Die Physiologie der Phantasie

Erziehungskunst | Herr Husemann, wie ist die Phantasie im menschlichen Leib verankert?

Armin Husemann | Beginnen wir mit der Aufmerksamkeit. Sie entsteht beim Kind, wenn es sich dafür interessiert, was der Lehrer tut. Interesse bedeutet, dass an dem, was ich denke oder wahrnehme, mein Gefühl beteiligt ist. In der Waldorfpädagogik geht man vom dreigliedrigen Menschen aus. Die Dreigliederung verortet nicht wie die Neurobiologie das Denken, Fühlen und Wollen im Gehirn, sondern die Vorstellungen und das Denken im Kopf, das Fühlen in den rhythmischen Prozessen und das Wollen im Gliedmaßensystem. Diese Dreigliederung kann man durch den Gedanken der Metamorphose der Bildekräfte erfassen: die Atmung setzt sich fort bis in das Gehirn, durch die Bewegung des Gehirnwassers. Im Gehirn lösen sich die ätherischen Kräfte, die mit dem Blut verbunden sind. Diese Kräfte  werden frei, da sie im Gehirnwasser keinerlei Angriffspunkt mehr haben.

Das Gehirnwasser ist eine Flüssigkeit, deren Bewegung im Gegensatz zur Blutbewegung von der Atmung abhängt. Wenn Sie ein Kind sehen, das über die Straße läuft, und Sie erschrecken, dann wird in dem Moment das Gehirnwasser kristallin, stoppt, fließt nicht mehr, und wenn Sie weiter atmen, fließt es wieder. Das heißt, die Atmung hat direkten Zugriff auf das Gehirnwasser. An der Stelle kann man zeigen, dass der Astralleib im luftigen Element wirkt und den Ätherleib in der Hand hat – und zwar im Gehirnwasser, nicht im Blut. Das wäre schlimm, wenn bei jedem Schreck die Durchblutung still stünde. Also, ein Teil des Ätherleibs löst sich im Gehirn, und dadurch wird das, was im Wachstum leibgebunden ist, seelisches Erleben.

EK | Nur dort?

AH | Nicht nur dort, das geschieht im gesamten Nerven­system. Im Gehirn wird es denkendes Bewusstsein. Im Atmen hat der Mensch die Bildekräfte des Blutes im Erleben der Seele zur freien Verfügung. Der Mensch wird schöpferisch, indem er im Atmen die freien Bildekräfte fühlend erlebt.

EK | In welcher Form kommen dem Menschen diese Kräfte zu Bewusstsein?

AH | Damit aus vorgestellten und gehörten Tönen ein emotionales, ein schöpferisches Erlebnis von z.B. Musik wird, muss ich mit diesen Tönen atmen. Das gilt genauso für das Malen. Ich werde erst dann schöpferisch im Umgang mit Farben, wenn ich mit ihnen atme. Wenn ich einatme, strömt Gehirnwasser im Sehnerv auf das Auge hin, wenn ich ausatme vom Auge weg. Dass ich emotional, sinnlich-sittlich Farben erlebe, dass Rot auf mich zukommt und Blau von mir weggeht, beruht darauf, dass ich mit den Farben atme. Ich kann auch ohne Atmung die Farbe anschauen, dann ist sie Vorstellung. Das braucht mich schöpferisch nicht zu tangieren, dann ist nur das Nerven-Sinnessystem tätig. Wenn ich Künstler bin, dann atme ich mit dem Sinnesprozess. Ich belebe ihn, er geht in meinen Willen und ich schaffe mit diesen freien Bildekräften etwas völlig Neues. Das ist der künstlerische Grundvorgang. Die Physiologie der Phantasie ist der Atmungsprozess, der über das Gehirnwasser die freien Lebenskräfte den Sinnen und dem Denken vermittelt.

EK | Es gibt doch auch die Intelligenz der Hände? Steckt in unseren Gliedern nicht auch Phantasie?

AH | Natürlich gibt es eine Intelligenz der Hände, die der sprachlichen und der gefühlten vorausgeht. Das zeigt jeder Lernvorgang. Tiere haben überhaupt nur handelnde Intelligenz. Ameisen oder Bienen können die unglaublichsten Sachen machen. Das ist Gliedmaßenintelligenz. Aber ich werde mit meinem Bewusstsein erst frei schöpferisch, wenn ich das über die Atmung bewusst handhabe.

EK | Worauf ist das Atmen des Lehrers gerichtet?

