt der Konservator für italienische Malerei, Andreas Henning in Dresden. Es sind Dialoge, geschickt miteinander korrespondierende Gegensätze, die unbewusst das Interesse des Betrachters wecken: Welt und Himmel, Geister und Menschen, Mann und Frau, Leben und Tod, Liebe und Macht. Weniger die Farben strahlen, da der Firnis im Laufe der Zeit einen dunklen Film über die Leuchtkraft gelegt hat. Vielmehr ist es die Tiefenwirkung, die die Farben leuchten lässt. Die Madonna strahlt im hellgelben Schein und wird bei längerer Betrachtung immer plastischer. Während sich der Vorhang für den großen Akt öffnet, warten die Himmelsboten scheinbar gelangweilt auf das Ereignis. »Wann kommt er denn endlich zur Welt?«, könnten die Putten denken.
Die Mauer, auf die sich die Engelchen lehnen, ist neben dem Vorhang das einzige weltliche Element des Bildes, das sonst nur Himmelsgeschöpfe zeigt. »Es kann nur die Mutter Gottes sein, die Jesus die Möglichkeit gibt, ›irdisch‹ zu werden«, erläutert der Kurator Henning. Eine schöne, starke Frau trägt einen riesigen Knaben zur Welt, der zunächst melancholisch, doch dann fast zornig wirkt. Die übergroßen, dunkeln Augen heften sich an. Sie lösen sich nicht, auch wenn man die Position wechselt. »Mich fasziniert dieses Bild«, schildert eine Krippenerzieherin, »aber manchmal muss ich es abdecken, wenn ich spüre, dass die Ausstrahlung zu groß für die kleinen Kinder wird.« Es sind die Blicke der Madonna und vor allem des Kindes, die fast hypnotisch wirken.
Mama und Baby
»Sie läuft immer auf mich zu«, sagt eine Tagesmutter, »Manchmal beruhigt uns die Präsenz, manchmal wird mir und den Kindern der Kontakt zu eng.« Genau so erlebte auch ich die Tagespflegekinder. Immer wieder standen sie vor dem Bild, kamen ins Gespräch über »Mama und Baby«. Mit weit ausgestrecktem Arm deutet der kleine Fiete auf das Baby. »Kalle«, ruft er und nennt den Namen des just geborenen Bruders. Natalie ist sofort zur Seite, die Puppe in der Hand. »Mein Baby«, provoziert sie. »Nein, mein Baby.« Fiete lacht. Die beiden fast Dreijährigen balgen sich vor der schönen Frau und beginnen mit Tüchern und allen »Babys« ein lustiges Rollenspiel. Kleinere Kinder stehen derweil in sinnender Betrachtung, die oft Minuten dauern kann. Die anderen Figuren des Bildes ließen die Kinder aber weitgehend außer Acht. Vielleicht sind sie zu abstrakt? Das Thema Mama ist in der Kindertagespflege ständig präsent. Oft wird auch Kummer laut. »Mama arbeiten«, höre ich täglich. Da können auch schon mal Tränen fließen. Madonna – Mutter – sie kann beruhigen. Sie kann auch traurig machen. Wichtig ist, eine bewusste und gegenwärtige Begleitung bei aktiver Bildbetrachtung mit Kleinkindern. Wird das Bild und damit das Thema Mutter zu dominant, decke ich es ab.
Zu Besuch in Dresden
»Wir brauchen stille, aufmerksame Seelenschritte, um hindurchzuschauen«, sagt eine Kindergärtnerin, die sich freut, als Dresdnerin in direkter Nachbarschaft zur Sixtina zu leben, die in der Staatlichen Kunstsammlung Dresden beheimatet ist. Im Original ist das Werk umwerfend groß und strahlend. Vor allem ist es komplett. Viele Kunstdrucke zeigen nämlich nur einen Ausschnitt.
Beim vollständigen Bild bleibt der Blick nie nur an der Mutter mit dem Kind hängen.
