Die pädagogische Sinneslehre muss revidiert werden

Wolfgang-M. Auer

Kein anderer Autor griff das Thema auf, und noch 1996 erschien eine unveränderte Neuauflage des Buches. Kein Wunder also, dass es über Jahrzehnte von vielen Waldorfpädagogen gelesen wurde. Kein Wunder auch, dass die Ansichten des 1972 verstorbenen Schweizer Waldorflehrers, der als 60-Jähriger von Ernst Weißert zum Berater der deutschen Waldorfschulen berufen worden war, zur Lehrmeinung an allen Waldorf-Seminaren wurde und es zum Teil bis heute ist.

Im Zentrum dieser »Lehrmeinung« steht die – angebliche – Abhängigkeit der »oberen« von den »unteren« Sinnen. Aeppli vertrat die Auffassung, dass Hörsinn, Sprachsinn, Gedankensinn und Ichsinn durch eine Umstülpung oder Sublimierung des Gleichgewichts-, Bewegungs-, Lebens- und Tastsinns entstehen. Das hat seine Ursache darin, so Aeppli, dass Bewegungssinn und Sprachsinn, Lebenssinn und Gedankensinn sowie Tastsinn und Ichsinn jeweils dasselbe Sinnesorgan benutzen, das für den entsprechenden »oberen« Sinn nur weiterentwickelt wird. Die Konsequenz ist, dass die Qualität der »oberen« von der Ausbildung der »unteren« Sinne abhängt. Nur ein gut ausgebildeter Bewegungssinn ermöglicht also einen guten Sprachsinn, ein gut ausgebildeter Lebenssinn einen guten Gedankensinn, ein gut entwickelter Tastsinn einen guten Ichsinn. Mehr noch. Laut Aeppli findet die Entwicklung der »oberen« Sinne erst nach jener der »unteren« statt, sodass man erst bei einem Kind in den ersten Schuljahren von einem Sprachsinn, beim Jugendlichen von einem Gedankensinn und gar erst beim Erwachsenen von einem Ichsinn sprechen könne.

Aeppli begründete seine Auffassung durch Steinerzitate. Liest man diese Zitate genau und vor allem im ursprünglichen Zusammenhang nach, muss man feststellen: nichts von all dem kommt bei Steiner vor. Man kann allerdings nachvollziehen, wie Aeppli durch ungenaues Lesen und unkritische Schlüsse zu seiner Auffassung gelangt ist. Aeppli hat uns auf eine falsche Fährte gesetzt, und wir sind ihm viele Jahrzehnte gefolgt. Seine »Lehrmeinung« muss aber korrigiert werden. Es gibt weder Abhängigkeit noch Reihenfolge. Schließlich spricht auch die genaue Beobachtung dagegen, da der Sprachsinn und der Ichsinn sich von Geburt an nachweisen lassen, der Gedankensinn spätestens zu Beginn des zweiten Lebens­jahres. Hätten wir diese Sinne nicht von Anfang an, könnten wir als Kinder weder sprechen noch denken lernen.

Eine ausführliche und detaillierte Darstellung zum Thema findet man im Internet unter:

www.forschung-waldorf.de/publikationen/detail/das-bochumer-modell-des-bewegten-klassenzimmers/

Zum Autor: Dr. Wolfgang-M. Auer war 30 Jahre Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum und federführend bei der Entwicklung des sogenannten Bochumer Modells. Heute ist er als Dozent an verschiedenen Orten im In- und Ausland tätig.