Die Pferdelauscherin

Mathias Maurer

»Der Grat zwischen Ausbildung und Therapie ist schmal«, sagt Martina Jennewein, eine 41-jährige resolute Frau aus dem kleinen Dorf Blies-Guersviller, nahe der saarländisch-französischen Grenze. Sie arbeitet als mobile Reitlehrerin, geht zu ihren Schülern, meistens Erwachsene, die schon reiten können und ein eigenes Pferd haben. Ihre Art zu arbeiten richtet sich auf den »reiferen Geist« aus. »Aber ich arbeite auch mit dem Kind im Erwachsenen, und es kommt vor, dass Blockaden aufbrechen, unbewusste Haltungen bewusst werden und der Schüler plötzlich weint«, erzählt Jennewein. Ihr Konzept hat zum Ziel, dass der Reiter zum Ausbilder seines eigenen Pferdes wird: »Das Pferd ist der Zugang und das Medium, um die Menschen zu lehren. Einzige Unterrichtsvoraussetzung ist die Bereitschaft des Schülers, für eine persönliche Entwicklung offen zu sein. Mein Ansatz ist, über die Bewegung des Pferdes die eigene Bewegung bewusst zu machen, denn wenn Du etwas bewegen willst, musst du bereit sein, Dich bewegen zu lassen«, erläutert sie.

Neben ihrer Berufung arbeitet Martina Jennewein als Medizinisch-Technische Assistentin in der traumatologischen Abteilung des Universitätsklinikums Homburg. Sie erforscht dort die Frage, warum bei der Wundheilung das Zellwachstum zum richtigen Zeitpunkt stoppt (Heilung) und bei Krebserkrankungen, bei denen ähnliche Zellwachstumprozesse stattfinden, nicht. Sie erzählt die Geschichte von einer ehemaligen, krebskranken Schülerin, die im Laufe der gemeinsamen Arbeit wieder vollkommen gesundete. Eines Tages signalisierte das Pferd, dass wieder alles beim Alten sei. Jennewein war klar: »Die Reiterin war in ihr vorheriges Lebensmuster zurückgefallen.« Wenige Monate später starb die Frau. Die Lehre, die sie Jennewein erteilte, war, dass Heilung unerwartete Wege nehmen kann und nicht immer Überleben bedeuten muss.

Wie ein Kentaur

Was macht Martina Jennewein anders? Für sie ist die Beziehung zum Pferd in erster Linie eine intim-emotionale. Pferd und Reiter bilden wie ein Kentaur eine Einheit. Durch die Arbeit am Pferd bekommt der Reiter wieder einen Zugang zu seinem seelischen und körperlichen Gleichgewicht. »Dieses Gleichgewicht ist nicht statisch, sondern dynamisch«, sagt sie. »Pferd und Reiter stehen nicht in einer Reaktions- oder Kontrollbeziehung, sondern in einer Freiheitsbeziehung, in der immer mehrere Optionen zur Wahl stehen.«

Auf dem Rücken des Pferdes fordert Martina Jennewein den Schüler auf zu fühlen, was im Moment in ihm lebt. »Was soll ich denn fühlen?«, ist dann eine häufige Gegenfrage, denn es ist schwer, jenseits von inneren Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, und jenseits von Urteilen, die die Gegenwartswahrnehmung trüben, in einen »Ist-Zustand« zu kommen. »Aber genau in diesem Ist-Zustand lebt das Pferd und kann den Menschen dabei unterstützen«, erläutert sie. »Das Spüren des Pferdes, das Mit-ihm-Fühlen, bringt den Menschen wieder in Kontakt mit seinem eigenen Fühlen. Es ist ein Problem unserer Zeit, dass Menschen ihre Gefühle zuerst denken und psychologisch rational analysieren wollen, anstatt erst einmal nur zu fühlen. Gefühle sind weder gut noch schlecht, sie dürfen kommen und gehen und mit ihnen vielleicht ein Trauma. Emotionale Erstarrungen können sich durch die bewusste Bewegung mit dem Pferd lösen, weil auch das Pferd weder gut noch schlecht ist.« Nein, sie sei in diesem Sinne keine Pferdeflüsterin, sondern eher eine Pferdelauscherin. »Lauschen, nicht die Sprache, ist das Erste, was ich brauche für einen Dialog mit dem Tier. Das Hinhören, das Wahrnehmen auch der leisen Töne, kommt für mich noch vor dem Sprechen und erst aus der Fähigkeit zu beidem entwickelt sich der Dialog«, sagt sie.

Das Yoga des Abendlandes

Die Gesundheit und Bedürfnisse eines Pferdes dürfen durch sportlichen Wettkampf oder Therapiearbeit nicht leiden. »Dabei darf das Pferd durchaus Arbeit verrichten – als Therapeut oder Sportsfreund – solange der Mensch das Pferd in seinem Tiersein anerkennt und es nicht Ersatz dafür ist, was im eigenen Leben fehlt. Eine gute Partnerschaft mit dem Tier ist immer eine eigenverantwortliche.« Und für den Reiter heißt das: »Das Pferd in seinen Bewegungen nicht zu stören und sich seinen Bewegungen hinzugeben. Das hat durchaus einen meditativen Aspekt. Nicht von ungefähr wird das Reiten als das Yoga des Abendlandes bezeichnet«, führt sie weiter aus. Heißt das, dass sie das Pferd machen lässt, was es will? »Nein, absolut nicht. Pferde sind Herdentiere und brauchen Führung. Doch führen kann nur der, der sich führen lassen kann. Das heißt, seelisch lasse ich mich auf Tier und Reiter voll ein, ohne aus dem inneren Gleichgewicht zu geraten – das bedeutet nichts anderes als Empathie. Reitkunst ist eine Beziehungs-, Bewegungs- und Führungskunst. Fühlen sich Pferd und Reiter in ihrer jeweiligen Potenzialität gesehen und erkannt, sind das Glücksmomente.«

Martina Jennewein arbeitet reflektiert und bewusst, ja detailverliebt. Sie weiß, dass talentierte Reiter oft die größten Schwierigkeiten haben, sich weiterzuentwickeln. Ihr Talent sei unter Umständen die größte Blockade: »Bei denen, die Schwierigkeiten haben, gelingt der Einstieg ins ›ReitenFühlenLernen‹ leichter, denn ihre Probleme spiegeln ihr Potenzial. Deshalb ist Lernen niemals nur eine Frage des Talents, sondern des Eigenengagements und der Hingabe.«

Martina Jennewein und ihre Schüler lernen durch das Pferd, dass die ganze Welt ein Spiegel ihres Menschseins ist.

Link: www.reitenfühlenlernen.de