Die multikulturelle Gesellschaft. Eine Herausforderung für die Waldorfpädagogik

Albert Schmelzer

Eine pädagogisch unmögliche Situation? Nein – sondern die schlichte Beschreibung der aktuellen vierten Klasse der Interkulturellen Waldorfschule Mannheim-Neckarstadt und gleichzeitig ein getreues Spiegelbild des Stadtviertels, in dem über die Hälfte der Kinder aus Einwandererfamilien stammen. Dabei ist Mannheim-Neckarstadt kein Einzelfall. In Hamburg und Berlin, in Dortmund und Köln, in Stuttgart und vielen anderen Großstädten existieren Viertel mit einer deutlich multikulturellen Prägung.

Dabei verschränkt sich die kulturelle Heterogenität mit einer sozialen Problematik: Zahl­reiche Migranten gehören ihrem sozio-ökonomischen Status nach sogenannten »schwachen« oder auch »bildungsfernen« sozialen Schichten an. Eine solche gesellschaftliche Situation stellt für die Waldorf-Schulbewegung eine große Herausforderung dar. Diese Schulbewegung ist aus dem Impuls hervorgegangen, Schulen zu schaffen, in denen »die Kinder des Arbeiters neben denen des Direktors sitzen« (Emil Molt), wo also die Klassenunterschiede von Grund aus aufhören und einmal wahr gemacht wird mit dem Ausspruch: freie Bahn dem Tüchtigen.

Lässt sich dieser Anspruch, eine Schule für alle Kinder zu sein, auch heute – unter gewandelten gesellschaftlichen Vorzeichen – realisieren? Oder liegt Waldorfpädagogik, wie Heiner Ullrich, einer ihrer prominentesten Kritiker, anmerkt, in einer »harmonischen Passung zu dem habituell gleichsinnigen postmateriellen Milieu der gebildeten oberen Mittelschicht« und wird sie den Anschluss an andere soziale Milieus nicht finden können?

Muss sie auf einige ihrer grundlegenden Konzepte, etwa auf ihre entwicklungspsychologisch orientierte Auffassung von Kindheit verzichten, um in der Vielfalt gegenwärtiger Lebenswelten aktuell zu bleiben? Angesichts solcher Fragen sollen einige Aspekte der heute breit diskutierten interkulturellen Pädagogik und der Waldorfpädagogik miteinander ins Ge­spräch gebracht werden.

Eine Pädagogik des »empowerment«

Das Anliegen interkultureller Pädagogik gliedert sich vollkommen in die allgemeine Pädagogik ein. Sie strebt an, Anregungen für die Identitätsfindung der heranwachsenden Persönlichkeit zu geben – gleich welcher Kultur sie angehört. Insofern versteht sich die interkulturelle Pädagogik als Ermutigung zur Selbstbildung, als eine Pädagogik des »empowerment«. Sie setzt nicht bei den Defiziten der Kinder an, sondern bei ihren Stärken und den spezifischen Lebensbedingungen. Die Konsequenz für die pädagogische Praxis lautet: Nicht zu früh selektieren, sondern gezielt fördern!

Das Anliegen der Waldorfpädagogik weist in eine ähnliche Richtung, wenn es auch anders formuliert wird: Es geht ihr um die Ausbildung der Individualität, ausgehend von dem Wissen, dass jeder ein Wesen für sich ist. Vor diesem Hintergrund versteht sich Waldorfpädagogik nicht als ein pädagogisches System, sondern als »eine Kunst, um dasjenige, was da ist im Menschen, aufzuwecken. Im Grunde genommen will die Waldorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen, sondern aufwecken« (Steiner). Dieses Aufwecken erfolgt vor dem Hintergrund einer allgemeinen Anthropologie und Entwicklungslehre, die einerseits universelle, leiblich in­duzierte Reifungsprozesse beschreibt, andererseits offen ist für kulturelle Prägungen und individuelle Besonderheiten.

Die Folgerungen für die pädagogische Praxis sind bekanntlich radikal: Waldorfpädagogik verzichtet auf Selektion und Sitzenbleiben und praktiziert einen integrierten Bildungsgang bis zur 12. Klasse mit einem differenzierten kultur- und naturwissenschaftlichen, künstlerischen und handwerklich-praktischen Bildungsangebot, so dass multiple Intelligenzen sich entfalten können.