Aus der Anordnung der Figuren ergibt sich ein Kreuz. Gleichzeitig lässt das Quartett (die beiden Putten werden als Einheit wahrgenommen) den Blick immer wieder im Kreis wandern, um schließlich an den Gesichtern von Mutter und Kind zu verharren. Spätestens nach einer Umrundung ist der Betrachter verblüfft. In dieser Szene steckt enorme Kraft. Den über die Betrachter schweifenden Blick der Madonna spürt man im Rücken. Das Kind durchbohrt uns mit den Augen, fast körperlich fühlbar. Ich werde am Boden fixiert, während die Leuchtkraft der Farben wie ein Sog wirkt. Man richtet sich auf und kreist immer weiter mit den Augen durch das Geschehen. Auch die Augen der Kinder kreisen vor dem Bild, wenngleich verbal nur »Mama und Baby« zum Ausdruck kommen.
Höhepunkt für mich und »meine Kinder« war der Besuch des Originalgemäldes in der Galerie der Alten Meister. Mit fünf Kleinkindern machten wir uns auf den Weg. Da ich den Besuch angekündigt hatte, durften wir den Saal vor dem großen Besucherstrom betreten – die Sixtina ganz für uns allein! Als sich die gewaltige Türe öffnete, stand sie übergroß und leuchtend direkt vor uns. Im gleichen Moment öffneten sich die Münder der kleinen Besucher und die Augen wurden riesig. Die Kinder waren für Minuten in den Bann gezogen. »Baby«, raunte Fiete »Da, Mama«, hörten wir auch, aber ohne Kummer in der Stimme. Wir blieben etwa fünfzehn Minuten im Saal. Zu keiner Zeit wurden die Stimmen erhoben, die Kleinen mussten nur davon abgehalten werden, das Bild zu berühren – sie wollten be-greifen, wie es in diesem Alter natürlich ist. Schließlich legten sich einige Kinder auf den Boden, direkt unter das Bild. »Es hat sie umgehauen«, schmunzelte meine Begleitperson.
Ja, sie ist eine »Madonna der Kindergärten«! Sie weckt Andacht, trägt eine überreligiöse Kraft, weil die Botschaft, auch weltlich ausgelegt, überaus spannend ist – besonders, wenn man weiß, dass der dargestellte Papst Sixtus II. im Jahr 258/9 die afrikanischen und östlichen Gemeinden über die Taufe vereinte, bevor er als Märtyrer hingerichtet wurde. Ihm gegenüber blickt die Heilige Barbara vom rechten Bildrand optimistisch auf die Erde. Im Hintergrund steht der Turm, in den der eifersüchtige Vater sie einschloss. Sie konnte flüchten, ließ sich taufen und versteckte sich in den Bergen, wo der Vater sie fand und schließlich enthaupten ließ. Dafür sollte ihn der Blitz treffen. Eine Rebellin – würde sie heute leben, wäre sie vielleicht für eine andere Überzeugung eingetreten. In Nikomedia (heute Izmir in der Türkei) war ihr Schritt ins Christentum revolutionär – besonders für eine Frau. So hatte ich das Madonnenbild bislang nicht gesehen: mutige, selbstbewusste Frauen und ein optimistischer Blick in die Zukunft.
Die Sixtina ist zeitlos und hat heilende Wirkung auf die Kinder- und Erwachsenenseele, schrieb mir eine Kindergärtnerin. Aber manchmal muss man sie trotzdem zudecken.
Zur Autorin: Ulrike Richter ist Soziologin, Autorin und Mutter von drei erwachsenen Töchtern. Sie ist seit fünf Jahren in der Kindertagespflege als qualifizierte Tagesmutter und Dozentin aktiv. Inhaltliche Schwerpunkte sind »Kerngesunde Kinderküche« und »Kleinkind, Kunst & Klassik«, ein Programm in Zusammenarbeit mit Museen zur Heranführung von Kleinkindern an die bildenden Künste (www.qualifizierte-kindertagespflege.de)
Literatur: Rudolf Steiner: GA 62, Ergebnisse der Geistesforschung, Berlin 1912
Kirsten , 18.05.15 20:05
Rudolf Steiner GA 223
Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen
2. Vortrag, Weihnachts-Imagination
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