AH | Auf das Kind. Zum Beispiel erfasst er Tendenzen im Kind, wie sich etwas entwickeln wird, was im Keim veranlagt ist. Sei es etwas, was es verwandeln sollte oder etwas, was man hervorlocken will. Ein Künstler sieht ja in einer Sache mehr, als der Banause. Heinrich von Kleist, der auch als Redakteur arbeitete, war zuständig für die Meldungen, für die Rubrik »Vermischtes«, das war sein Broterwerb. Da gab es nun irgendeinen Mord, einen Selbstmord – die Nachricht brachte er. Aber die ging in ihm weiter und so wurde daraus die Novelle Die Verlobung in St. Domingo. Der Künstler atmet mit dem, was er erlebt. Es ist ein atmender Weltbezug. Und das ist etwas völlig Anderes, wie der intellektuell wache Denker, der aus Vorstellungen heraus arbeitet. Nach Steiner kann man zum Beispiel die Idee der Urpflanze nicht mit einem gehirngebundenen Denken denken, sondern nur mit dem gestaltenden Denken, dem imaginativen Denken, das physiologisch an das Flüssigkeitssystem im Gehirn gebunden ist.

EK | Kann man sagen, dass die Beweglichkeit des Wassers die Metamorphose in der Zeit überhaupt erst erfassen kann?

AH | Das ist genau richtig. Das ist der Punkt. Es ist das Erfassen der Zeit, des Werdenden, das nur in einem atmenden Denken erfasst werden kann, das ist der Schritt zur Imagination, die das Ätherische erfasst. Jeder Künstler arbeitet damit.

EK | Heute haben wir sehr viele phantasielose Kinder. Sie nehmen wahr, sie atmen, sie nehmen auf – warum tritt jetzt nicht die Phantasie ein? Sozusagen als Naturprodukt eines physiologischen Prozesses?

AH | Die Kinder üben von früh auf Passivität in den Bild- und Tonmedien. Am Wechsel der Bilder im Film ist nur der Kameramann und der Cutter aktiv, das Kind bleibt passiv, es bekommt den »gefrorenen Blick« wie Rainer Patzlaff das eindrucksvoll herausgearbeitet hat. Die technischen Medien trainieren die Entkoppelung von Sinneserfahrung und Willen. Damit entsteht die Leere des Fühlens, mit anderen Worten: Desinteresse.

EK | Technik verhindert also, dass das Denken ins Fühlen kommt? Führt Technik dazu, dass das Denken unmittelbar ins Handeln übergeht?

AH | Ja. Nehmen wir das Schreiben. Warum ist es in der Waldorfpädagogik üblich, dicke Wachsstifte zu nehmen? Neurobiologisch hat das den Vorteil, dass das Kind einen maximalen Kraft- und Willensaufwand beim Malen entwickeln muss. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Filzstift: Der Widerstand fehlt. Für die Einübung der Schreib- oder Malbewegung ist das von Bedeutung. Wir haben den Sehsinn, wir haben die Bewegung und dazwischen ist die Atmung. In den USA wird das Schreiben an Tabletcomputern gelernt. Aber was bedeutet ein Tastendruck gegenüber einem gemalten Buchstaben? Da liegen physiologisch Welten dazwischen. Das koppelt den Willen von der Bewegung ab. Das ist keine Technikschelte, sondern eine nüchterne pädagogische Frage: Ab wann schädigt oder verhindert eine Technik die kindliche Entwicklung?

EK | Was macht ein Lehrer konkret, der sich imaginativ vom Wesen eines Kindes ein Bild erarbeitet hat? Wie holt er dieses Bild in die Unterrichtswirklichkeit zurück?

AH | Das ist im Gegensatz zu den Künsten eine neue Ebene, weil ein geistiges Gegenüber, das Kind, anwesend ist. Nehmen wir an, der Lehrer hat eine Frage, ein Problem mit dem Kind. Der Lehrer macht einen Dreischritt: Er verschafft sich ein gesättigtes Bild vom Kind, vielleicht mit dem Schularzt oder den Eltern zusammen. Dann stellt er dieses Bild in Seelenruhe, in meditativer Stille, vor sein inneres Auge und nimmt dieses Bild mit in die Nacht. Dadurch kommt er mit dem geistigen Wesen des Kindes in Kontakt und macht sich gewissermaßen spirituell empfänglich für eine Idee, eine Eingebung, was jetzt zu tun ist. Das taucht dann am nächsten Tag im Unterricht als der richtige Einfall im richtigen Moment auf. Das ist die Schöpferkraft des Pädagogen. Das ist praktizierte moralische Phantasie.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.

Literatur: Armin Husemann, Der hörende Mensch und die Wirklichkeit der Musik, Stuttgart 2010