Wichtig erscheint in diesem Kontext, dass der Unterricht an Waldorfschulen gerade durch die künstlerischen und handwerklichen Fächer ein hohes Maß an nonverbalen Anteilen enthält, so dass anfängliche sprachliche Defizite nicht so stark ins Gewicht fallen wie bei einer kognitiven Ausrichtung. Der erste Aspekt unseres Vergleiches führt zu folgendem Ergebnis: Bezogen auf das Anliegen zeigt sich – bei gewissen terminologischen Unterschieden – eine Affinität zwischen interkultureller Pädagogik und Waldorfpädagogik, die in der gemeinsamen Subjektorientierung wurzelt. Wenden wir uns nun einem zweiten Aspekt zu: dem Umgang mit Interkulturalität.

Was wäre die deutsche Küche ohne italienische Einflüsse?

Kulturelle Vielfalt – so ein zentrales Credo interkultureller Pädagogik – ist ein bereicherndes Element auf dem Weg zur Identitätsfindung. Georg Auernheimer betont, dass damit an die Bildungsideen von Herder und Wilhelm von Humboldt angeschlossen wird: an Herder, der darauf hingewiesen hat, dass universelle Bildung nur möglich ist, wenn man auf die »Stimmen der Völker«, die Äußerungen der verschiedenen Kulturen, lauscht; an Humboldt, der das Lernen fremder Sprachen und den damit verbundenen Perspektivenwechsel für notwendig hielt, um Differenz anerkennen zu können.

Allerdings ist der gegenwärtige Kulturbegriff gegenüber der klassischen Tradition differenzierter und dynamischer geworden: Kulturen werden nicht mehr als monolithische Gebilde im Sinne von einheitlichen Volkskulturen gesehen, sondern als vielfältig sich entwickelnde Gewebe aus religiösen, sprachlichen, philosophischen und politischen Fäden, die sich in dauernder Interaktion mit anderen Kulturen befinden. Was wäre, um ein einfaches Beispiel zu nehmen, die deutsche Küche ohne italienische Einflüsse? Die positive Wertung kultureller Vielfalt bleibt nicht ohne Konsequenzen für die pädagogische Praxis: Interkulturelle Pädagogik fordert Mehrsprachigkeit, auch bilingualen Unterricht, und regt globales Lernen an – in diesem Zusammenhang ist eine Reihe von didaktischen Modellen für Geographie, Geschichte und Sozialkunde entwickelt worden. Auch für die Waldorfpädagogik ist die Begegnung mit kultureller Vielfalt ein zentrales Bildungselement, und es erscheint bemerkenswert, dass Rudolf Steiner in diesem Zusammenhang ebenfalls auf Herder und Humboldt hingewiesen hat. Dabei ging Steiner, ähnlich wie Herder, noch ganz selbstverständlich von dem Konzept einheitlicher Volkskulturen aus, die durch die Sprache, die Religion und den geographischen Raum konstituiert sind. – Hier stellt sich die Frage, ob durch eine anthroposophische Kulturwissenschaft gegenwärtig nicht neue Akzente zu setzen wären.

Ansatzpunkte dazu finden sich bei Steiner selbst, der ungeachtet seiner Charakterisierung verschiedener Volkskul­turen, etwa in dem Vortragszyklus »Die Mission einzelner Volksseelen«, vom Primat des Individuums gegenüber seiner kulturellen Zugehörigkeit ausging und das Überwinden von Volkszusammenhängen zugunsten einer kosmopoli­tischen Orientierung als Zukunftsideal betrachtete.

Aus der Hochschätzung kultureller Vielfalt folgen für den Unterricht: Mehrsprachigkeit ab der ersten Klasse, eingeführt mit dem Anliegen der Völkerverständigung; ein Geschichtsunterricht, der nicht als National-, sondern als Weltgeschichte konzipiert ist; die Behandlung der Welt­literatur und der Weltreligionen; in den letzten Jahren auch Unterrichtseinheiten zum Thema Globalisierung. Auf dieser Grundlage kultureller Vielfalt konnte eine internationale Waldorfschulbewegung mit rund tausend Schulen auf allen Kontinenten entstehen. Allerdings erscheint die kritische Nachfrage angebracht, ob der Lehrplan, wie er in manchen Schulen Südamerikas, Afrikas oder Asiens praktiziert wird, nicht eurozentrische Einseitigkeiten aufweist. Ist die germanische Mythologie wirklich ein »Muss« für die vierten Klassen auf anderen Kontinenten? Sollte sie nicht durch Motive aus den jeweilig einheimischen Kulturen ersetzt werden? Solche und ähnliche Fragen stellen sich auch in Bezug auf die Märchen und Legenden sowie weitere Teile des Erzählstoffs des Klassenlehrers. Hier wird noch viel Austausch und Forschung notwendig sein. Betrachten wir abschließend einen dritten Aspekt: Die Zielperspektiven von interkultureller Pädagogik und Waldorfpädagogik.

Das Fremde sollte mehr sein als eine Projektion

Interkulturelle Pädagogik strebt danach, interkulturelle Kompetenz zu veranlagen – und die entscheidet sich an der Frage, wie wir mit dem Fremden umgehen. Das »Fremde« ist eine individuelle Konstruktion, die immer Anteile des »Eigenen« enthält und damit eine Form der Selbstbegegnung ist. Jede interpersonelle Begegnung ist jedoch auch eine Begegnung mit einem konkret anderen Wesen, das sich äußert und das nicht auf projizierte Anteile reduziert werden sollte. Dieses fremde Wesen als solches wahrzunehmen, ist eine ethische Forderung, deren Einlösung die Würde der zwischenmenschlichen Begegnung ausmacht.

Aus dieser Einsicht ergibt sich das Grundethos interkulturellen Lernens: Jenseits von Ablehnung oder Übernahme des Fremden, von Separation oder Assimilation einen Modus der Begegnung mit dem Fremden zu finden, der geprägt ist von der Überwindung von Vorurteilen, aktivem Interesse und Achtung vor dem Anderen.

In der Waldorfpädagogik wird in dem angesprochenen Zusammenhang weniger von interkultureller Kompetenz als von der Fähigkeit zur Begegnung gesprochen. Der »objektive Idealismus«, der der Waldorfpädagogik zugrundeliegt, sieht in dem Menschen, dem wir begegnen, ein objektiv Geistiges; es mag sich in der sinnlichen Erscheinung äußern, es mag sich aber auch verbergen. Diesem Wesen­haften gegenüber ist allein eine phänomenologische Erkenntnishaltung angebracht; eine behutsame, immer selbstkritische Form der Annäherung, für die Qualitäten wie Offenheit, Staunen, Empathie entscheidend sind.

Es ist notwendig, einen offenen und dynamischen Kulturbegriff zu entwickeln

Die offensichtlichen Affinitäten zwischen interkultureller und Waldorfpädagogik in ihren grundlegenden Ansätzen mögen erklären, warum sich Waldorfpädagogik weltweit ausbreiten konnte. Allerdings zeichnen sich für die Waldorfpädagogik verschiedene Aufgaben sinnvoller Weiterentwicklung ab.

Erstens: Die internationale Waldorfschulbewegung steht vor der Notwendigkeit, einen bis heute bestehenden Eurozentrismus zu überwinden und Unterrichtskonzepte zu entwerfen und zu praktizieren, welche die jeweiligen kulturellen Ausprägungen berücksichtigen.

Zweitens: Im 20. Jahrhundert ist die Auflösung homogener Volkszusammenhänge weiter vorangeschritten. Insofern wird es für eine anthroposophisch orientierte Kulturwissenschaft notwendig sein, einen offenen, dynamischen Kulturbegriff zu entwickeln.

Drittens: Im Zuge der Globalisierung sind vielfach Stadtviertel mit einem hohen Anteil von Kindern aus Einwandererfamilien entstanden. Wenn die Waldorfschule ihrem Anspruch gerecht werden will, eine Schule für alle Kinder zu sein, ist es an der Zeit, Schulmodelle zu entwickeln, welche die besonderen Lebensbedingungen dieser Kinder berücksichtigen – die Gründung der Interkulturellen Waldorfschule Mannheim- Neckarstadt-West und interkulturelle Schulinitiativen in Hamburg, Dortmund und Berlin sind erste Schritte in dieser Richtung.

Literatur:

Heiner Ullrich: »Das Konzept der Kindheit – ein aktuelles Problemfeld der Waldorfpädagogik«, in: Harm Paschen (Hrsg.): Erziehungswissen­schaftliche Zugänge zur Waldorfpädagogik, Wiesbaden 2010; Rudolf Steiner: Die Erziehungsfrage als soziale Frage, GA 296, Dornach 1971; Ders.: Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs, Dornach 1979; Georg Auernheimer: Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, Darmstadt 2007; Alfred Holzbrecher: Interkulturelle Pädagogik, Berlin 2004